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Klimawandel und regionale Vulnerabilität in Mitteleuropa

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Folgen wir in einem zweiten Gedankenspiel dem Klimawandel in Mitteleuropa, diesmal auf dem Pfad der letzten 1000 Jahre.60 Wie hat sich der Klimawandel regional ausgewirkt und welche Bezüge ergeben sich zum Hier und Heute? Inwieweit hat sich die Verwundbarkeit der Gesellschaft im Fall von klimatischen Desastern verändert?61

Im Gang der letzten 1000 Jahre haben sich in Mitteleuropa gleich mehrfach signifikante Klimaänderungen vollzogen. Neben den langfristigen Temperaturänderungen und dem daran gekoppelten Meeresspiegelanstieg traten immer wieder verheerende Einzelereignisse wie Sturmfluten, Stürme, Dürren oder Hochwasser auf. Diese klimatischen Stressoren wirkten sich zeitlich und räumlich in Abhängigkeit von der geoökologischen und sozio-ökonomischen Ausstattung und der daraus resultierenden Exposition und Sensitivität unterschiedlich aus62 ■ 1.33.


1.33 Konzept der klimatischen Gefahren und Stressoren auf Umwelt und Gesellschaft in Mitteleuropa.

Primäre Ziele der Lebensabsicherung waren und sind Ernährungssicherung und Gesundheit, auch wenn sich die Aushandlungsprozesse und technischen Möglichkeiten geändert haben.63 Die andauernde Kopplung von Klima und Gesundheit belegen die Dürren und Hitzewellen im Jahr 2003 mit geschätzten 70.000 Toten in Westeuropa und 2010 in Osteuropa mit rund 50.000 Toten ■ 1.34.


1.34 Das Klima der historischen Zeit erschließt sich v.a. über Schriftquellen. Hier ein sogenannter Einblattdruck zu einem Unwetter 1555.

Generell kann zunächst davon ausgegangen werden, dass durch die Kausalkette Verlängerung bzw. Verkürzung der Vegetationsperiode in Folge von Temperaturänderungen mittel- und langfristig Auswirkungen auf die Ertragslage und dadurch auf die Ernährungssicherung gegeben waren.64 Angemessene Reaktionen bestanden in Veränderungen der Anbausysteme, im Wechsel der Anbaufrüchte und vor allem in „räumlichen Variationen“ wie der Ausweitung der Anbauflächen bzw. deren Rücknahme oder Wüstung. Ungeachtet der großen Bedeutung der Bevölkerungsentwicklung lassen sich viele langfristige räumliche Folgen und Mechanismen in Zusammenhang mit klimatischen Änderungen aufzeigen. In der kurzfristigen Betrachtung der jährlichen Ertragsschwankungen wirken sich „Witterungsunbilden“ wie Unwetter, insbesondere Hagelschlag, Dürren, ein Zuviel an Nässe, extreme Kälte und Stürme negativ aus. Zur Abschätzung der Vulnerabilität können daher zunächst Ertragsreihen herangezogen werden. Missernten wirkten unmittelbar auf die Versorgungslage und konnten nur in begrenztem Umfang durch Lagerhaltung und Importe kompensiert werden. Eine Verschlechterung der Ernährungssituation führte außerdem zu gesundheitlicher Anfälligkeit und bei Häufung von schlechten Ernten zur Ausbreitung von Seuchen.

Die zunehmende Erwärmung im Mittelalter hingegen sorgte für eine Reihe positiver Impulse. Zu diesen zählte in Europa eine starke Bevölkerungszunahme mit einem Anstieg von 46 Millionen Menschen um 1050 auf etwa 73 Millionen um das Jahr 1300, die mit einer bis dahin nie gekannten agrarkulturellen Erschließung und Expansion einherging.69 Diese war u.a. auf die Erschließung der Mittelgebirge gerichtet und führte schließlich zu den geringsten je in Mitteleuropa bilanzierten Waldanteilen, verbunden mit starken Bodenverlagerungsprozessen70. Das Hochmittelalter war auch die große Zeit der Stadtgründungen, begleitet von zahlreichen Innovationen und technischen Leistungen, etwa auf dem Gebiet der Papierherstellung, der Intensivierung des Mühlenbaus, einer ausufernden Bautätigkeit und schließlich dem Aufkommen eines neuen Baustils, der Gotik.

