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Das Fünfte

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Hieronymus Halbeisen hat die U-Bahn an der Station Gleisdreieck verlassen. Zuerst drückt er seinen Koffer zwischen zwei Zaunpfosten vor einer Ödfläche durch, dann zwängt er sich selbst an der Absperrung vorbei und betritt das Brachland. Kann sein, stellte sich Halbeisen vor, dass für diesen Ort eine städteplanerische Vorgabe existiert, welche die Attraktivität des Baulandes für Investoren schmälert. Noch jedes Mal, wenn er in letzter Zeit nach Berlin kam, hat er dem unberührten Land im Zentrum der Hauptstadt einen Besuch abgestattet.

Heute versperren dem Berliner vielerorts die Einzäunungen von Planungswüsten megalomanischer Bauanlagen den Weg. Ihre Überwindung ist mit keiner Todesgefahr mehr verbunden. So entstehen in Zeiten grossen Kapitalschiebedrucks neue Naturreservate, die vom Geflüster nomadisierender Naturgeister verteidigt werden. Eine Schar Nebelkrähen beäugt Halbeisens verbotenes Stadttrecking, das auf sandigem Untergrund an Königskerzen und Weissdorn vorbei über mageres Riedgras führt. Die Schwarzgefiederten, mit grauem Brustgürtel Gezierten, hüpfen neben ihm her, flattern vor und kurven zurück. Über ihnen hängen die Gleise einer S-Bahnlinie und am Horizont wabert die Silhouette eines aus dem Boden gestampften Grossklotzimperiums.


Darüber ein unaufhörlich aufsteigender und wiederum absackender Fesselballon, der Touristen für eine überrissene Gebühr vom Flachland hinauf in die Lage kurzweiliger Übersicht hievt. Wie Halbeisen an herum karrenden Lastern und Dutzenden von eingerammten roten Holzpflöcken feststellt, gibt es offenbar doch bereits Pläne, wie das Ödland in Besitz zu nehmen sei. Womöglich war den privaten Aquisiteuren von Grund und Boden die Liquidität nur vorübergehend versiegt. Oder ihre Bebauungspläne sind nicht auf Anhieb bei allen Ämtern auf Gegenliebe gestossen.

"Wie viel würde wohl eine auf neunundneunzig Jahre garantierte bauliche Inaktivität hier kosten", fragt sich Halbeisen. "Der Verzicht, eine weitere Grube für Investitionsmilliarden zu buddeln? - Ich vermute, in solcher Umgebung ist Nichtstun schlichtweg unbezahlbar." - Halbeisen denkt mit Rührung an das Dorf, in dem er wohnt, Sundlach im Biederthal, das Jahrzehnte an das Vorhaben einer öffentlichen Kanalisation in einer Art und Weise verwendet hat, dass sie darüber in unerreichbare Ferne gerückt ist. Sein Haus, wenn man es denn als ein solches bezeichnen will, verfügt wie alle übrigen in Sundlach über eine autonome und von keiner übergeordneten Planung gestörte äusserst kostengünstige Lösung der Kanalisationsfrage, die der Kenner mit Stillschweigen belegt.

Während der Durchquerung der City-Savanne hält Halbeisen gelegentlich inne, um die andere Körperseite mit dem Koffer zu beschweren. In diesen Momenten erlebt er sich als den einsamen Wanderer, der im Zentrum einer Millionenstadt verloren geht.

Wenig später, in einem ganz gewöhnlichen Stadtpark, neben einer Treppenkante, woran Skaterkids während der Flugphase ihre scheppernden Untersätze unter sich in neue Richtungen biegen, durchfährt ihn aus heiterem Himmel ein Freudenschreck, ein leuchtendes Erstaunen, das in nichts anderem als in einer unbekannt verstärkten Wahrnehmung seiner eigenen Identität besteht.

Ohne erkennbare Vorankündigung hat sie sich eingestellt. Um Halbeisen herum wird alles bunt und leer. Und was er beobachtend zu fokussieren sucht, entfernt sich mit schneidender Überdeutlichkeit. Nichts hat mehr mit ihm zu tun. Mädchen dreschen mit ihren Schlägern auf schlappe Federbälle ein, die um so stärker während des Fluges abbremsen, als die jungen Weiber ihnen Gewalt antun. Türkische Familien stellen im Schatten morgenländischer Platanen, mit Weglassung der stillenden Mütter, das Familienidyll der französischen Impressionisten nach. Alles verschmilzt in der inszenierten Choreographie eines müssiggängerischen Nachmittags. Die Räume zwischen den ausladenden Baumgruppen wie die Zeit, die zwischen Halbeisens fragenden Atemzügen verinnt, durchdringen ihn mit ein und demselben Geschmack eines ewigen, unbemerkt stillen Wandels. Derselbe Geschmack durchdringt das regungslose Liebespaar, das Mund auf Mund in selbstinduzierter Trance auf der Wiese lagert.

