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aa) Information über Vorwurf/Akteneinsicht; Verteidigerkonsultation

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Dem Verteidiger ist spätestens in der Vorführungsverhandlung nach § 147 Abs. 2 S. 2 Akteneinsicht zu gewähren. Der Haftrichter kann über die Gewährung von Akteneinsicht nicht entscheiden, da allein der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens diese Kompetenz zusteht.[4] Ist noch kein Akteneinsichtsantrag gestellt worden, ist er im Vorführungstermin zu Protokoll zu geben mit der Bitte, der Haftrichter möge die Entscheidung der Staatsanwaltschaft herbeiführen, ob Akteneinsicht gewährt wird. Geschieht dies, ist die Vorführungsverhandlung zu unterbrechen, um Gelegenheit zur Akteneinsicht und zur Besprechung mit dem Mandanten zu geben. Dies darf allerdings nicht dazu führen, dass die Frist des § 128 zur Entscheidung über den Haftbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft nicht eingehalten wird.[5]

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§ 147 Abs. 2 S. 2 schreibt allerdings nach seinem Wortlaut die Pflicht zur Akteneinsicht nur „in der Regel“ vor. Wird Akteneinsicht verweigert, sind dem Verteidiger die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen zugänglich zu machen, § 147 Abs. 2 S. 2. Zulässige Ausnahmen zur Akteneinsicht sind freilich kaum denkbar. Mit einer bloß mündlichen Unterrichtung oder (schriftlichen) Zusammenfassung des Sachverhaltes durch den Haftrichter oder den Staatsanwalt sollte der Verteidiger sich deshalb in der Regel nicht zufrieden geben, sondern unter Hinweis auf Begründung des Regierungsentwurfs zu § 147 Abs. 2[6] und die Rechtsprechung des EGMR[7] hervorheben, dass eine bloß mündliche Unterrichtung für eine effektive Verteidigung nicht ausreichend ist, da Sachverhalte „lediglich nach dem Verständnis der Ermittlungsbehörden“ geschildert werden „und es den Betroffenen dann unmöglich ist, die Zuverlässigkeit dieser Schilderungen wirksam anzufechten“ (vgl. dazu auch Rn. 250). Der Verteidiger muss daher den Haftrichter anhalten, nochmals bei der Staatsanwaltschaft die Genehmigung zur Gewährung von Akteneinsicht mindestens in die haftrelevanten Aktenteile zu erlangen. Hält der Verteidiger die trotz allem nur mündlich erteilten Informationen für unvollständig, muss er ggf. nachfragen bzw. um Erläuterung bitten. Die Rechtsmittelmöglichkeit nach § 147 Abs. 5 S. 2 gegen die Versagung der Akteneinsicht dürfte schon aus Zeitgründen nicht in Betracht kommen.

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Der Haftrichter darf nur solche Aktenteile zur Grundlage seiner Entscheidung über den Haftbefehlsantrag der Staatsanwaltschaft machen, in die der Verteidiger entweder Akteneinsicht erhalten hat, nicht aber solche, die dem Verteidiger vorenthalten worden sind.[8] Dabei kommt es auch nicht darauf an, ob die Staatsanwaltschaft Akteneinsicht aktiv verweigert oder lediglich gehindert war, z.B. wegen anderweitiger Aktenversendung, die Akten rechtzeitig zu übersenden. In solchem Fall ist die StA vielmehr verpflichtet, auf eine frühere Aktenrücksendung hinzuwirken bzw. Doppelakten zu führen, welche dem Verteidiger zur Verfügung gestellt werden können.[9] Reicht der Akteninhalt, der dem Verteidiger zur Kenntnis gebracht wurde, zur Annahme des dringenden Tatverdachts oder von Haftgründen nicht aus, ist der Haftbefehlsantrag deshalb abzulehnen[10]

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Der Beschuldigte ist nach § 136 Abs. 1 ferner darauf hinzuweisen, dass es ihm freisteht, vor der Vernehmung einen Wahlverteidiger zu konsultieren und die Erhebung von Entlastungsbeweisen zu beantragen. Selbstverständlich ist er auch darüber zu belehren, dass es ihm freisteht, zur Sache auszusagen oder zu schweigen. Durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte des Beschuldigten im Strafverfahren vom 2.7.2013[11] ist nunmehr zudem geregelt, dass der Beschuldigte zu belehren ist, dass er unter den Voraussetzungen der §§ 140, 141 die Bestellung eines Pflichtverteidigers beanspruchen kann (§§ 136 Abs. 1 S. 3, 163a Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 2). Gleichwohl sind die Pflichten zur Belehrung über die Möglichkeit der Verteidigerkonsultation nach wie vor nur unvollkommen geregelt. In der Praxis erfolgen die Hinweise meist nur formelhaft. Gerade an diese Belehrung sind jedoch besondere Anforderungen zu stellen.[12]