Für die Mittelgebirgsstandorte ergaben sich aus der Temperaturzunahme neue Möglichkeiten der agrarwirtschaftlichen Inwertsetzung, die im Rahmen der Binnenkolonisation genutzt wurden. In den meisten Beckenregionen blieben die Negativwirkungen der in der Gesamtschau von 1000 Jahren letztlich moderaten Temperaturzunahme weitestgehend aus. Lediglich im Nordosten wirkte die Sommerdürre belastend.71 An den Küsten führte die Temperaturzunahme zu einem Anstieg des Meeresspiegels und in dessen Folge zu Änderungen der Küstenlinien. Auf den fortgesetzten Meeresspiegelanstieg reagierte der Mensch an der Nordseeküste zunächst mit Wurtenbauten. Im 11. Jahrhundert änderte man die Strategie und Deiche traten an deren Stelle. Der Deichbau setzte zunächst in Form von Ringdeichen ein, die in den folgenden Jahrhunderten miteinander verbunden wurden, bis um 1300 eine geschlossene Deichlinie, der „Goldene Ring“, erreicht wurde.73 Heute geht man davon aus, dass die Eindeichung zu höheren Sturmflutständen und damit zu folgeschwereren Deichbrüchen führte, die in der Bildung von großen Buchten wie dem Dollart, der Leybucht und dem Jadebusen endeten. Begünstigt wurden die verheerenden Einbrüche durch die Salztorfgewinnung und die Entwässerung, wodurch die ursprüngliche Landoberfläche zum Teil erheblich erniedrigt worden war.65, 66 Ohne es zu wissen und ohne die Folgen absehen zu können, erhöhte man dadurch das Risiko und die Vulnerabilität der Küstenbewohner weiter, was sich in der nachfolgenden Klimaänderung der Kleinen Eiszeit verheerend auswirkte ■ 1.3567, 1.3668.


1.35 Die Klimaentwicklung Mitteleuropas in den letzten 1000 Jahren kann in vier wesentlich verschiedene Phasen unterteilt werden: 1. Das mittelalterliche Wärmeoptimum bis 1300, gefolgt von 2. einer Phase des Übergangs, dann 3. die Abkühlung in der Kleinen Eiszeit 1380 bis 1850 und 4. der Anstieg der Temperaturen im modernen Treibhausklima. Jede einzelne dieser Temperaturvariationen hatte weitreichende Konsequenzen für Umwelt und Gesellschaften.67


1.36 Klimavulnerabilität in Deutschland um 2000. Rot = Regionen und Bereiche besonders hoher und komplexer Vulnerabilität, gelb = Regionen und Bereiche mäßiger und meist einfacher Vulnerabilität (Schutzmaßnahmen und -konzepte bereits vorhanden, aber noch nicht angepasst), grün = Regionen und Bereiche geringer Vulnerabilität (geringe Auswirkungen der Negativwirkungen oder Kompensation durch Positivwirkungen).68

Im Rahmen der Temperaturverschlechterung in der Kleinen Eiszeit änderten sich die Verhältnisse in einigen Regionen dramatisch. Besonders von der Verkürzung der Vegetationsperiode betroffen waren die Höhenstufen in den Alpen und die höheren Regionen in den Mittelgebirgen. Dies führte zu häufigeren Ertragsausfällen und einer Verschlechterung der Ernährungslage. Auswinterungsschäden traten häufig auf. Von der Temperaturdepression waren wichtige Handelsprodukte wie der Wein, aber auch die Getreidesorten betroffen. Dabei ging es nicht nur um gehäufte Ausfälle in Einzeljahren, sondern selbst die Anbaugrenzen veränderten sich und andere Ernährungsstrategien mussten eingeführt werden. Ein vielfach zitiertes Beispiel ist das Schrumpfen der Anbaugrenzen für den Weinbau oder die Aufgabe des Getreideanbaus in Schottland mit dem Übergang zur Weidewirtschaft.