Und dies alles nur, weil Ich mich ihm in seinen Gedanken zugewandt habe. Seinem Denken habe ich den weitesten Atem eingeflösst, zu dem mein Mensch in der Lage ist. Das lässt ihn nun für einige Augenblicke die dröhnende Symphonie der Geistesstille vernehmen. Noch antwortet er mir nicht, denn er hat den Komponisten, in dem er selber lebt, noch nicht kennengelernt. Er glaubt, dass der Geist nur ein Ereignis in seiner Seele sei. Ich werde versuchen, ihn wach zu rütteln, damit er mit uns Unsichtbaren Beziehung aufnimmt. Er selbst will es und so vollziehe Ich nur seinen ihm unbewussten Willen.

Halbeisen weicht allem banal Gegenständlichen aus und schreitet mittendurch der Spree zu, die er in einer Mulde hinter dem schnurgerade verlaufenden Grashügel erahnt. Am Wasser setzt er den Koffer ab, geht in die Knie und spürt das Prickeln seiner entlasteten Hände wie eine ausserleibliche Wahrnehmung. Im Raum hinter ihm hängt eine sonntägliche Jubelblase im Geäst, lassen menschliche Schreie, Redefetzen und das Gelächter von Menschen jeden Alters und jedwelcher Herkunft die Luft der Parkanlage erzittern. Der nun wieder einsetzende Lärm stört nicht, er entrückt Halbeisen wie der Anblick eines indigowogend unbegrenzten Meeres hinter der Wiese mit den grell flimmernden Körpern eines überfüllten Schwimmbades.

Halbeisen setzt sich, Halbeisen legt sich hin, in Halbeisen bauscht sich die Gegenwart eines unaufhörlich verrinnenden und sich neu füllenden Lebens. Halbeisen fühlt, wie wenn zwischen den Bewohnern dieses Stadtparkes sich sein Lebensfaden entrollen würde. Und der ins Taumeln geratene Kämpfer, der er ist, ragt in monumentaler Selbstempfindung als Spulenkern eines leeren Bewusstseins auf. Was kann denn jetzt noch geschehen? Inmitten seines hinschwindenden Lebens, nach all den Hoffnungen und Überwindungen, nach den kleinen Erfolgen und den grossen Enttäuschungen, ist er am Ufer eines technisch domestizierten Wasserweges gestrandet und bemerkt, wie die schrägen Sonnenstrahlen das Dunkelgrün des vom Kunstdünger gepeitschten Rasens entzünden und das Graublau der Spree vor ihm zu einem glasigen Spiegel aufschmelzen.

Es ist, als sässe er am heiligen Ganges und vernähme in Benares die Reden des Buddha, die von der Einsicht in das vierfache Anhangen, den achtgliedrigen Pfad und von der Seelenblindheit handeln, von dem Anhaften an die sinnlichen Gebilde, welche den Geist verdrängen. Er vernimmt des Erleuchteten Lehre des rechten Vorstellens, des rechten Entschliessens, der rechten Rede, des rechten Handelns, des rechtgeführten Lebens, des rechten Strebens, des rechten Lernens, der rechten Versenkung, die alle zusammen in der Befreiung vom Rad der Wiedergeburt ihren Sinn und Zweck finden.

Bald danach tritt auf Halbeisens Bewusstseinsbühne, als kosmischer Kontrapunkt zur Lehre Buddhas, der unerhörte Anspruch des aramäischen Heiligen auf - oder war es wirklich sein ernst gemeintes Angebot? -, das er der Menschenmenge in Palästina zurief und das sich zwei Jahrtausende später für Halbeisens Gedankengehör wiederholt: «Wer durstig ist, der komme zu mir und trinke. Wer sich mit meiner Kraft erfüllt, von dessen Leib sollen Ströme vom Wasser des Lebens ausgehen. Und: «Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht im Finstern wandeln.» - «Ich bin die Tür, durch die ihr zur väterlichen Gottheit gelangt.»

