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Das Vierzehnte

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Am nächsten Tag bekommen die Mitbewohner Ilena nicht zu Gesicht. In der Schule fehlt sie. Erst am Abend taucht sie wieder auf. Sie ist ungewöhnlich wortkarg und schaut sich mit Valentin die restlichen Filme ihres Vaters durch. Nach einiger Zeit setzen sich die anderen dazu, ohne ein Wort über das, was sie auf dem Bildschirm sehen, zu verlieren. Um vier Uhr früh des nächsten Tages, es ist ein Mittwoch, geht Ilena in der dunklen Wohnung auf und ab. Sie hat noch kein Auge zugetan. Sie legt sich wieder ins Bett und versucht, erneut einzuschlafen. Bald darauf weckt ihr verhaltenes Schluchzen Valentin, der im Zimmer nebenan schläft. Er stellt sich eine Weile vor ihre Zimmertür, doch da er nicht sicher ist, ob er willkommen ist, klopft er nicht an. Aus unbestimmtem Antrieb wandelt er nun mit seiner Federdecke unter dem Arm durch den dunklen Gang und legt sich im Wohnzimmer auf die Couch.

Zwei Stunden später schleicht sich Ilena mit einem umgehängten Rucksack aus dem Zimmer. Sie öffnet in der Küche den Kühlschrank und löffelt stehend eine Schüssel Milch mit Cornflakes leer. Dabei bemerkt sie nicht, wie sie von Valentin aus der dunklen Couchecke beobachtet wird. Als sie Anstalten macht, die Wohnung zu verlassen, spricht er sie an: «Wo willst du hin, Ilena?»

Nachdem sie sich vom Schreck erholt hat, flüstert sie: «Mir geht die Sache nicht aus dem Kopf. Ich will ein für allemal herausfinden, wer spinnt. Er oder ich. Und da er schon weg ist, muss ich ihm in Gottes Namen nachfahren. Kannst du mich für die letzte Schulwoche entschuldigen. Sag irgend etwas. Würdest du das bitte für mich tun?» - «Ilena, jetzt übertreibst du total! Auch wenn ich deinen Vater nur kurz erlebt habe, reicht mir das, um zu wissen, dass er vermutlich besser weiss, was er will, als irgendeiner von uns. Und vor allem, was er nicht will, nämlich Selbst-mord begehen. Ruf ihn doch heute abend einfach mal an. Dann kannst du dir die Reise sparen.»

«Hör zu, Valentin, ich schätze deine Anteilnahme an meinen persönlichen Angelegenheiten nicht unbedingt. Versteh mich recht, nicht in jedem Fall. Wenn du mein Fernbleiben von der Hochschule nicht entschuldigen willst, so muss ich den Stress danach halt in Kauf nehmen. Immerhin habe ich ihn erst nach den Ferien. Tschüss!» - «Mein Gott, du willst es ja wirklich wissen! Dann lass mich dich begleiten! Warte, bis ich meine Sachen gepackt habe! Ich lege Jens eine Erklärung ans Bett. Soll er uns doch entschuldigen. Ich bin gleich soweit.» - Ilena ist nicht begeistert. Sie lässt sich das für und wider durch den Kopf gehen. - «Hörst du? Du gehst nicht allein! Das ist doppelt so anstrengend. Warte einfach!» - Ilena willigt ein und setzt sich.

Gegen Mittag ist der Rest der Gruppe bereits wieder um den Küchentisch versammelt. Niki ist mit ihrem Laptop beschäftigt. Hauptthema ist natürlich das Verschwinden von Ilena und Valentin. Niki: «Hört alle mal zu. Google bringt eine ganze Menge zu Hieronymus Halbeisen: Filmkritiken, Festivalberichte. Auch viele seiner eigenen Texte sind da und dort verlinkt. Er selbst hat keine Homepage. Auf jeden Fall scheint er ziemlich negativ zum Film eingestellt zu sein. Eigentlich komisch, wenn er selbst Filme gedreht hat. Ich habe noch gestern Nacht in einen von seinen Artikeln reingelesen. Schon nur der Titel: "Zur mediumistischen Natur des Kinos"! - Uhuuu, habt ihr gewusst, was für gefährliche Dinge Filme sind! Davon haben wir Filmfreaks keine Ahnung! Nein ehrlich, das ist alles ziemlich theoretisch. Was ich nicht wusste, ist, dass Pasolini ähnlich gedacht hat. Pasolini sprach vom Film als von einem hypnotischen Mon-strum und in einem Artikel für "Corriere della Sera" schrieb er, die wahren Zerstörer der italienischen Gesellschaft seien die Staatsschule und das Fernsehen. Witzig, nicht? Aber hat was. Aber bitte fangt jetzt nicht an, darüber zu diskutieren!»

