Читать книгу Griechische Götter- und Heldensagen. Nach den Quellen neu erzählt - Reiner Tetzner - Страница 27

Als Säugling stiehlt Hermes Apollons Rinder

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Nicht lange genügte Hermes das Leierspiel. Da er auf andere Streiche sann, floh er im Schutze der Dämmerung aus der mütterlichen Grotte zu den Rinderherden der Götter in Thessalien. Fünfzig brüllende Rinder Apollons wählte er aus und trieb sie kreuz und quer bis an das nächtliche Ufer des Flusses Alpheios. Damit niemand die Spuren entdecke, flocht er aus Tamarisken, Myrten und Blätterwerk buschige Sandalen und verwischte damit rasch die Stapfen. Er schlachtete zwei Horntiere und opferte sie den Göttern über dem Feuer, verbrannte alles sorgsam, damit kein Beweis ihn verrate. Zwar erfand er das Feuer nicht, wohl aber die Technik, es aus Holz zu reiben. Die anderen Tiere wurden gefüttert und wohl verwahrt. Dann eilte er in der Morgendämmerung zurück in die heimatliche Höhle. Seiner Mutter entgingen diese Unverschämtheiten nicht, und sie hielt ihm vor, Apollon könne ihn binden und in die Unterwelt verdammen.

»Ha, davor ist mir nicht bange«, prahlte Hermes, »Letos Sohn mag mich nur aufspüren. Sollte er es tatsächlich wagen, sich mit mir zu messen, brech ich in Delphi seinen prächtigen Tempel auf und plündere Dreifüße, Becken, Gold und Gewänder, wie es mich gelüstet. Denn ich werde noch weit Größeres vollbringen!«

Nicht lange blieben Apollon der Diebstahl und der Täter verborgen. Zornig, die stattlichen Schultern in dunklen Wolken, stapfte er in die schattige Felsenkluft. Bei seinem Anblick stellte sich Hermes schlafend, zog Hände und Füße an sich und kroch unter die duftenden Linnen. Doch Phoibos ließ sich nicht täuschen und drohte mit furchtbaren Strafen, worauf Hermes blinzelnd erwiderte:

»Vortrefflicher Herrscher, sieh mich doch an! Erst gestern geboren, hab ich zarte Füße, und der Boden unten ist rauh. Mir liegt Schlaf am Herzen und die Milch meiner Mutter, habe Windeln um die Schultern und zittre nach wärmenden Bädern. Bedenke, wie spotteten die ewigen Götter über deine Anschuldigung, ein eben erst geborener Säugling hätte Kühe gestohlen!«

Zwar lächelte Apollon über so viel Dreistigkeit, aber er wollte die Rinder zurück. So packte er das Kind und trug es zum Olymp vor Zeus’ Richterstuhl, wo beide ihre Ansicht verteidigten. Hermes blinzelte unschuldig und zog die Windeln bis zu den Ohren. Laut lachte Zeus über den listigen Knaben und befahl Aussöhnung.

Hermes schenkte seinem Bruder die Leier; erst dadurch wurde Apollon zum Gott der Musik und der Musen. Der war darüber so entzückt, dass er nicht nur Hermes die Rinder überließ, sondern ihm auch als Zeichen der Heroldswürde einen Zauberstab schenkte, mit dem er alles in Schlaf zu versetzen und die toten Seelen in die Unterwelt zu führen vermochte.

Apollon, Hermes’ älterer Bruder, weiß als einziger Gott vom höchsten Ratschluss des Zeus durch Orakel; Wahrsagekunst ist Hermes verwehrt. Während der lediglich als Mittler und Bote tätig zu sein scheint, wirkt Apollon selbst für die Ordnung der Welt.

Hermes – sein Name kommt von ›Steinhaufen‹ – war ursprünglich wohl der Gott der Wege, der Wanderer und des Grenzgängers – auch zum Totenreich. Später gewann er mit Gewandtheit, List und Dreistigkeit Eigenschaften eines Tricksters, allerdings kaum boshaft wie beim germanischen Loki. Hermes gilt als der menschenfreundlichste der Götter, auch als Gott der Kaufleute und Betrüger. Er ist eng mit dem Gefolge des Dionysos verbunden: den Silenen und Satyrn – menschenähnlichen Wesen mit borstigem Fell, stets erigiertem Phallos und mit Pferde- oder Ziegenhinterbeinen. Die bekanntesten dieser Wesen waren Pan, Silenos und Marsyas.

Griechische Götter- und Heldensagen. Nach den Quellen neu erzählt

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