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Das Zehnte
ОглавлениеInge aus der Kameraklasse und Niki aus der Produktionsklasse bewohnten in einem Studentenwohnheim hinter der Jannowitzbrücke die Topetage mit einer kleinen Dachterrasse, um die sie alle im Haus beneideten. Dies um so mehr, so schien es den beiden wenigstens, je mehr ihre Mitstudenten sich in den Sommermonaten bei ihnen in luftiger Höhe zu Hause fühlten. Was eigentlich unlogisch war. Direkt unter ihnen wohnten die drei Jungregisseure Ilena Halbeisen, Jens Brockmann und Valentin la Motte. Oft traf man sich in ihrer Wohnung, die grösser war, wobei meist auch Kamerastudent Mark, der um die Ecke wohnte, aufkreuzte. In der Regel dann, wenn das Essen bereit stand.
Das eigentliche "Kommunikationszentrum", wie sie den zentralen, wabenförmigen Wohnraum gelegentlich nannten, erreichte man über zwei bequeme, abwärts führende Stufen. Und dies von einer eleganten, offenen Küche aus, die so aussah, wie sie die Studenten sonst nur aus amerikanischen Filmen her kannten: Mit einer gegen den Wohnraum hin orientierten, hufeisenförmigen Anrichtetheke, die in einem erhöhten Bartisch mit hohen Hockern endete. Die luxuriöse Einrichtung verdankten sie dem Vater von Jens, einem erfolgreichen Bauunternehmer, der mächtig stolz darauf war, dass aus seinem Jungen nun immerhin ein Filmregisseur werden sollte. In den Jahren zuvor hatte er sich wegen dessen fiebriger Phantasie erhebliche Sorgen gemacht. Sie erschien ihm der Grund zu sein, dass sein Sohn niemals eine zielgerichtete Berufsplanung vornehmen wür-de. Das Scheitern seines Sohnes, das ihm programmiert schien, würde sein soziales Umfeld mit ihm in Verbindung bringen. Und es gab Nichts, was dem alten Brockmann so missliebig war wie verstecktes Mitleid aus dem Kreise seiner Geschäftsfreunde.
Im Wohnteil hatte es sich Ilena auf dem Sofa bereits gemütlich gemacht. Hinter ihrem Rücken verlief der erhöhte Küchenboden, doch war ihr Blick erwartungsvoll auf den Grossbildschirm des noch ausgeschaltenen Fernsehers gerichtet. Links und rechts von diesem gab es zwei Fenster, die auf einen Hinterhof blickten und deren störendes Licht meist durch schwere Vorhänge ausgesperrt blieb. Neben Ilena sass Valentin, seinen Kopf auf ihre Schulter gelehnt. Ilena rauchte die Marlborolight-Entspannung herbei. Denn kribbelig waren sie alle. Nun knipste Ilena irgend einen Fernsehsender an, drehte das Audiorad auf Null, während Grönemeyer über zwei hochwertige, den Raum perfekt beschallende Boxen sich die Lebensweisheit von der Seele sang. Im Bild gab es dazu eine Werbung für eine Haarentfernungslotion.
Zwei Stufen höher war Jens Küchenmeister. Soeben hatte er zwei Pack-ungen Spagetti ins Wasser geworfen. Der Kühlschrank stand offen, und Inge und Mark beäugten seine Innereien. Normalerweise konnte dies Jens nicht ausstehen und hätte sonst auch unweigerlich ihren Rausschmiss aus der Küchenabteilung nach sich gezogen. Doch heute war nichts wie sonst.
