Читать книгу HIERONYMUS - Reto Andrea Savoldelli - Страница 10

Das Sechste

Оглавление

«Inge, pass auf, wo du hintrittst!» - Jens ärgert sich, weil er seine lange, freibewegte Kameraeinstellung abbrechen muss. Inge ist ihm unverhofft mit ihrem VideoCamcorder, den sie auf einem Traggestell wie einen Bauchladen vor sich her trägt, frontal vor die Linse geraten. Gerade als er durch eine Drehtüre einer der unterirdischen Fussgängerschächte, die aus der U-Bahn ins Sony-Center hinaufführen, heraus gewirbelt kam. Er liebt es, nach einem gefilmten Durchmarsch durch einen dieser durchsichtigen Zylinder mit laufender Kamera noch ein oder zwei Pirouetten anzuschliessen. Der Zuschauer soll mit der bewegten Kamera mitgleiten, schweben, körperlos mittanzen.


So hat es sein dänischer Lehrer für Kamera in der dffb formuliert. Er hat den Absolventen der Regieklasse, zu denen Jens gehört, empfohlen, selbst einige Versuche zu unternehmen und nicht alles den Kameraleuten zu überlassen. Obwohl er selbst, Jesper Knupstribsen, nach der Fertigstellung eines Lars von Trier-Filmes gerade in diesem Punkt noch immer mit der dänischen Filmberühmtheit haderte. Als versierter Kameramann hatte er zwar auf der Gehaltliste der Filmproduktion gestanden, kam aber selten genug zum Einsatz, weil der Regisseur die wichtigsten Einstellungen, und das waren seiner Meinung nach so ziemlich alle, selbst drehen wollte. Immer hautnah an den Schauspielern und an den Schauspielerinnen noch näher dran. Auch mal zwischen, unter und über ihnen.

Jetzt doziert Knupstribsen, unglücklicherweise in einem Kurs, der Schüler aus der Regie- und der Kameraklasse vereinigt, dass die Schlüsselqualifikation für alle in der Filmbranche Tätigen die Fähigkeit visueller Phantasie und deren äusserliche Dramatisierung und Fixierung sei. Die klassischen Sparten wären in Auflösung begriffen, und für die Low-Budgetfilme, womit die meisten Absolventen der dffb in Zukunft zu tun haben würden, gelte dies in verstärktem Masse. Ein kreativer Regisseur könne den Kameramann in die subalterne Funktion des Schärfenziehers oder, wenn der Regisseur etwa auf Vollautomatik stehe, sogar in die Tonangelei treiben. Dagegen helfe nur, mit der schnellen Kamera besser als jeder Regisseur umgehen zu lernen. Den scharfen Wettbewerb hatte er bei dänischen Dogmaprojekten gelernt. Nur wer als der Beste gilt, bekommt die Kamera in die Hand.

Darauf haben sich Inge Stoll aus der Kameraklasse und Jens Brockmann aus der Regieklasse die letzten beiden Handycams der Schule mitsamt Tragekorsett ausgeliehen und sind im Gewühl des Sony-Komplexes auf Bildpirsch gegangen.


Inge hat in einem der Untergeschosse zuerst am architektonischen Modell des Sony-Hauses herumgefilmt und dabei Zoom-fahrten auf Details der Modellanlage mit fliegenden Kamerabewegungen verbunden. Danach ist sie vom Modell ins reale Sonygebäude aufgestiegen, um dieselben Ansichten im Echtraum einzufangen. Dabei setzt sie auf die Irritation des unvermittelten Aufpralls von virtuell und reell. Zuerst versucht sie, die spiegelnden Reflexionen an der Vitrine des Plexiglasmodells zu vermeiden, wozu sie zwei Handlampen und eine auf das Vitrinenglas gelegte Styroporplatte einsetzt. Dann geht ihr Interesse dahin, das echte Gebäude hochartifiziell erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck muss sie schnell handeln, wenn sie die seltenen Momente der Abwesenheit störender menschlicher Wesen nutzen will.

Jens, der Regieschüler, verfolgt keine optischen Spielereien, wie er die Ambitionen von Inge nennt, sondern nimmt das pralle Leben ins Visier. Er schwimmt ganz einfach solange in den Menschenmassen mit, bis sich irgend etwas ereignet, was den Anknüpfungspunkt für eine kleine Geschichte abgeben könnte, weshalb er mit seiner Handkamera "aus dem Bauch heraus" auf kleinste Regungen unnormierten Lebens reagiert. Gelegentlich verzieht er sich ins Billy Wilder Café, wobei er die Kamera wie einen tiefsitzenden Colt aus abwärts ausgestreckter Hand in Betrieb nimmt, denn niemand soll Notiz davon nehmen, dass gefilmt wird. Oder er fährt mit einem der vielen Grossraumlifts auf und ab, das Objektiv durch die gläserne Wand hindurch in die benachbarte parallel mitschwebende oder die eigene Fahrt kreuzende Kabine gerichtet. Da muss doch irgendwann mal eine Interaktion erkennbar werden, die als Ansatz für eine wenn auch noch so klitzekleine Story taugen könnte! Jens weiss aus den Erfahrungen der Tierfilmer, wie lange diese vor Aquarien oder Erdhöhlen ausharren, wenn sie Zeugen des Zusammenbruchs eines gleichgültigen Einerleis werden wollen.