Jens war es in dieser Herrgottsfrühe beileibe nicht ums Diskutieren. Anstelle dessen hatte er soeben eine zündende Idee. Um kreativ zu werden, brauchte er keineswegs schon voll wach zu sein. - «Wisst ihr was, das ist doch schön, wenn der so viel theoretisiert.» - Und fügt vielsagend hinzu: «Erinnert euch an die Montclaire! Sie will die Analyse eines Weltanschauungshintergrundes! Hallo, habt ihr es gerafft?» - Er machte es wirklich spannend, doch seine Idee zündete bei den anderen noch immer nicht. - «Wir haben einen neuen intellektuellen Cinéasten entdeckt, den sehr wahrscheinlich sogar die Montclaire noch nicht kennt! Damit können wir punkten! Ich mach das Interview, du Mark gehst mit Inge seine alten Streifen durch, ich lade seine Aufsätze aus dem Netz, die kommentieren wir dann ein bisschen, und schon haben wir zwei lange Texte, genau so, wie es sich Madame wünscht! Was haltet ihr davon?»

Mark, schon früh des Tages sozial gestimmt: «Ja, und was ist mit Valentin?» - «Vergiss Valentin, der ist weg, der soll meinetwegen die Marx Brothers nehmen, die sind auch ganz schön philosophisch. Was wir jetzt machen, ist Ilenas Daddy anzurufen. Vielleicht sind die zwei ja schon an-gekommen.» - In Ilenas Telefonbüchlein, das sie neben dem Telefon hat liegen lassen, finden sie die Nummer von Hieronymus Halbeisen. Jens gibt sie schon einmal seinem Handy ein. Er liebt es, beim Telefonieren auf und ab zu gehen, und Telefonrechnungen sind für ihn kein Thema. Inge hat schon ihren Camcorder gezückt, ohne den sie nicht einmal frühstücken geht. Sie bittet ihn jedoch: «Nimm doch das Netztelefon Jens, das hat einen potenten Lautsprecher. Damit wir alle was mitbekommen. Und ich dokumentiere schon mal.»

Jens wiederholt also die Eingabe. Im Biederthal greift Halbeisen zum Hörer. Er sitzt in einem kleinen Häuschen am Waldrand einer hügeligen Landschaft. Das Wohnzimmer ist komfortabel ausgestattet, zumindest was Bücher betrifft. Neben dem Bett liegt Steiners "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?", in dem er heute früh gelesen hat. Das Klingeln unterbricht ihn in der Lektüre eines anderen Buches. Aufgeschlagen legt er "The Cathars and Reincarnation" neben das Telefon.

Das fernmündliche Gespräch verläuft für die Jungfilmer enttäuschend. Herr Halbeisen tut so, als ob er für Interviews überhaupt keine Zeit erübrigen könne. Und dies, nachdem Jens seinen ganzen Verstand zusammengekratzt hat, um die Bedeutung von Halbeisens grundlegender Medienkritik in hochgestochenen Worten zu unterstreichen und dabei auch an der richtigen Stelle einfliessen liess, dass sie über "gewisse finanzielle Möglichkeiten" verfügen würden.

«Sie wissen genau so gut wie ich, dass man bei der Filmerei nie genug Geld hat.» - Ein Satz, der Jens und allen übrigen, die mithören, den Wind aus den Segeln nimmt. Ist er im Begriff, eine astronomische Summe für die Gewährung eines Interviews zu nennen? Für wen hält er sich? Für Spielberg? Doch das kann es nicht sein, denn hierfür wiegelt er allzu deutlich und ganz prinzipiell ab. Da fallen Sätze wie: «Da gibt es doch genügend bedeutende Regisseure, die es lohnen, dass man sich mit ihnen beschäftigt! Nehmen Sie Bergman, Bresson oder Besson. Pasolini, Kurosawa oder Tarkowskij. Ich meine jetzt nicht nur ihre Filme, Sie müssen sich schon auch für ihre Gedanken interessieren, für ihr ganzes Leben. Daraus können sie wichtige Erkenntnisse über das Filmmedium gewinnen. Von Pasolini zum Beispiel: Über seine Verwandtschaft mit dem Tod.»