Halbeisen hat es die Fähigkeit des Nachdenkens verschlagen. Er verschmilzt indessen mit dem unverwechselbaren Ton, der in jedem der religiösen Urkunden ihren Urheber offenbart. Er sucht sich in den Kehlkopf jener an die Ewigkeit gerichteten Wortmeldungen zu verwandeln, um sie dabei zu überprüfen. Er hegt keinen Zweifel, dass ihm alles zu prüfen auferlegt und möglich sei. Er erlebt die Weisheit Buddhas und empfindet in ihr die Gewitterstürme und Erdbeben zerberstender Kontinente wie auch das sehnsuchtvolle, ätherische Fächeln befiederter Devas, die als Schmetterlinge Brahmas den noch verschlossenen Duft zukünftiger Welten ins Da-sein locken.

Halbeisen lebt, irdischen Bezüglichkeiten gänzlich entrückt, in einem Raum zeitloser Gegenwart. Sorglos aufgehoben inmitten thronender Gewalten und lichtstrahlender Weisheitsträger, deren Füsse sich in Wolken hüllen und deren Stirnen, bevor sie sich zu Merkurs geflügelten Meteoren ballen, Weltgedanken in Form tätiger Lebewesen entquellen. Jeden einzelnen dieser Gedanken schaut er als einen in der Unergründlichkeit seiner Herkunft wurzelnden Kraftsamen, der sich seiner unendlichen Zukunft öffnet. Und alle Samen lodern im Geistesfeuer Brahmas. Der Funkenregen fällt sprühend in die Lebensläufe der Geistessucher wie der Verkommenen. Er entfacht in den träumenden Gefühlen die Weisheit aus-gleichender Gerechtigkeit. Im Dunkel der Instinkte lässt er das Stöhnen finsterer Asuras ertönen. Das Steigen und Sinken zahlloser Seelen schaut Hieronymus, schwimmend im Ring des Mondes, den der Himmel um die Erde legt.

«Was ist nun mit deiner Seligkeit, oh grosser Buddha, und was kostet uns dein Nirvana? Seit langem sprichst du nicht mehr zu irdischen Seelen. Das, was du für dich ersehnt hast, ist dir gelungen und du hast dich für immer aus dem Dunstkreis der Erde befreit. Doch da ist noch immer deine Lehre, im Osten konserviert und im Westen reanimiert. Zu Nutzen und Frommen all derjenigen, denen das Kreuz Widerwille einflösst. Was hat es denn für eine Bewandtnis mit dem Kreuz, das jeder auf sich nehmen soll? Wann geschieht dies? Macht das nicht jeder ohnehin? Müsste man sich hierfür frei entscheiden?

Hieronymus Halbeisen möchte jetzt liebend gern den aramäischen Heiligen selbst befragen, wieso das Kreuz das Zeichen für die geistige Wiedergeburt sein soll. Wo wir doch alle darauf aus sind, uns die Kreuze dieser Welt von den Schultern zu nehmen? Ist nicht am Kreuz zu hängen das grösste Unglück, das man sich denken kann? Und diesem Unglück soll ein geistiges Erwachen entspringen? Oder liegt in der Entscheidung, sein Kreuz zu tragen, was auch immer das heissen mag, das wahre Glück? Und Glück käme ohne subjektives Wohlbefinden aus? Könnte ich, während ich leide, objektiv im Glück sein? Muss ich schizophren werden, um ein Christ zu sein? Der Hauptertrag menschlichen Lebens läge allein in der Zunahme von Erkenntnis, in der Erprobung der Geduld und in der Stärkung des Vertrauens? Und das unzerstörbare Glück wäre der dabei errungene Geistesfrieden? Und der Tod, in dem er sich zu bewähren hat, wäre sein Preis? Bilden sich dies nicht auch die Dschihad-Kämpfer ein? Nein? - Auf das unbemerkt einsame Sterben käme es an. Nicht im Kampf gegen eingebildete Feinde, sondern sich selbst abzusterben?»

Halbeisen wird sich bewusst, dass er während seines ganzen Lebens immer auf gesicherte Antworten auf Fragen wie diese aus war. Erinnernd lässt er sein Leben vom heutigen Tag rückwärts in die Kindheit zurück schweben. Hin und wieder zurück in die Gegenwart. Sein Gemüt erfüllt sich mit den Dissonanzen und den Harmonien, welche die Melodie seiner Erinnerung begleiten. Sie umspielt auch seine im Jenseits lebende Ehefrau, die auftaucht, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Sie schüttelt milde den Kopf. Was ihm ihre Erscheinung mitteilen will, versteht Hieronymus Halbeisen nicht. Im Sommer 2004 fühlt er sich auf einer Berliner Spreewiese allein wie kaum je zuvor.