Zum Glück steht Jens nicht unter Zeitdruck. Erst in zwei Stunden ist die Schulversammlung mit Madame Montclaire angesetzt. Somit kann er seine Liftfahrten, immer vom sechsten Stock ins zweite Untergeschoss und zurück, in aller Ruhe fortsetzen. Er achtet darauf, so planlos als möglich den Aufzug zu wechseln, einmal oben, einmal unten, mal auch im dritten oder fünften Stock in eine überfüllte oder in eine völlig leere Kabine umzusteigen. So hat man das Aussteigen oder das Einsteigen derjenigen, die den Aufzug irgendwo durch Knopfdruck in Bewegung versetzen, im Bild. Das soll die Zufallsquote anreichern und damit das Schicksal herausfordern. Denn auch das hat Jens bereits gelernt: Das Schicksal vieler Filme ist durch reine Zufälle bestimmt.

Allmählich häuft sich Material für einen abendfüllenden Film über ein ziemlich abstraktes Pas de deux für zwei Grossraumlifte an. Jens ist weit davon entfernt, sich davon euphorisieren oder bedrücken zu lassen. Es ist ihm klar, dass er noch keinen Knüller im Kasten hat. Verdrucktes, still und stumm sich in die Aufzugsecken quetschendes Volk, das in steriler Lage die Miene einfrieren lässt, das Gespräch unterbricht und die Stimme verliert, auch ohne dass dies seine Kamera hätte bewirken können.

Was kann er denn noch tun? Etwa mit ihnen zu quatschen beginnen, sie mit einem Interview zur Qualität von Plastikschwimmbecken, zur Stimmung in den neuen Bundesländern oder noch besser mit der Erörterung der Standardprobleme von Obdachlosen oder Prostituierten aus der Reserve locken? Oder soll er sie gar bitten, die Kamera selbst in die Hand zu nehmen und ihn dabei zu filmen, wie er - ja, wie er was? Es fehlte das Konzept!

Jens Brockmann verlässt das Aufzugsareal und besinnt sich auf die Optimierung der Kamerabewegung. Sie soll so ruhig sein, dass sie die automatische Entwacklungsfunktion der Kamera unterlaufen würde. Er ging zu diesem Zweck leicht in die Knie, wie es Jesper vorgemacht hat, stakst mit langen, gleitenden Schritten, mit denen er federnd abrollt, zwischen den Menschen durch und achtet darauf, beim Ein- und Ausatmen den Brustkorb nicht zu bewegen. Bauchatmung war angesagt. Ja, ja, das war schon besser! Ungeduldig vergewissert er sich danach am Monitor, dass keine störenden Wackler und ruckartigen Schwenks mehr vorkamen. Jetzt sah alles schon viel besser aus! Wie auf feinen Schienen-Dollys gedreht!

Und nun also Inges Linse an seiner! Das hat den Charme einer Durchsage über den falsch parkierten Personenwagen während der Vorführung eines James Bond. Er verklemmt sich die Verbalisierung des "Verpiss dich!", das er jedoch in Brüllstärke denkt. Die Sonyklitsche ist einfach zu klein für zwei dynamische Videokameras! Doch die göttliche Vorsehung scheint sich bereits wiederum auf seine Seite geschlagen zu haben. Denn Inge packt ihre Kamera in den Alukoffer und meint: «Ich geh schon vor. Du weisst, Ledermann wird sauer, wenn man die Montclaire warten lässt!» - Ah, die Kraft der Gedankenübertragung, da war sie!


Und weiter geht's! Diese altmodisch gestreiften Hosen und darunter die ausgetretenen, erdverkrusteten Schuhe! Die sehen gut aus. Jens löst das Traggestell von den Schultern, greift es mit beiden Händen und lässt die Kamera knapp über dem Boden gleiten, immer den bemerkenswerten Schuhen von, sie waren es wirklich, Hieronymus Halbeisen nach. Die Schuhe zögern, sie bleiben stehen, machen rechts umkehrt und dies mehrmals, was den vollkommen Ratlosen oder den hochgradig Unkundigen verrät. Nun nähern sie sich einem Sitzenden. Dieser befindet sich auf dem Halbrund einer Riesenbank aus Edelstahl, die den zentralen Plätscherbrunnen des Innenhofes umschliesst. Der Brunnen ist kreisrund, die Bank nur halbrund, da das Brunnenrund durch ein Geländer mittendurch geteilt wird, über das man abwärts in einen von gärtnerischen Bemühungen umschlossenen Trichter aus unterirdischen Stockwerke mit weiteren Büros blickt. Wie die Gärten von Semiramis, nur umgekehrt gehängt. Gärten oben, Semiramis unten und alles durch verspiegelte und gedimmte Beleuchtungen bei Tag und Nacht erhellt.