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Die Vorführung vor den Richter und die drohende Inhaftierung stellen einen massiven Eingriff in die Freiheitssphäre des Beschuldigten dar. Ein Beschuldigter als juristischer Laie in der Ausnahmesituation der Inhaftierung ist kaum in der Lage, sich selbst angemessen und effektiv zu verteidigen. Er wird sich in der Regel beschränken müssen auf ein Bestreiten, ohne sich inhaltlich mit den Verdachtsmomenten auseinander setzen zu können. Oder aber er ergeht sich in hilflosen Angriffen gegen die belastenden Beweismittel, etwa gegen die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen. Hinsichtlich der Haftgründe, etwa Fluchtgefahr, wird er lediglich darauf hinweisen können, dass er nicht beabsichtige, sich dem Verfahren zu entziehen. Schon gar nicht wird er in der Lage sein, sich in rechtlicher Hinsicht mit dem Vorwurf auseinander zu setzen. In Anbetracht der gravierendsten Beschränkung der Freiheitsrechte des Beschuldigten in Form der Inhaftierung ist es mehr als banal, den Beschuldigten lediglich darüber zu belehren, dass er die Möglichkeit hat, einen Wahlverteidiger zu konsultieren und erst nach Erlass des Haftbefehls ab Beginn der Vollstreckung einen Pflichtverteidiger zu beanspruchen. Nach der Untersuchung von Jahn[13] zur Praxis der Verteidigerbestellung durch den Strafrichter halten 31% der Haftrichter und 80 % der Strafverteidiger die Einschaltung eines Verteidigers gerade im Stadium vor Erlass eines Haftbefehls für zwingend erforderlich oder für wünschenswert, um eine effektive Verteidigung gegen die drohende Inhaftierung zu gewährleisten. Gleichwohl sieht das Gesetz in diesen Fällen des schwersten Eingriffs in die Freiheitsrechte eines Beschuldigten nach herrschender, aber unzutreffender Meinung noch nicht einmal die Möglichkeit einer Pflichtverteidigerbestellung durch den Haftrichterund ebenso wenig ein Antragsrecht des Beschuldigten[14] vor, selbst wenn offensichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann oder nicht in der Lage ist, einen Wahlverteidiger zu beauftragen. Die Staatsanwaltschaft macht von der nur ihr zustehenden Möglichkeit, nach § 141 Abs. 3 einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu stellen, regelmäßig keinen Gebrauch.[15] Der Haftrichter hat keine gesetzlich normierte Möglichkeit der Pflichtverteidigerbestellung. § 140 Abs. 1 Nr. 4 gilt erst ab dem Zeitpunkt des Vollzuges der Untersuchungshaft. De lege lata gibt es also nach h.M. in diesem so entscheidenden Verfahrensstadium kein durchsetzbares Recht des Beschuldigten auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Immerhin sind einige Landgerichte dieser unzutreffenden Auffassung entgegengetreten.[16] Aus dem Gebot des fairen Verfahrens folgt, dass in Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, einen Beiordnungsantrag zu stellen, dem Beschuldigten ein entsprechendes, durchsetzbares Recht gegenüberstehen muss, wenn der Staatsanwalt untätig bleibt. Wenn die Voraussetzungen des § 140 vorliegen, kann dies daher nicht zur Disposition der Staatsanwaltschaft stehen, so dass dem Beschuldigten ein eigenes Antragsrecht zuzugestehen ist.[17]

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Leider hat der Gesetzgeber auch in § 140 Abs. 1 Nr. 4 einen Fall notwendiger Verteidigung erst mit Beginn des Vollzuges des Untersuchungshaft normiert. Zwar hat die Verteidigung mit Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlass des Haftbefehls nach § 147 Abs. 2 S. 2 in der Regel ein Akteneinsichtsrecht. Die naheliegende Konsequenz, ab diesem Zeitpunkt auch die Pflichtverteidigung einzuführen, hat der Gesetzgeber allerdings nicht gezogen.[18] Der Wertungswiderspruch zwischen den Rechten des vorläufig Festgenommenen und des sog. qualifiziert Verletzten bleibt bestehen. Nach § 406g Abs. 3 i.V.m. § 397a hat der Nebenklageberechtigte einen Anspruch auf Beiordnung eines „Opferanwalts“ bereits im Ermittlungsverfahren und damit ab der ersten Minute des Verfahrens. In Fällen der Katalogtaten des § 397a Abs. 1 ist die Beiordnung auf Antrag obligatorisch. Gegen die ablehnende Entscheidung ist das Rechtsmittel der Beschwerde eröffnet. Auch nur annähernd gleiche Rechte hat der vorläufig festgenommene Beschuldigte nicht, obwohl im Falle eines Haftbefehlsantrags der Staatsanwaltschaft der Freiheitsverlust zu befürchten steht. Der vorläufig Festgenommene ist darauf angewiesen, dass die Staatsanwaltschaft einen Beiordnungsantrag nach § 141 Abs. 3 stellt, was wohl die absolute Ausnahme ist.