Jens brach als erster das angespannte Schweigen: «Von mir aus sind diese alten Filmfritzen alle in Ordnung. Aber was soll der Mist mit ihrer Weltanschauung? Wen interessiert heute denn noch Philosophie! Wir sind doch Filmemacher, Mensch.» - "Mensch" meinte gerade auch Grönemeyer. - «Na, na, Jens, du verpasst vielleicht einen neuen Trend. Philosophie soll wieder mächtig in sein, habe ich gehört. Inzwischen auch in Deutschland. Er wurde von Paris aus lanciert. Da gibt es wieder echte Philosophen-Cafés, musst du wissen. Da gehst du hinein, bestellst einen Café au lait und dein Croissant. Und schon bringt einer ein Thema vor und los geht es mit dem Philosophieren.» Jens wehrte diese Horrorvorstellung ab: «Komm schon, Inge, da werden doch bloss die wenigen Philosophiestudenten, die es noch gibt, in ihren Sommerferien vom Tourismusbüro der Stadt dafür bezahlt, dass sie für deutsche Touristen existentialistische Ambiance inszenieren. Nein wirklich, das glaube ich niemals!» - «Siehst du, du bist eben bewusstseinsgeschichtlich gesehen im Rücksstand, Jens. Bei dir geht es noch immer um Glauben oder Nichtglauben.» - «Wumm, das sass», murmelte Valentin aus seiner inzwischen noch tiefer gerutschten Lage.
Auch Mark hatte jetzt etwas beizutragen. «Da gab es doch diesen Kinderbuchbestseller über Sophies Welt. Dieses Mädchen, das sich einen Ast abfragt und ihr Lehrer oder was auch immer der war erklärt ihr alle diese Weltanschauungssysteme von Plato bis äh, nun, die neuesten kenne ich auch nicht. Bei uns auf der Realschule hat niemand von Weltanschauung gesprochen, aber alle von einem Wertesystem. Jeder Mensch habe ein Wertesystem oder müsse eines haben, sagte unser Deutschlehrer. Ob er es weiss oder nicht. Das müsst ihr euch mal klarmachen! Ob du es weisst oder nicht, du hast einfach eine Weltanschauung kleben. Vielleicht hat man inzwischen das Weltanschauungsgen bereits entdeckt. Wenn das stimmt, da sagt man sich doch: Es ist besser, man weiss, welches man hat, so wie es gut ist, seine Blutgrupe zu kennen. Könnte das vielleicht das Anliegen der Montclaire sein, oder sehe ich das falsch?»
Alle sannen Marks Worten nach, der sich selten, so wie gerade eben, intellektuell exponierte. Danach meldete Inge ihr Interesse am Beitrag Deutschlands zur globalen Weltanschauungsproduktion an. «Unsere alten deutschen Philosophen hatten vermutlich die gediegensten Weltanschauungssysteme herausge-» «-hirnt», half ihr Jens weiter. «Nein, kann man nicht eigentlich sagen, ich meine eher herausgearbeitet, herausgedacht.» - «Sagte ich doch, ausgedacht» - «Nicht ausgedacht, Jens. Lies mal deren Abhandlungen (das war eine arge Zumutung, dessen sich Inge bewusst war), wir hatten im Gymnasium so einiges im Auszug davon gelesen, da wird dir schwindlig vor lauter Genauigkeit und Spitzfindigkeit. Das ist nicht einfach so ausgedacht, das ist erdacht. So wie entdecken, erfinden im grossen Stil, verstehst du!» - «Jetzt bringst du es schon wieder auf den Punkt. Das meinte ich doch: erfunden! Und warum soll es für andere wichtig sein, dasjenige, was ein anderer sich ausgedacht hat, nachzulesen und danach noch nachzuplappern?»
Inge überhörte ihn, da ihr Niki zuhilfe kam. «Ich habe die ganze Zeit an diesen Ausdruck denken müssen: "Intellektuelle Anschauung". Von wem stammt der schon wieder? - Hallo, ihr da drüben, Valentin, hast du zugehört? Von wem ist der?» Allen war klar, dass höchstens Valentin diese Texte, von denen die Rede war, auch gelesen haben konnte. - «War es nicht Herder, Valentin?» - «Herder war es bestimmt nicht. Herder war irgendwas, aber sicher kein ernst zu nehmender Philosoph, auch wenn er philosophiert haben sollte. Vielleicht war es Hegel oder Schelling. Obwohl ich vermute, dass es "intellektuale Anschauung" heisst. Das andere macht keinen Sinn.» - Diese Belehrung ging im allgemeinen Wortwechsel unter. Die Stimmung verbesserte sich mit der demnächst erreichten Gardauer der Spagettis und, nachdem Jens die CD gewechselt hatte, der hoch-gestellten Tonstärke.
