Читать книгу Verteidigung im Revisionsverfahren - Reinhold Schlothauer - Страница 127
a) Rügevoraussetzungen
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Eine Änderung der Geschäftsverteilung durch das Präsidium des Gerichts ist während des Geschäftsjahres nur zulässig, wenn sie aus den in § 21e Abs. 3 GVG bezeichneten Gründen „nötig“ ist oder wenn dem Gericht neue Geschäfte zugewiesen werden.[106] Diese Entscheidung unterliegt nicht mehr lediglich einer Vertretbarkeits- oder Willkürkontrolle; sie ist vielmehr einer vollständigen revisionsgerichtlichen Überprüfung unterworfen, insbesondere auch daraufhin, ob eine Überlastung vorgelegen hat und die vom Präsidium getroffenen Maßnahmen erforderlich waren.[107] Danach reicht bspw. der bloße Verweis auf die Verzögerung des Hauptverhandlungsbeginns um vier Monate in einer Haftsache auch dann nicht für eine Änderung der Geschäftsverteilung, wenn die zunächst zuständige Kammer weitere bei ihr anhängige Haftsachen zeitnah zu verhandeln hat.[108] Die Gründe, die eine Änderung der Geschäftsverteilung erfordern, sind umfassend und nachvollziehbar zu dokumentieren.[109] Dabei muss der Änderungsgrund im Beschluss des Präsidiums oder einem Protokoll der entspr. Präsidiumssitzung festgehalten werden.[110] Begründungsmängel und eine fehlende Dokumentation können bis zum Zeitpunkt des Beschlusses, mit dem gem. § 222b Abs. 2 StPO über den Besetzungseinwand entschieden wird, korrigiert werden.[111] Die in dem Zurückweisungsbeschluss nach § 222b Abs. 2 StPO angeführten Gründe für die Änderung der Geschäftsverteilung vermögen eine (nachträgliche) Begründung durch das Präsidium nicht zu ersetzen.[112] Die Dokumentation verfehlt ihren Zweck, die revisionsrechtliche Überprüfung im Hinblick auf die Anforderungen an das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) zu erfüllen, wenn die Notwendigkeit der unterjährigen Änderung des Geschäftsverteilungsplans lediglich auf Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten gestützt wird.[113]
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Die Änderung der Geschäftsverteilung muss die Zuständigkeiten der jeweiligen Spruchkörper im Voraus generell-abstrakt regeln, damit die einzelne Sache „blindlings“ aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt und so der Verdacht einer Manipulation der rechtsprechenden Gewalt ausgeschlossen wird.[114] Dabei darf das Recht des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden.[115] Danach steht Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG einer Änderung des zuständigen Spruchkörpers auch für bereits anhängige Verfahren jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Neureglung generell gilt, also etwa außer mehreren anhängigen Verfahren auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfasst und dies nicht aus sachwidrigen Gründen, sondern deshalb geeignet und erforderlich ist, um die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen.[116] Bei der Übertragung der Verfahren an einen anderen Spruchkörper darf es sich aber nicht um eine unzulässige Einzelzuweisung handeln.[117] Auch insofern bedarf es einer umfassenden Dokumentation und Darlegung der Gründe, die eine derartige Umverteilung der Geschäfte erfordern und rechtfertigen, um den Anschein einer willkürlichen Zuständigkeitsverschiebung auszuschließen.[118] Ob nach diesen Maßstäben Fälle denkbar sind, in denen die spezielle Zuweisung eines einzigen Verfahrens vor Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG Bestand haben kann, erscheint fraglich.
Unzulässig ist eine „Stichtagslösung“, wonach erst die ab einem bestimmten künftigen Stichtag eingehenden erstinstanzlichen Strafverfahren auf einen anderen Spruchkörper übertragen werden.[119] Ebenfalls kein rechtlich tragfähiges Konzept zur Verteilung der anfallenden Geschäfte stellt eine Regelung dar, nach der in die Zuständigkeit eines Spruchkörpers fallende Verfahren im Wege der „scheibchenweisen“ Einzelzuweisung im laufenden Geschäftsjahr je nach konkreter, momentaner Belastungssituation einem anderen Spruchkörper zuzuweisen sind.[120]