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Das Anthropozän – von einer neuen Zeit

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Die Veränderungen, die mit der industriellen Revolution einsetzten, sind derart manifest, dass die letzten 200 Jahre erdgeschichtlich heute als eigene Epoche, als „Anthropozän“ bezeichnet werden. Damit wurde die klassische Untergliederung des Quartärs in Pleistozän und Holozän um eine dritte erweitert.81 Ein wesentliches Charakteristikum dieser neu definierten Epoche ist die grundlegende Veränderung biogeochemischer Kreisläufe durch den Menschen. In vielen Bereichen dominieren inzwischen die menschlichen Eingriffe in natürliche Prozesse und Stoffumsetzungen. Das Schlüsseltreibhausgas Kohlendioxid hat durch menschliche Aktivitäten ein Level erreicht, wie es seit 600.000 Jahren natürlicherweise nicht vorgekommen ist. Konkret hat der Mensch den CO2-Gehalt der Atmosphäre von 280 ppm auf zurzeit 370 ppm angehoben. Die industrielle Stickstofffixierung übersteigt die natürlichen Umsetzungen ebenfalls. Hinzu tritt in jüngster Zeit die Nutzung und Veränderung des genetischen Potenzials und die Entschlüsselung des menschlichen Genoms.

Die historische Wurzel ist in der industriellen Revolution zu suchen: Mit ihr erfolgte die Ablösung von den alten, „bio“ angetriebenen Energiesystemen. An ihre Stelle traten die „unterirdischen Wälder“, die fossilen Energieträger und schließlich die Atomenergie mit all ihren Begleiterscheinungen. So besehen sind die energetische Wende und der energetische Umbau unserer Gesellschaft ein Rebound in die vorindustrielle Zeit. Mit der industriellen Revolution vollzog sich eine drastische Zunahme der Stoffentnahmen und Materialströme, die mit den neuen, rasch ausgebauten Verkehrswegen und den neuen Verkehrsmitteln und -trägern wie Schifffahrt, Eisenbahn, Binnenkanälen, Straßen, schließlich Pipelines, Luftverkehr und Internet immer weiter und in einem immer dichteren Netz mit zunehmender Beschleunigung umgesetzt werden konnten ■ 1.38.


1.38 Direkte Stoffentnahme 1900–2005 (links) und Entwicklung des globalen Frachtaufkommens 1850–1990 (rechts).82

Angetrieben wird diese zeitliche Spirale von einer enormen Bevölkerungszunahme von rund einer Milliarde um 1800 auf die heutigen 7 Milliarden Menschen. Der demographische Übergang mit Innovationen in Hygiene und Medizin sowie der verbesserten Ernährungssicherung brachte dabei für große Teile der Menschheit eine Verbesserung ihrer Lebenssituation mit sich. Noch heute profitieren wir in weiten Bereichen von dieser Entwicklung, was die Einsicht in Änderungen durchaus erschwert. Noch nie wurden Menschen in den Industriestaaten so gesund so alt wie in den letzten Jahrzehnten.

Doch zu welchem Preis? Die Energienutzung, die in Agrargesellschaften bei etwa 600 W pro Person lag, stieg in den hochindustrialisierten Gesellschaften auf 4750 W pro Person. Oder in einem anderen Zahlenbeispiel: Die ersten Hominiden hatten einen primären Energiebedarf von zirka 2000 Kilokalorien pro Tag, der unmittelbar aus der sie umgebenden Natur gedeckt wurde. Schon die Lebensumstände frühindustrieller Gesellschaften führten zum 40-fachen Energieverbrauch pro Person. Dieser hat sich in den postindustriellen Gesellschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts dann noch einmal verdoppelt. Er liegt mittlerweile ungefähr beim 100-Fachen dessen, was ein Mensch an Nahrungsmitteln benötigt! Das volle Ausmaß dieser Entwicklung offenbart sich, wenn man diese Werte mit der Bevölkerungszunahme in Bezug setzt. Der durchschnittliche Pro-Kopf-Energiebedarf ist um den Faktor 50 gestiegenen. Der globale Energiebedarf der Menschen liegt heute ungefähr eine Million Mal höher als vor 10.000 Jahren. Dabei haben 60 % dieses gewaltigen Anstiegs in den letzten 50 Jahren stattgefunden. Auch die Materialströme stiegen in den Industriegesellschaften auf jährlich 10 – 30 t pro Kopf.83