Da klingelte es an der Wohnungstür. Niki durchquerte eilend den Gang. Draussen stand ein Mann, ausser Atem, wie Niki feststellte. «Ja, ... ich, ... also ich wollte eigentlich ... » - «Danke, wir brauchen wirklich nichts.» - Und etwas lauter, sodass die Kumpels es hören konnten: «Nicht einmal eine Weltanschauung!» - Allein Mark gab sich die Mühe zu lachen. - «Warum denn eine Weltanschauung? Die Namen auf den Briefkästen unten, mit all dem Durchstrichenen, dem Darüber und dem Dazwischen sind wahrlich keine grosse Hilfe, um in diesem Haus irgend jemanden zu finden. Deshalb bin ich gezwungen wie ein Hausierer an jeder Tür zu klingeln. Wohnt etwa Ilena Halbeisen auf diesem Stockwerk, und wenn nicht, wissen Sie auf welchem? Viele kann es gegen oben hin ja kaum mehr geben.» - «Oh, entschuldigen Sie bitte, Herr Halbeisen! Ich hätte darauf kommen müssen. Ilena hat es erwähnt, dass Sie noch vorbeischauen werden. Kommen Sie doch bitte herein!» Halbeisen trat in den schwach beleuchteten, langen Flur, der sich im Hintergrund zur Essen-Wohnlandschaft öffnete und blickte in diejenigen Gesichter, die zuerst in seiner Nähe erschienen. Das von Ilena war nicht unter ihnen. Es kam ihm vor, als würde er wie ein unbekanntes Insekt angestarrt. Der Oberkiffer der Runde, Mark, hatte inzwischen mit baumelnden Beinen an der Bar begonnen, einen Familienjoint Marke Turbo zu basteln. Er benutzte dazu fünf Zigarettenpapierchen, die er nach einem bewährten Parkettierungsmuster aneinander pappte. Auf dem Herd blubberten noch immer die Spagettis. Jens wischte sich die Tränen von den Wangen und schneuzte sich anschliessend den Zwiebelduft aus der Nase. Eine geöffnete Flasche Rotwein stand neben ihm. Niki war soeben im Begriff, Herrn Halbeisen ein Glas Rotwein anzubieten, als dieser vom unwiderlegbaren Gefühl befallen wurde, die falsche Person am falschen Ort zu sein. Doch einfach abhauen ging jetzt auch nicht mehr. Zumindest Ilena musste er doch sehen.
«Ilena! - Schau doch, wer da ist! - Die hat noch gar nichts mitbekommen!» - "Kein Wunder bei dieser Tonstärke! Wer noch nicht schwerhörig ist, wird es demnächst sein", ging es Halbeisen durch den Kopf. Manu Chao sang: «Me gustas marihuana, me gustas tu! Me gustas la mañana, me gustas tu!» - Endlich kam Ilena aus ihrer Sofaecke hoch und erblickte ihren Vater. Sie umarmten sich. Er blickte in die Runde und empfand das dringende Bedürfnis, für einen Moment allein zu sein. «Darf ich euer Bad benutzen?» Und weg war er. Er hatte sich in den einzigen Raum geflüchtet, in dem er einen Augenblick lang für sich sein konnte. Er erblickte sich im Spiegel und stellte fest, dass er sich schon seit einiger Zeit hätte rasieren müssen und verlor sich bald im Nachdenken.