Es schmerzt ihn, dass er mit jemandem verheiratet war, den er im Grunde nie verstanden hat und dem er sich nicht hat verständlich machen können. Sybille hatte zeitlebens den Christen wie auch der Lehre des Christus Jesus misstraut. Sie pfiff auf die Hoffnungen wie auch auf die Versprechen religiöser Glücksucher, deren es in ihrem Bekanntenkreis viele gab. Forderungen nach bewusstseinsstärkender Verinnerlichung durch Meditation und Gebet waren ihr suspekt. Was war es, wonach Sybille Ausschau hielt? Einem Glücks- und Weisheitstreben gegenüber, deren Motiv ihr egoistisch erschien, wurde sie unduldsam und hat damit einigen Bekannten ihren noch schwankenden Seelenfrieden, den sie sich soeben errungen hatten, wiederum geraubt. Vielleicht war es wirklich die Gerechtigkeit, für deren Verwirklichung auf allen Ebenen sie kämpfte und litt. Sie gehörte damit einem geheim verbündeten Menschenkreis an, für den der klare Blick auf die offenbaren gesellschaftlichen Missstände die Grundlage jeder Religion darstellen muss. Antriebe und Sehnsüchte, die bloss auf einen erhöhten Bewusstseinszustand abzielten, waren für sie des Teufels, der den Menschen seit jeher um sein waches Seelenleben betrogen hat.

Halbeisen ist aus seinem Sinnen erwacht und bemerkt jetzt, dass sich die sonnenhungrigen Menschen von den in der Dämmerung verschwimmenden Grünanlagen inzwischen zurückgezogen haben. Einige Elstern keifen und kämpfen um zurückgelassene Speisereste. Ein Eichhörnchen flitzt unter einem Badminton-Netz durch, dann an einem Kiefernstamm hinauf und hinein in einen von weiteren Einblicken geschützten Baumraum. Ein junger Mann hastet besorgt zurück zum Ort des Familiengelages und sucht nach einem verlorenen Gegenstand.

Halbeisen hat sich um zwanzig Uhr mit seiner Tochter verabredet. Sie würde ihn wohl danach zum Bahnhof begleiten. Zuvor will er im deutschen Filmarchiv am Potsdamerplatz vorbei, das montags bis neunzehn Uhr offen hat. Wie ein Blitz durchfährt ihn an dieser Stelle eine Wirklichkeitsangleichung: "Oh Mammamia, heute ist doch gar nicht Montag! Woher wären denn alle die Menschen hergekommen, wenn heute Montag wäre?" - Halbeisen hat sich bei Horst Blinker derart deplatziert gefühlt, dass er unbewusst seinen Abgang einen Tag zu früh inszeniert hat. Er vermochte es kaum zu fassen! Dennoch, heute war mit Sicherheit Sonntag!

Was machen wir jetzt, Hieronymus? Blick dich nur um! Nah am Wasser siehst du dieses hufeneisenförmig angelegte Sträucherwerk. In der Mitte eine freie Grasfläche von guter Körperlänge. Was folgt daraus?

Halbeisen kramt seinen zusammengerollten Schlafsack aus dem Koffer, prüft im schwindenden Licht den Untergrund, entfernt einen alten Hundekot, deckt die Stelle mit Blättern ab, den Schlafsack darauf und legt sich auf Probe. Doch, das sollte gehen. Der Himmel ist frei, es ist sommerlich warm und die Nacht würde sternenklar werden. Wenn er seinen Kostenplan befolgen will, so kann er sich nun mal kein Hotel mehr leisten. Zurück zu Blinker? Eine unmögliche Vorstellung wie die andere auch, das bereits verschlossene Geschenk an seine Tochter, das auch Geld enthält, wieder aufzureissen!

