Читать книгу Untersuchungshaft - Reinhold Schlothauer - Страница 92
kk) Pflichtverteidigung
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Obwohl die Hauptverhandlungshaft der Sache nach Untersuchungshaft ist,[84] hat der Gesetzgeber davon abgesehen, auch im Falle des Vollzuges der Hauptverhandlungshaft einen Fall notwendiger Verteidigung anzunehmen. § 140 Abs. 1 Nr. 4 enthält keinen Hinweis auf § 127b. Dies ist kritikwürdig, da abgesehen von der Einordnung der Hauptverhandlungshaft als Untersuchungshaft wegen der Besonderheiten dieser Haftart und der erschwerten und eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten des Festgenommenen die obligatorische Beiordnung eines Pflichtverteidigers angemessen gewesen wäre. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist daher nur nach den bisher geltenden Vorschriften möglich.
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Zunächst gilt § 418 Abs. 4, wonach dem Beschuldigten im beschleunigten Verfahren ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn eine (Gesamt-) Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten mit oder ohne Strafaussetzung zur Bewährung zu erwarten ist.
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Hat der Beschuldigte noch keinen Verteidiger, hat die Staatsanwaltschaft, sofern sie eine Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten erstrebt, mit dem Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren einen Antrag auf Verteidigerbeiordnung zu stellen.[85]
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Der Richter hat dem Antrag der Staatsanwaltschaft selbst dann zu entsprechen, wenn aus seiner Sicht keine Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten in Betracht kommt.[86] Denn aus dem Umstand, dass die Staatsanwaltschaft eine höhere Strafvorstellung hat und diese in der Hauptverhandlung versuchen wird durchzusetzen, ergibt sich die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage. Der Beschuldigte, der weder die Vorstellungen der Staatsanwaltschaft noch des erkennenden Richters kennt und mangels Akteneinsicht auch nicht von der Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung erfährt, kann sich in der Hauptverhandlung gegen den zu erwartenden Strafantrag der Staatsanwaltschaft, der die Beiordnung erforderlich machen würde, nicht sachgerecht verteidigen.
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Stellt sich erst in der Hauptverhandlung heraus, dass im Hinblick auf § 418 Abs. 3 ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt, so ist die Hauptverhandlung mindestens zu unterbrechen und dem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen. Unabhängig von der formalen Geltung der vorherigen Anhörungspflicht nach § 142 Abs. 1 S. 2 ist der Angeklagte schon deswegen zur Verteidigerwahl anzuhören, da er in der Hauptverhandlung anwesend ist und so die Möglichkeit hat, einen Verteidiger zu benennen. Eine Verfahrensverzögerung durch die Anhörung tritt nicht ein. Die Unterbrechung bzw. Aussetzung der Hauptverhandlung könnte dazu führen, dass die Durchführung der Hauptverhandlung innerhalb der Wochenfrist nicht mehr möglich ist. Der beigeordnete Verteidiger wird nämlich geltend machen, erst Akteneinsicht nehmen und mit dem Beschuldigten sprechen zu müssen. Da die bisherige Hauptverhandlung ohne die notwendige Anwesenheit des Verteidigers stattgefunden hat, wäre dieser Teil der Hauptverhandlung vollständig zu wiederholen. Deshalb wird eine Unterbrechung der Hauptverhandlung und ihre Fortsetzung mit dem Verteidiger wohl ausscheiden. Die bloße Unterrichtung über den bisherigen Verfahrensgang und -stoff könnte den vorschriftswidrigen Mangel der Teilnahme eines Verteidigers nicht heilen. Die Aussetzung und der Neubeginn der Hauptverhandlung sollten daher die Regel sein.