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Bei der Belehrung über das Recht zur Verteidigerkonsultation hat der Haftrichter auch auf den anwaltlichen Notdienst in Strafsachen hinzuweisen.[19] In der Bundesrepublik gibt es fast flächendeckend Notdienste in Strafsachen, die außerhalb der normalen Bürozeiten und an Wochenenden sowie an Feiertagen zu erreichen sind (siehe etwa die bundesweite Übersicht im Internet unter www.ag-strafrecht.de, Notdienst). Hier stehen erfahrene Strafverteidiger zur Verfügung, deren Aufgabe es ist, nicht nur den Beschuldigten zu beraten, wenn dieser es wünscht, sondern auch die notwendigen Schritte zur Verhinderung der Inhaftierung zu unternehmen. Der Hinweis auf den Notdienst in der Belehrung ist deswegen insbes. in den Fällen erforderlich, in denen die Vorführung nach Ende der normalen Bürozeit oder an einem Wochenende stattfindet. Nur dadurch kann eine Fehleinschätzung des Beschuldigten korrigiert werden, zu diesen Zeiten sei ohnehin kein Anwalt zu erreichen. Die Rechtsprechung nimmt eine Pflicht zum Hinweis auf den Anwaltsnotdienst allerdings nur dann an, wenn der Beschuldigte eine Verteidigerkonsultation wünscht oder offensichtlich ist, dass der Beschuldigte zwar einen Verteidiger hinzuziehen möchte, sich dazu wirtschaftlich aber nicht in der Lage sieht..[20] Das Unterlassen eines Hinweises auf den Anwaltsnotdienst zieht nach der Rechtsprechung des BGH allerdings kein Verwertungsverbot nach sich.[21]

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Der Standpunkt der Rechtsprechung wird der besonderen Situation des Festgenommenen nicht gerecht.[22] Ob sich ein Beschuldigter dahingehend äußert, zwar einen Verteidiger konsultieren zu wollen, aber das Geld dazu nicht zu haben mit der Folge der Erforderlichkeit des Hinweises oder aber nur eine entsprechende Überlegung anstellt mit der Konsequenz, dass ein Hinweis unterbleiben kann, hängt vom Zufall und dem „Mitteilungsbedürfnis“ des Beschuldigten ab. Gleiches gilt, wenn der Beschuldigte davon ausgeht, angesichts einer Vorführung außerhalb üblicher Bürozeiten ohnehin keinen Verteidiger erreichen zu können. Um derartige Zufallsentscheidungen auszuschließen und auch dem durch die Festnahme verunsicherten und in einer Ausnahmesituation befindlichen schweigsamen Beschuldigten eine zutreffende Entscheidungsgrundlage für die Hinzuziehung eines Verteidigers zu geben, ist der Hinweis grundsätzlich erforderlich. Die fehlende Information über den Anwaltsnotdienst steht dem Unterlassen des Hinweises auf das Recht zur Verteidigerkonsultation gleich. Denn der rechtsunkundige Beschuldigte wird über die tatsächlich bestehenden Möglichkeiten der Verteidigerkonsultation im Unklaren gelassen, so dass er gar keine zutreffende und vollständige Grundlage für die Entscheidung hat, einen Verteidiger hinzuzuziehen oder nicht. Es grenzt an bloßen Formalismus, allein den allgemeinen Hinweis auf das Recht zur Verteidigerkonsultation genügen zu lassen, wenn – wie in den meisten Fällen – mindestens unklar ist, ob der Beschuldigte über die notwendigen Informationen verfügt, sich frei für oder gegen die Verteidigerkonsultation entscheiden zu können. Aus diesen Gründen ist entgegen der Rechtsprechung auch ein Verwertungsverbot für die Fälle des unterbliebenen Hinweises auf den Anwaltsnotdienst und/oder die Möglichkeit der Pflichtverteidigerbestellung anzunehmen.[23]

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