Er staunt über den Witz einer Vorsehung, die ihm, nach wie manchen Jahren, unter Mitwirkung eines aussergewöhnlichen Bewusstseinsdefizits wieder einmal eine Nacht unter Sternen verordnet hat! Im schrägen Lichtschein seiner Taschenlampe, die er mit einem Schnürsenkel in die Zweige bindet, beginnt er in einem arg zerlesenen Exemplar von «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» zu lesen, das er sich heute nach-mittag in einem Antiquariat am Hackeschen Markt für einen Euro erstanden hat. Er hat seit längerem den Eindruck, dass er nicht darum herum kommt, irgend etwas von diesem überall präsenten Oesterreicher Rudolf Steiner zu lesen. Schon vor zwanzig Jahren war Sybille, die ihre gemeinsame Tochter in einen Waldorfkindergarten hatte stecken wollen, ihm mit Rudolf Steiner in den Ohren gelegen. Unter den unfassbar vielen Steinertiteln, welche die durchgebogenen Regale des Antiquariats füllten, hat er sich den einzigen Titel ausgesucht, der als Frage formuliert war. Er hofft, dadurch den roten Faden nicht lange suchen zu müssen. Er braucht sich nur auf: "Frage beantwortet, ja oder nein?" zu konzentrieren. Bald schon zwingt ihn der steil abfallende Status der Batterie, im Dunkeln den wenigen Absätzen nachzusinnen, die er zuvor noch hat entziffern können.

Bevor sein Verstand, dieser regsame Funke mit der Intensität eines Glühwürmchens, sich von ihm verabschiedet, um dem Schlaf mit seinen kreisrunden Nebelschwaden Platz zu machen, aktiviert ihn Hieronymus erneut durch das folgende, traumverlorene Zwiegespräch: - "Da wölbt sich also über mir der unendliche Sternenraum. - Stop! Schon falsch. Nur ein endlicher Raum könnte sich wölben. Denn Wölbung bezeichnet eine Gestalt und die Unendlichkeit ist gestaltlos. Es ist unmöglich, dass die in den Weltraum geschossenen Teleskope sich einer bloss vorgestellten Wölbung auch nur um einen Millimeter nähern könnten. Ihre Konstrukteure geben doch vor, das "unendlich grosse Weltall" zu erforschen. Was sie in Händen halten, sind unter anderem Zahlen, welche die Entfernungen zur Erde ausdrücken. Und die sind mit jeder Unendlichkeit inkompatibel. Was bedeuten schon all diese albernen Millionen und Milliarden von Lichtjahren im Antlitz der Unendlichkeit? Peanuts! Ich stelle fest, dass keine Raumwölbung sinnlich feststellbar und dass der Raum ohnehin nicht beobachtbar ist. Worüber wir Erfahrungen haben, sind die Abstände zwischen Objekten. Ich würde ja noch mit mir streiten lassen, ob die Räumlichkeit von Gegenständen wahrnehmbar sei, aber der Raum als solcher? Vergiss es!

Es gibt immer mehr philosophierende Neo-Buddhisten, die von der Relativität von Raum und Zeit reden und sich dabei ziemlich erhaben vorkommen. Da ihnen zufolge unsere Vorstellungen ohnehin relativ sind, werden damit auch keine grossen Erkenntnishürden überwunden. - Wer ist eigentlich auf die Idee verfallen, den Sternenraum ausmessen zu wollen, nachdem man bereits wusste, dass er unendlich ist? - Gut, eine Gerade lässt sich messen, auch eine zweite, die sie im rechten Winkel kreuzt, wie auch die dritte, welche die Fläche, in denen die beiden liegen, senkrecht durchbohrt. Der Schnittpunkt der drei Dimensionen bezeichnet den Ursprung jeder räumlichen Messung. Das muss Descartes gewesen sein. Aus dem Stall dieses kartesianischen Nullpunktes brennt nun der Gaul des Verstandes in die Unendlichkeit durch. - Sehr schön. Den Null-Punkt kann ich mir ja irgendwie und irgendwo vorstellen. Ich kann ihn mir zigfach vervielfältigt denken, und in all diesen Ausgangspunkten verankert stelle ich mir jetzt unendlich grosse Radien von Weltallkugeln vor, die alle zusammen dem einen und ganzen astronomischen Kosmos angehören. Doch auch unendlich viele und unendlich grosse Kugeln sind alle-mal kleiner als ein sie zusammenfassender Gesamtkosmos. Denn nichts von dem, was sich überhaupt irgendwo befindet, kann ausserhalb dieses Kosmos sein. - Und warum soll es gerade eine Kugel sein, die kein Ausserhalb verträgt? Eine unendlich grosse Kugel existiert nicht, das hatte ich doch schon. Eine Kugel ist gewölbt und eine Wölbung ist eine Gestalt und eine Gestalt ist begrenzt, denn sonst wäre sie keine und eine begrenzte Gestalt besitzt zwingend ein Ausserhalb. Die auf magische Weise unendlich grosse Weltraumkugel habe ich nur wegen den Physikern im Kopf! Die reden doch immer davon, wie sich das messbare Universum kugelförmig ins Unendliche ausdehnen würde! Und dabei erwähnen sie nie, wie die messbare Kugel dabei ihre Kugelform verliert! Und warum nicht? Weil es die Ausdehnung von etwas Endlichem ins Unendliche gar nicht gibt. Sie übertünchen diese Tatsache mit ihrer suggestiven Kugelgestalt als eine Art leuchtendes Symbol für Unendlichkeit und Ewigkeit. Dabei wäre es weniger verfänglich, wenn die Astrophysiker die Eckdaten ihres astronomischen Kosmos in der Form einer riesigen Schuhschachtel in die Lehrbücher setzen liessen.