Und da war es passiert. Noch in den Nachwehen des exorbitanten Haschkonsums des Vorabends und mit den Anspielungen Ilenas über Papas Melancholie im Hinterkopf, liess sich Jens von Halbeisens Bemerkung zu dem ebenso fröhlichen wie schmerzhaft unangebrachten Satz hinreissen: - «Bis zu Ihrem Abgang wollten wir eigentlich nicht warten!» Entsetzt blickt er, als es heraus ist, in die Runde, stumm um Beistand flehend. Trotz ihrer Bemühung um die Stabilität ihrer Kamera, beginnt jetzt auch Inge zu zittern.

Da beendete eine eigentümlich veränderte Stimme Halbeisens das peinliche Schweigen der um den Hörer Versammelten: «Hallo, junger Mann, sind sie noch dran? Ich habe mich offenbar nicht klar ausgedrückt. Ich sprach nicht von der Beziehung des Filmers zum Tod, sondern des Films zum Toten. Lassen Sie es mich nochmals versuchen!» - Und was jetzt folgte, war ein kleiner Stegreifvortrag, bei dem sich Jens sehr anstrengen musste, nicht schon den ersten Satz mit einem Scherz, einem Einwand oder mit einer Albernheit zu unterbrechen. Doch musste er sich wohl oder übel die erstaunliche Erklärung Halbeisens in toto anhören.

«Wenn Sie die Film- und Fernsehwelt, ihre Wirkung auf die Seele beobachten und durchdenken, wird Sie dabei die Erkenntnis überraschen, dass Film und Fernsehen die Hohenpriester eines Todeskultus sind. Sie fordern gläubige Unterwerfung unter ihren Taschenspielertrick, der darin besteht, aus Totenstarre Lebensbewegung entstehen zu lassen. Diese ihre Irrlehre ist systemimmanent. Ihren Lemuren vermögen sie jedoch nur dadurch Leben einzuflössen, indem sie dasjenige der Zuschauer aussaugen. Im übrigen habe ich zu den technischen Simulationen von Scheinbewegung und Scheinlebendigem das für mich Wesentliche in allzu vielen und gewiss meist überflüssigen Artikeln längst zum Ausdruck gebracht. Ich werde nicht mehr damit beginnen, meine Zeit damit zu verschwenden, dasjenige breit zu walzen, was niemand mehr hören will.»

Nachdem Jens erleichtert registriert hat, dass Halbeisens Probleme nicht mit einer übertriebenen Empfindlichkeit zusammenhängen, versucht er es nun mit der Jammertour, erwähnt den Abgabetermin ihrer Studienarbeit, und dass sie alle philosophisch ziemlich ungebildet seien, und ob er da nicht etwas helfen könnte. Doch bleibt Halbeisen abweisend: «Sie haben mein volles Mitgefühl für Ihre Lage, aber wenn Sie bei der Filmerei bleiben wollen, dann müssen Sie früh lernen, mit Vorgaben zu leben. Und Terminzwänge sind dabei noch das kleinste Übel. Übrigens, wie haben Sie mich eigentlich aufgestöbert? Kennen Sie etwa meine Tochter Ilena?»

Jens bestätigt diese Vermutung. Er sagt, dass sie sich erst vorgestern in der gemeinsamen Berliner Wohnung begegnet seien. - «Würden Sie sie dann bitte für mich ans Telefon rufen?» Jens informiert, dass sich Ilena nicht mehr in Berlin befinde, dass sie vielmehr bereits auf dem Weg zu ihm in die Schweiz sei. «Ich danke Ihnen sehr für diese Auskunft. Ist es möglich, dass einer Ihrer Kollegen unser Telefongespräch aufnimmt?» - In Berlin konsterniertes Abwinken. Und schon wird Jens wieder vom Affen gebissen: «Herr Halbeisen, heutzutage ist alles möglich!» Da hat Halbeisen, ohne sich zu verabschieden, bereits aufgehängt. Kläglich verschwebt das «Hallo, hallo!» von Jens im Äther. - «Unmöglich! Der Kerl ist wirklich schwierig!» Und zu Inge, deren rotes Rec-Lämpchen noch immer leuchtet: «Knipps doch endlich aus!»

Nach einiger Zeit erholt sich Inge mit folgender Frage von der Aufregung: «Weiss eigentlich jemand, was Lemuren sind?» Niki, die ihren Laptop nicht verlassen hat: «Einen Moment, ich hab es gleich! Hier: Lemuren sind Halbaffen, die meisten gibt es nur in Madagaskar.» Ungläubig staunen die anderen in die Runde, nur Niki glaubt, was sie sieht. Oder doch nicht: «Nein, wartet mal, da gibt es einen weiteren Eintrag.» Man spürt förmlich die Ohren wachsen. «Die Halbaffen wurden nach den Lemuren der alten Römer genannt. Und für sie waren Lemuren die nachtaktiven Geister der Verstorbenen.»

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