Zahlreiche Autoren führen Hunger- und Pestepidemien auf die Verschlechterung der klimatischen Situation zurück.74 Ohne Zweifel waren Krankheit, Hunger und entsprechende Mortalitätskrisen Begleiter der Kältephasen. Selbst in den gegenüber der Temperaturdepression der Kleinen Eiszeit „robusten“ Regionen wie dem Oberrheingebiet und der Niederrheinischen Bucht lassen sich Teuerungen und Hungerkrisen auf witterungsklimatische Unbilden zurückführen.75 Kirchliche Erklärungsmuster brachten die Klimaverschlechterungen und deren Folgen mit menschlichem Fehlverhalten in Beziehung. Exzesse wie Hexenverfolgungen und Judenpogrome lassen sich ebenfalls mit den negativen Klimaveränderungen in Beziehung setzen.76

Neben den augenfälligen und viel zitierten Folgen wie den vorrückenden Gletschern im Alpenraum77 nahm auch die Zahl der Winterstürme erheblich zu. Dies hatte dramatische Folgen für die Küstenlandschaften. Von Behre (2005) werden die maximalen Einbrüche an der deutschen Nordseeküste um 1500 datiert. Bei schweren Sturmfluten wurde die Küstenlinie immer wieder verändert, es kam zum Einbruch von Großbuchten, Inseln wurden verlagert und in den spektakulären „Mandränken“ gingen ganze Landstriche verloren.78 Generell waren die nord- und nordostdeutschen Regionen von der steigenden Kälte und Feuchte, aber auch von der Zunahme der Stürme und des Hochwasserrisikos stark betroffen ■ 1.37.


1.37 In der Kleinen Eiszeit gab es deutlich mehr Eisgänge. Hier eine Abbildung vom Eisgang des Extremhochwassers 1784 in Bamberg, bei dem die Brücke zerstört wurde und einige Gaffer zu Tode kamen.67

Trotz aller Düsternis: Während der Kleinen Eiszeit entstanden die für heute wesentlichen Geistesströmungen und Erkenntnisse: Humanismus, Aufklärung, Empirismus und das mechanistische Weltbild. Damit wurde ab der zweiten Hälfte der Kleinen Eiszeit die mythologische und religiös bestimmte Welt zunehmend entmystifiziert, zugunsten einer neueren Wissenschaftsauffassung, in der die Vernunft bzw. die naturwissenschaftliche Grundlegung zum Maß der Dinge wurde. Mit der Verbreitung von meteorologischen Instrumentarien, ausgehend von Italien im 16. Jahrhundert, und den damit gewonnenen Befunden wurde auf klimatologischem Gebiet eine geeignete empirische Basis geschaffen.

In der Bewertung des aktuellen Treibhausklimas zeigen sich erneut regionale Verschiebungen, lassen sich regionale und branchenspezifische Gewinner und Verlierer identifizieren79: In Ostdeutschland ergibt sich eine hohe Vulnerabilität durch die geringe Wasserverfügbarkeit und die Gefahr von Dürren im Sommer. Besonders betroffen sind die Land- und Forstwirtschaft, aber auch die Schifffahrt. Hinzu kommt eine hohe Vulnerabilität gegenüber Hochwasser in den Einzugsgebieten von Elbe und Oder. In der Lausitz, wo mit besonders extremen Sommertemperaturen zu rechnen ist, muss von steigenden Gesundheitsrisiken aufgrund der Hitzebelastung ausgegangen werden. Auch in Südwestdeutschland, insbesondere im Oberrheingraben, stellen die hohen Temperaturen nicht zuletzt ein gesundheitliches Problem dar. Hier, wo schon aktuell die höchsten Temperaturen in Deutschland auftreten, wird in Zukunft mit der stärksten Erwärmung innerhalb Deutschlands gerechnet. Auch Land- und Forstwirtschaft sind derzeit gegenüber einer schnellen Erwärmung stark anfällig. Hinzu kommt eine steigende Hochwassergefahr im Frühjahr, ausgelöst durch eine Verschiebung der Niederschläge vom Sommer in den Winter sowie eine Zunahme von Starkregenereignissen.