Auf dem Brunnenrand sitzt nun dieser zweite Freak. Was will der Opa mit seinen breitgerippten braunen Hosen und den auffällig klobigen Wanderschuhen? Er hat einen grossen, wild umschnürten Karton und einen noch grösseren Koffer als der von Zielperson eins neben sich stehen. Jens beeilt sich, Zielperson eins, die jetzt auf Person zwei zusteuert, zuvorzukommen und setzt sich unauffällig neben Person zwei auf die Rundbank. Von seiner kleinen Kamera nimmt keiner von den beiden Notiz. Und tatsächlich kommt er zum Schuss einer tontechnisch einwandfreien Aufnahme, denn der sitzende, offensichtlich etwas ältere Wanderknabe monologisiert halblaut in Deutsch, wenngleich mit stark schweizerischem Akzent, doch dafür genau in seine Richtung.

«Dreissig Jahre, dreissig Jahre habe ich für die gearbeitet. Presseagentur, dass ich nicht lache! - Ich sei stur! So ein Blödsinn! Den Esel habe ich für die gemacht. Jetzt auch noch den Packesel! Fresseagentur, dämliche!» - jetzt steht er auf. Er greift sich den verbeulten Riesenkoffer, dann den Karton. Eins: «Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche. Kann ich Ihnen mit dem Karton helfen?» - Zwei: «Aha, da schau an! Es gibt immer mehr Schweizer in Berlin. Ich danke Ihnen, doch das schaff ich allein. Doch wenn Sie zufälligerweise wissen, wie ich zum deutschen Filmarchiv gelange?» - «Das trifft sich bestens, denn genau dahin muss ich auch hin! Kommen Sie, dann sehen wir, wie gut das mit Ihrem Gepäck klappt.»

Jens schleicht unbemerkt hinter ihnen her. Die vier Beine und die beiden Koffer an den Seiten gäben im Breitleinwandformat eine wunderschöne Einstellung. Das voreingestellte Format der VideoCam ist leider drei auf vier, dasjenige der alten Fernsehgeräte. Das war auch so ein Punkt, den er mit der Geräteabteilung der Schule noch besprechen wollte. Doch jetzt konzentrier dich, Jens Brockmann! Die beiden schlendern ums Plätscherhalbrund und finden auf Anhieb die richtige Tür. Das Eintreten danach ist reinster Buster Keaton! Beide versuchen gleichermassen, dem anderen zu helfen und sich dabei selber nicht helfen zu lassen. Mal lassen sie diesen, mal den anderen Koffer auf dem Boden stehen, um mit der freien Hand die schmale doch schwere Tür aufzureissen, die, bevor sie sich versehen, bereits wieder zuschnappt. Jens frohlockt ungehört. Er kann aus einiger Entfernung ganz ruhig drauf halten und fleht zum Himmel, dass das Ganze noch länger dauern möge. Da kommt ihm die Aufgabe seines Mathelehrers aus der Schulzeit in den Sinn. Die mit dem Wolf, der Ziege und dem Kohl, welche über einen Fluss übergesetzt werden müssen, wobei nur zwei im Boot Platz haben und dass bei ungünstiger Paarkonstellation der Wolf die Ziege oder die Ziege den Kohl fressen würde. Wie hatten sie überzusetzen?

Die zwei Herren finden nach etlichen Versuchen die Lösung. Hinter ihnen steht bereits eine Gruppe Eintrittwilliger im Stau. Eins geht unbeschwert hinein, hält Zwei die Tür auf, verlässt das Gebäude wieder, um seinen Koffer bei nun von Zwei geöffneter Tür ins Innere zu bewegen, wonach Zwei sich draussen um das Restfrachtgut kümmert. - «Jens!!» Jens blickt hart nach oben, wo er eine bekannte Stimme gehört hat. Ganz oben bücken sich Inge, Ilena und Niki über das Geländer der Schulcafeteria. «Madame wartet! Schnell !» - «Madame kann mich mal ! Ich bin mit einem echten Knüller beschäftigt.»

Die beiden Schweizer steigen die Treppe abwärts und lesen die Schilder. «Hier ist es! Empfang Deutsches Filmarchiv!» Erneut eine schwer zu öffnende Tür mit mechanischer Angel. Drinnen an der Schaltertheke eine Blondine im besten Alter. Und hier ist die Geschichte für Jens zu Ende. Der Raum ist viel zu eng, als dass er sich unbemerkt daneben klemmen und weiter filmen könnte. Und sein Begehr im deutschen Filmarchiv wäre? Ein vernünftiger Satz fällt ihm auf die Schnelle einfach nicht ein. - Also hinauf denn, zu Madame!

HIERONYMUS

Подняться наверх