Was der Unendlichkeit keinen Abbruch tun würde, denn ich würde mal denken, dass die unendlich grosse Schuhschachtel und die unendlich grosse Kugel ein und dasselbe sind. Denn wenn weder eine unendlich grosse Kugel noch eine unendlich grosse Schuhschachtel ein Ausserhalb haben, weil sie dann nicht mehr unendlich wären, so kann es auch kein Innerhalb für unendlich grosse Kugeln und Schuhschachteln geben (davon abgesehen, dass es unsinnig ist, dabei den Plural zu verwenden). Doch definiert sich eine Schachtel durch ihr Inneres, die Kugel durch ihr Äusseres und was das logisch gesehen bedeutet, ist mir zu klären jetzt definitiv zu mühsam. Vielleicht auch, dass man Schuhe nicht in Kugeln aufbewahrt. Meine Gedanken sind astronomisch gesehen vermutlich unhaltbar. Und das aus einem Grunde, den ich nicht verstehe. Nicht absolut nicht verstehen kann, sondern nur im jetzigen Zustand der Todmüdigkeit."

Im dunklen Spreegras dort unten sträubte sich mit knirschendem Gehirn mein Hobbyphilosoph noch immer gegen den Schlaf. Vielleicht würde sich der Gaul seines Verstandes, wenn er denn meine Hilfe annehmen würde, ja doch noch in einen Pegasus verwandeln.

"Ich fasse zusammen: Jede gekrümmte und mit einem lokalisierten Zentrum versehene Kugeloberfläche muss einen weiteren Raum über oder neben sich oder wo auch immer zulassen. Also muss ich mir das unendliche Weltall zwingend ohne Zentrum und ohne gekrümmte Oberfläche vorstellen. Ein Universum, das seinen Namen verdient, muss somit eine ebene Fläche sein, die in keiner bestimmten Richtung liegen darf. Sonst wäre das Universum ruckzuck erneut in eine räumliche Schuhschachtel zurückgeschnurrt und dürfte wiederum nicht an der Unendlichkeit teilhaben und wir müssten wie die Menschen des Mittelalters uns erneut davor fürchten, dass unsere Raketen einmal das Himmelszelt durchstossen und die himmlischen Geister bei ihrer geheimnisvollen Tätigkeit überraschen. - Das war jetzt Quatsch, Hieronymus. Wenn du etwas Neues verstehen willst, musst du auf Witze verzichten."

Wenn Halbeisen für sich drauflos philosophiert, so führt er genau diese Art von Selbstgesprächen. Wenn er sich zuguterletzt selbst davon überzeugen kann, dass er durch seine zupackenden Begriffe die Erfahrung einer neuartigen Erkenntnis, einer noch nie zuvor gebildeten Vorstellung machen kann, so erlaubt er sich in gleichem Masse erleichtert wie erschöpft sich dem Schlafe hinzugeben. - "Ich wiederhole die Zusammenfassung: der kosmische Raum ist von einer unendlichen, ebenen Fläche begrenzt, die, weil sie in keiner bestimmten Richtung liegt, niemand je sehen, vermessen, noch sich wird vorstellen können, sondern von der ich nur solange etwas habe, als ich ihre Notwendigkeit denkend erfasse!"

Bevor Halbeisen noch die Anschlussfrage heranwehen fühlt: "Denken ohne vorzustellen, wie soll das gehen?" zieht er es vor, sich mitsamt seinen allerletzten Bewusstseinsregungen und dem erwähnten, wissenschaftlich noch ungesicherten Ertrag in den Schlaf zu entlassen.

HIERONYMUS

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