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In derart zugespitzten Situationen könnte es leicht dazu kommen, dass das Gericht bestrebt ist, eine „Flurbeiordnung“ vorzunehmen, also irgendeinen Rechtsanwalt beizuordnen, der gerade „greifbar“ ist. So verlockend „der schnelle Euro“ der Pflichtverteidigergebühr für eine kurze Verhandlung für manchen Rechtsanwalt auch sein mag, so sollte jedoch jeder gewissenhafte Verteidiger ein solches Ansinnen ablehnen, zumindest aber einen Antrag auf Unterbrechung der Hauptverhandlung stellen, um die Akten einzusehen und mit dem Mandanten ausführlich die Angelegenheit zu besprechen. Erst dann kann er beurteilen, ob die ihm zur Verfügung gestellte Zeit zur gewissenhaften Vorbereitung der Verteidigung ausreichend war. Denn schließlich steht nicht eine Verfahrenseinstellung im Raum, sondern, wie die Verteidigerbeiordnung zeigt, die Verhängung einer Freiheitsstrafe. Erst nach Aktenstudium und gründlicher Erörterung mit dem Mandanten wird der Verteidiger beurteilen können, ob er zur gewissenhaften Führung der Verteidigung mehr oder weniger aus dem Stand in der Lage ist. Allerdings besteht auch hier die Gefahr, dass für den Fall, dass der Verteidiger die Unterbrechung der Hauptverhandlung beantragt und ein Ende der Hauptverhandlung innerhalb der Wochenfrist nicht in Sicht ist, das Gericht den Hauptverhandlungshaftbefehl in einen normalen Haftbefehl umwandelt. Denn § 127b enthält keine dem § 112a Abs. 2 entsprechende Subsidiaritätsklausel.
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Ungeachtet der Beiordnungsvoraussetzungen nach § 418 Abs. 3 ist im Falle der drohenden oder angeordneten Hauptverhandlungshaft immer von einem Fall notwendiger Verteidigung auszugehen.
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Dies gilt schon deshalb, weil der Beschuldigte schon nicht in der Lage ist, sich sachgerecht gegen die Haftanordnung zu verteidigen. Denn anders als bei dringendem Tatverdacht und Haftgründen wie Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, gegen die sich der Beschuldigte durch eigene Angaben verteidigen kann, kann er weder zur Frage der Geeignetheit der Sache für das beschleunigte Verfahren, geschweige denn zur Wahrscheinlichkeit der Erledigung binnen Wochenfrist Stellung nehmen. Bei diesen Haftvoraussetzungen handelt es sich um Fragen, die sich dem Kenntnis- und Einflussbereich des Beschuldigten völlig entziehen. Dazu wird nur ein mit den Gegebenheiten vertrauter Verteidiger Stellung nehmen können. Wird dem Beschuldigten kein Verteidiger beigeordnet, wird er hinsichtlich der Haftfrage quasi verteidigungslos gestellt.
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Da die Hauptverhandlungshaft im Hinblick auf die Strafobergrenze nur Fälle der Bagatell- und Kleinkriminalität erfasst, stellt sich auch die Frage der Verhältnismäßigkeit in besonderer Schärfe. Da die Beurteilung dieser Frage eine Prognose der Straferwartung erforderlich macht, die auch einen Vergleich mit ähnlich gelagerten Fällen einschließt, ist eine Selbstverteidigung des Beschuldigten auch im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Haft nicht möglich. Schließlich sind unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten auch alternative Verfahrenserledigungsmöglichkeiten etwa durch Strafbefehl (vgl. dazu nur Rn. 186 ff.), zu prüfen. Auch dazu wird der Beschuldigte nicht in der Lage sein.
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Und schließlich ist zu bedenken, dass gerade der Beschuldigte, der in Haft genommen wird, sehr leicht zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht werden kann. Da sich der Beschuldigte in Haft befindet, ist eine Ladung zur Hauptverhandlung entbehrlich, § 418 Abs. 2.[87] Zwar ist dem Beschuldigten aufgrund der Befristung des Haftbefehls bekannt, dass vor Fristablauf die Hauptverhandlung durchgeführt werden muss. Da er jedoch nicht geladen werden muss, kann er quasi ohne Vorankündigung morgens dem Gericht vorgeführt werden. Dies hat zur Folge, dass der Beschuldigte quasi stündlich mit der Hauptverhandlung rechnen muss. Ob er angesichts dieser Situation in der Lage ist, seine Verteidigung in Ruhe vorzubereiten, muss bezweifelt werden.
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Der Grundsatz des fair trial erfordert es daher insgesamt, in einer Verfahrensart mit abgesenkten Haftvoraussetzungen und einem Schnellverfahren, dem Beschuldigten einen Verteidiger beizuordnen, damit dieser nicht „überfahren“ wird.