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ll) Kritik an der Vorschrift
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Auf die umfangreiche und elementare Kritik an den Regelungen der Hauptverhandlungshaft kann hier nur zusammenfassend und punktuell eingegangen werden.[88]
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Gesetzgeberisches Motiv für die Einführung der Vorschrift waren in erster Linie folgende Aspekte: Zum einen spielten präventive Gründe der Straftatenbekämpfung eine Rolle, nämlich das Schaffen des Bewusstseins in der Bevölkerung und in potenziellen Täterkreisen, dass die Strafe der Tat unmittelbar auf dem Fuß folge. Zum anderen soll das Institut der Hauptverhandlungshaft Staatsanwaltschaften und Amtsgerichte zu einer möglichst zügigen Anberaumung der Hauptverhandlung und zum vermehrten Einsatz des beschleunigten Verfahrens motivieren.[89] Bereits unter diesen Gesichtspunkten begegnet die Vorschrift verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Haft hat allein das Ziel der Verfahrenssicherung bzw. der Durchführung der Hauptverhandlung. Als schärfstes Mittel des Staates darf die Haft aber ausschließlich zu diesen Zwecken eingesetzt werden, nicht jedoch auf Gründen der Generalprävention bzw. als Instrument repressiver Kriminalpolitik. Die Untersuchungs- und auch die Hauptverhandlungshaft sind ultima ratio und dürfen nur angeordnet werden, „wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und auf rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch die vorläufige Inhaftierung eines Verdächtigen“[90]. Generalpräventive Zwecke rechtfertigen die Inhaftierung nicht.
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Dies gilt erst recht für den mit der Einführung der Hauptverhandlungshaft verfolgten Zweck, eine vermehrte Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu erreichen. Es ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht hinzunehmen, mit Hilfe der erleichterten Inhaftierung Einfluss auf die Arbeitsweise von Staatsanwaltschaft und Gericht zu nehmen.[91]
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Der Beschuldigte wird zum bloßen Objekt staatlicher Interessen degradiert, wenn das Verfahren und seine Inhaftierung der Abschreckung anderer und der Einflussnahme auf die staatsanwaltliche und gerichtliche Praxis dienen.[92]
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Rechtstatsächlich ist die Notwendigkeit der Regelung auch im Hinblick auf sog. „reisende Täter“ widerlegt. Das Gesetz hat seinen Zweck verfehlt, zu einer vermehrten Anwendung des Beschleunigten Verfahrens beizutragen.[93] Hat aber eine Regelung ihr Ziel verfehlt und ist sie daher nicht erforderlich, so ist sie unter dem auch vom Gesetzgeber zu beachtenden Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit nicht verfassungsgemäß.[94]
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Auch sind die neuen Haftgründe, nämlich die „Befürchtung“ des Fernbleibens von der Hauptverhandlung und die „Wahrscheinlichkeit“ der Hauptverhandlung binnen einer Woche völlig beliebig interpretierbar und eröffnen einer weiten, kaum kontrollierbaren Anwendung der Vorschrift Tür und Tor. Dies kann als „Ausstieg aus rechtsstaatlich garantierten Strafverfahren“ bezeichnet werden.[95]
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Diese unpräzisen Haftvoraussetzungen stellen zudem ein neues gefährliches Einfallstor für apokryphe Haftgründe dar[96] (vgl. dazu Rn. 680 ff.). Es steht zu befürchten, dass – etwa bei angekündigten Großveranstaltungen mit zu erwartenden Straftaten – nach personeller und organisatorischer Vorbereitung unter großzügiger Anwendung der Hauptverhandlungshaft „Exempel statuiert werden“, wenn es tatsächlich zur Begehung von Straftaten kommt.
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Auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit begegnet die Vorschrift durchgreifenden Bedenken. Der Anwendungsbereich des beschleunigten Verfahrens liegt im Bereich der einfachen und mittleren, zumeist massenhaft auftretenden Kriminalität, insbes. der Eigentumskriminalität. Diese Delikte werden überwiegend mit einer Geldstrafe geahndet. Werden (in Ausnahmefällen) Freiheitsstrafen verhängt, so werden diese in der Regel zur Bewährung ausgesetzt. Die Verhängung einer unbedingten Freiheitsstrafe wäre die absolute Ausnahme.[97] Da die Hauptverhandlungshaft gerade auf diese Zielgruppe (Bagatellkriminalität) angewendet werden soll, nach den bisherigen Erkenntnissen jedoch nur in Ausnahmefällen Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt wurden, ist durch die Anordnung der Hauptverhandlungshaft ein rechtsstaatswidriger „Vorwegvollzug“ von Geld- oder Bewährungsstrafen zu befürchten.[98] Die Anordnung der Haft bedeutet die Exekution einer Strafe ohne Hauptverhandlung und Urteil.
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Auf die Aushöhlung und Umgehung des Rechts des Beschuldigten auf Verteidigerbeistand wurde bereits oben Rn. 203 ff. hingewiesen. Der Druck auf den inhaftierten Beschuldigten, auf Verteidigerbeistand im Hinblick auf die schnelle Durchführung der Hauptverhandlung und die damit möglicherweise einhergehende Freilassung ist mit den Grundsätzen des fairen Verfahrens nicht vereinbar.
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Insgesamt muss daher die Regelung als verfassungswidrig angesehen werden. Es ist an der Zeit, die Vorschriften über die Hauptverhandlungshaft einer Prüfung durch das BVerfG zu unterziehen. Auch werden Stimmen laut, die eine Abschaffung der Hauptverhandlungshaft fordern.[99] „Eine seriöse Rechtspolitik darf nicht allein auf eine Korrektur der durch strafrechtliche Symbolik verursachten Fehlern und Gefahren durch die Gerichte und einen verantwortungsbewussten Umgang durch die Strafverfolgungsbehörden vertrauen“.[100] Eine rechtsstaatlich äußerst bedenkliche Vorschrift, die ihren Zweck verfehlt hat und praktisch ohne Relevanz ist, ist abzuschaffen.