Vitousek et al. (1997) bilanzierten, dass etwa 45 % der verfügbaren Landflächen durch menschliche Nutzung transformiert sind, 50 % der Süßwasserressourcen genutzt werden und 20 % der aktuellen CO2-Konzentration der Atmosphäre eine direkte Auswirkung menschlicher Eingriffe sind, ebenso wie 60 % der terrestrischen Stickstofffixierung einen anthropogenen Ursprung haben. 68 % der marinen Fischressourcen sind ganz oder nahezu aufgebraucht oder zumindest übermäßig ausgebeutet, während 20 % aller Vogelarten bedingt durch menschliche Aktivitäten in den letzten 2000 Jahren ausgestorben sind. Hinzu kommt eine massive Umgestaltung der Erdoberfläche. Rund die Hälfte gilt mittlerweile als direkt verändert, transformiert. Rund ein Viertel der jedes Jahr global produzierten Biomasse und mehr als 40 % der erneuerbaren, zugänglichen Wasserressourcen werden direkt genutzt.84 Viele Regionen gelten als Water Stressed Areas, darunter Mitteleuropa, wo die Entnahmen die natürliche Neubildungsrate übersteigen. Insgesamt hat der Mensch durch sein raubbauartiges Verhalten die Grenzen der Belastbarkeit in vielen Bereichen erreicht oder gar überschritten. So kommt das Leitungsgremium des Millennium Ecosystem Assessment zu folgendem Schluss: „Menschliche Aktivität übt einen derartigen Druck auf die natürlichen Funktionen der Erde aus, dass die Fähigkeit der Ökosysteme unseres Planeten, künftige Generationen zu versorgen, nicht länger als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann.“85

Die Endlichkeit und Kritikalität der neuesten Entwicklung führen zu neuen Bewertungen und Begehrlichkeiten. Das Paradoxe an dem neuen Spiel ist, dass sowohl die Nachteile in vielen Bereichen bekannt sind, als auch einschlägige Zukunftskonzepte bestehen, aber trotzdem, oder vermutlich gerade deshalb, neue Verteilungskämpfe, beispielsweise um Rohstoffe oder Einflussnahme entbrannt sind.

Mit dem rezenten Anthropozän unmittelbar gekoppelt ist auch eine neue Ära der Verantwortung, denn technisch ist die Menschheit mittlerweile in der Lage, das Erdsystem so weit aus dem Gleichgewicht zu bringen, dass schwere Folgeschäden für Gesellschaften und Ökosysteme ausgelöst werden können. Die Megatrends einer dynamischen globalisierten Wirtschaft im Verbund mit der voraussichtlich noch bis Mitte des Jahrhunderts zunehmenden Bevölkerung befinden sich auf Kollisionskurs mit den planetaren Leitplanken. Derzeit wird die Fähigkeit des Erdsystems aufs Spiel gesetzt, der menschlichen Zivilisation weiterhin die stabile Lebensgrundlage zu bieten, die ihr Entstehen während der letzten 10.000 Jahre erst ermöglicht hat ■ 1.39.


1.39 Eine noch nie da gewesene Mobilität und niedrige Transportkosten für den Warentransport können als einer der Haupttreiber des Globalen Wandels angesehen werden. Eine der Folgen: 8-spuriger Dauerstau in Los Angeles, USA. Die inneren, freien Spuren sind ÖPNV und Carpooling vorbehalten.

Fazit: Der globale Wandel als historischer Pfad

Der historische Pfad offenbart eine zunehmende Vereinnahmung der Erde. Diese lässt sich in vier großen Schritten skizzieren. Die prähistorischen Eingriffe waren räumlich begrenzt und wirkten über Vegetationsdegradierung und Bodenerosion hin zu einer lokalen Landschaftsdegradierung. Trotz der einseitig gerichteten Abhängigkeit des Menschen von den natürlichen Ressourcen konnten diese negativen Folgen vergleichsweise einfach ausgeglichen werden: durch ein räumliches Ausweichen, als shifting cultivation oder Weiterziehen. Mit Beginn der frühen Neuzeit ab 1492 schritt die Vereinnahmung der Erde im Rahmen des Kolonialismus weiter voran. Die Verwestlichung der Welt war v.a. mit einer „Durchmischung“ von Tier- und Pflanzenarten verbunden, den heute als Neophyten und Neozoen bezeichneten „neuen“ Arten. Darüber hinaus ergab sich eine massive Veränderung der Werthaltungen im globalen Rahmen. Landschaftsdegradierende Aktivitäten wie Rodung für den Schiffbau etc. schritten weiter voran. Erschöpfungszustände konnten aber immer noch durch räumlichen Ausgriff kompensiert werden. Man zog weiter – und hatte dabei die ganze Welt im Blick. Man kann bereits von globalen Wechselwirkungen sprechen.

Die dritte große Ära begann mit der Industrialisierung. Stoffliche Änderungen und Emissionen wurden auf den Weg gebracht, die bis heute fortwirken. Der epochale Wandel von den regenerativen auf fossile Energieträger setzte ein, die Globalisierung schritt voran und mit ihr der Globale Wandel.

Über die große Beschleunigung, das 1950er-Jahre-Syndrom, kommen wir zu einem neuen Bild: Es dominiert die vereinnahmte Welt mit vielfachen Störungen und Erschöpfungszuständen, der Domestizierung von Stoffkreisläufen und dem finalen Ausgriff der Ressourcennutzung auf die als Last of the Wild apostrophierten letzten naturnahen Bereiche wie etwa in die derzeit eisfrei werdende Arktis.

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