Wenn er das Bad verliess, so würde er Fassung annehmen und sich mit einem Glas Rotwein an die Theke setzen müssen. Denn wenn Ilenas Mitbewohner erst mal stoned waren, konnte er ein Gespräch, das ihm lieb gewesen wäre, ohnehin vergessen. Wenn er Wein trank, glückte ihm womöglich das Mitflapsen. Er hatte ursprünglich gehofft, dass Ilena vor Abfahrt seines Zuges mit ihm noch essen gehen würde. Er hatte sich vorgenommen, ihr bei dieser Gelegenheit die Filme zu überreichen, die er aus dem Filmarchiv geholt hatte. Seit Jahren schon hatte sie ihn um eine Vorführung seiner alten Filme gebeten, die sie noch nie gesehen hatte. Und insgeheim hatte Halbeisen gehofft, mit ihr, einmal mehr, über ihre Mutter, seine Frau Sybille reden zu können. Und nun diese WG-Seligkeit! Halbeisen fühlte sich für eine perspektivelose Zeitverschwendung entschieden zu alt.
Nun, wie alt war er eigentlich? Er schaute in die Augen des Gesichts, das ihn aus dem Spiegel anschaute, und legte ihm seine Frage vor. Es antwortete ihm mit einem Goethezitat: «Die wenigen Jahre, während denen die Seele mit einem Körper verbunden ist, werden des Menschen ewige Entelechie nicht älter gemacht haben.» - Er war mit Goethe einverstanden. Er betrachtete seine mit jedem Tag älter werdende Hülle, die ihn mit demselben Interesse beäugte. Er stellte sich sein Gesicht vor, wie es vor zwanzig, vor dreissig Jahren ausgesehen hatte, um es in seiner Phantasie in die ihm gegenüber stehende Spiegelerscheinung überzuführen. Dabei fehlten ihm einige Übergangsbilder zwischen vierzig und fünfzig. Es waren die Jahre, in denen er sich sehr wohl gefühlt und sich voll entfaltet hatte, wovon nur ausser ihm niemand Notiz genommen hatte, ohne selbst dabei zu bemerken, wie der Zahn der Zeit still und stetig an Haut und Knochen, an Organen und Geweben genagt hatte. Nicht, dass er mit dem Gesicht im Spiegel unzufrieden gewesen wäre. Doch traf auch das Gegenteil nicht zu. Seine äussere Erscheinung blieb ihm schlichtweg ein Rätsel. Sie würde ihm so lange er lebte, und vielleicht darüber hinaus, ging es ihm durch den Kopf, eine unlösbar mit ihm verbundene Sphinx beiben.
Wie konnte einem eine Erscheinung, von der man doch annehmen musste, dass man es selbst war, denn so fremd werden? In jedem Fall musste es jener Erscheinung im Spiegel vollkommen gleichgültig sein, wie man ihr gegenüber empfand? - Halbeisen machte sich bewusst, dass er es war, der sich mit seinem gespiegelten Antlitz auseinander setzte. Und nicht etwa umgekehrt! Dadurch hoffte er die Autonomie seines Ich-Bewussteins wiederum in seine vollen Rechte eingesetzt zu sehen und das Affentheater, was jede Interaktion mit einem Spiegel war, zu beenden. Was auch immer er für Vorstellungsbilder in seinem Bewusstsein haben mochte, er allein war es, der ihnen die Plattform für ihr Erscheinen zur Verfügung stellte. Alle Vorstellungen und damit alles, was er von der Welt erfuhr, würde in seiner Seele keine Erinnerungsspur hinterlassen, wenn es nicht vom Bewusstsein seiner selbst begleitet, ja mehr noch, von seinem Selbstbewusstsein durchdrungen wäre. Jeden Augenblick seines bewussten Lebens empfand er dabei als vom uferlosen Meer seines Selbstes umspült, das die immer neu auftauchenden Begrenzungen der Sinnenwelt zu idyllischen Buchten füllte.