Aufgrund ihrer hohen ökologischen Sensitivität sind die Alpen ein besonders vulnerabler Raum. Vor allem im Bereich Biodiversität sind die zahlreichen endemischen Tier- und Pflanzenarten sehr anfällig, da sich ihnen kaum Ausweichmöglichkeiten bieten. Auch ist in den Alpen aufgrund der geringen Retentionsflächen die Hochwassergefahr außerordentlich groß. Hinzu kommen wirtschaftliche Einbußen in den Wintersportregionen infolge des Rückgangs der Schneesicherheit. Dies trifft auch für die deutschen Mittelgebirge zu, die jedoch ansonsten als mäßig vulnerabel eingestuft werden. Eine Veränderung zu einem wärmeren Klima kann hier für manche Bereiche (z.B. Landwirtschaft) sogar eine Chance darstellen. Hoch ist die aktuelle Vulnerabilität im Bereich Hochwasser, speziell gegenüber lokalen Ereignissen, die von konvektiven Starkniederschlägen ausgelöst werden.

Wie die Mittelgebirge wird die Küstenregion aktuell nur als mäßig vulnerabel eingeschätzt. Zwar besteht hier eine hohe aktuelle Vulnerabilität aufgrund evtl. intensiverer Sturmflutgefahren. Zudem sind die unmittelbaren Küstenbereiche durch den steigenden Meeresspiegel bedroht. Allerdings sind hier die Anpassungsmaßnahmen bereits relativ weit vorangeschritten. In anderen Bereichen können die Küstengebiete eher vom Klimawandel profitieren. Das betrifft sowohl die Land- und Forstwirtschaft als auch den Tourismus, der von steigenden Sommertemperaturen und abnehmenden Sommerniederschlägen profitiert. Eine Folge dieser durch technische Maßnahmen gemilderten Vulnerabilität ist die Zunahme der Wertedichte in diesen Regionen, beispielsweise durch Waterfront Development in den Küstenstädten. In exponierten Lagen werden hier besonders teure und prestigeträchtige Bauten und Konzepte verwirklicht – etwa im neuen Hamburger Stadtteil „Hafen-City“.80

Die geringste aktuelle Vulnerabilität wird für Nordwestdeutschland gesehen. Hier dämpfen die ozeanischen Einflüsse die Auswirkungen des Klimawandels ab, sodass vermutlich mit den geringsten Einflüssen zu rechnen ist. Aufgrund des aktuell sehr gemäßigten Klimas weisen die meisten Bereiche einen relativ hohen Toleranzbereich auf. Auch hier werden die Bereiche Landwirtschaft und Tourismus, mit Einschränkungen auch die Forstwirtschaft, potenziell eher vom Klimawandel profitieren.

Neben diesen Regionen bzw. Naturräumen zeigen außerdem Feuchtgebiete und Ballungsräume eine hohe Vulnerabilität. In Feuchtgebieten sind vor allem die Bereiche Wasser und Biodiversität hoch vulnerabel, während in Ballungsräumen die Bereiche Gesundheit (Hitzebelastung) und Verkehr besonders betroffen sind. Es bleibt abzuwarten, welche weiteren unmittelbaren, aber auch mittel- und langfristigen gesellschaftlichen Handlungsstrategien im Umgang mit den oben genannten Veränderungen nötig werden.

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