Hier, im Badezimmer seiner Tochter, in Betrachtung seines Spiegelbildes begriffen, erschien ihm jede einzelne Erscheinung, jede ihm in die Sinne fallende Einzelheit als in demselben uferlosen, unerkennbaren Meer zu verschwimmen wie es für das eigene Selbst ohnehin zutraf. - "Das alltägliche Bewusstsein beruht auf einer vollkommenen Adaption an das Unfassliche. Nur dadurch gelingt es uns, letzteres zu verschlafen und damit zu ertragen", dachte Hieronymus. War das zu einseitig formuliert?
Schau dein Spiegelantlitz, Hieronymus! - Als Knabe schon hast du versucht, ihm durch mutwillige Willkür ein Eigenleben einzuflössen. Erinnerst du dich? Du hast dir einzubilden versucht, dass du von deinem Spiegelbild angeblickt wirst. Allmählich hattest du den Trick herraus gefunden. Du musstest dazu keine nennenswerten Anstrengungen mehr machen. Der Zauber erstand wie von allein, während du für einen Augenblick nur in die Augen deines Spiegelbildes wie in die Augen eines anderen Menschen blicktest.
Mein armer Mensch! Du sehnst Dich förmlich danach, von einer selbsterzeugten Illusion verlockt zu werden! Das, was du als dein Spiegelbild erkennst, soll wie etwas Fremdes für dich Wirklichkeit annehmen. Du bist süchtig nach dem Glauben an selbsterschaffene Traumbilder. Du willst an die Realität deines Spiegelbildes glauben, so wie du im Traum an seine Bilder glaubst. Du wirst das Wesen eines Abbildes niemals erkennen können, solange dich das Ergebnis deines magischen Selbstbetrugs noch zu faszinieren vermag. - Immer begehrt Ihr Menschen neuartige Verführungen, wenn für Euch die alten durchschaubar und schal werden. Ihr meidet das Erwachen und erstickt damit die Funken der Geistesgegenwart, die noch immer unter der Asche eures gewöhnlichen Sinnenbewustseins glühen. Ihr spielt mit dem Glitzern der Versuchung, die eure wirkliche Erkenntnis zerstört. Ich werde weiterhin auf dich acht geben müssen, mein Geliebter, wie immer, wenn dein Selbstbewusstsein zu verglimmen droht. So wie ich es jede Nacht tue.
Halbeisen war in diesem Augenblick taub für die geflüsterte Ermahnung seines Gewissens. Er dachte für sich: «Kein Zweifel, ich werde angeblickt! Und wieso erlebe ich den Blick aus dem Spiegel nicht wie ich ihn im Kino erleben würde, als ein blosses Bild, meine ich? Wieso wird der Blick erdrückend real? Aus dem Spiegel blickt nun wirklich niemand heraus! Kleidet sich hier ein bloss Vorgestelltes in Wirklichkeit? Wer verleiht der Hülle die Kleidung des Wirklichen? Stellt etwa jeder Spiegel die in allen magischen Künsten gesuchte "materia prima" dar? - Ich will der mysteriösen Verwandlung auf die Schliche kommen. Dabei darf ich mir nur nicht selbst mit Logik ein Bein stellen, die mir einreden will, lediglich ein totes Spiegelbild vor mir zu haben. Mein gespiegelter Doppelgänger fiele mit einem Schlag in das Nichts aller durchschauten Illusionen zurück. Ich will jedoch die zauberische Wirkung meines Spiegelbildes ergründen, seine Potenz, mir zur Begegnung mit dem Unbekannten zu verhelfen, der ich mir selber bin.»
Halbeisen blickt dem bekannt Unbekannten nun abwechselnd in das eine, dann ins andere Auge. Es gelingt ihm noch nicht, die Leibhaftigkeit seines Spiegelbildes als Ganzheit zu erfassen, doch ist ihm, als würde ein allmählich zu Leben Erwachender ihm bereits zuzwinkern. - "Du weisst doch schon, was du sogleich erblicken wirst", und auch "wir zwei gehören zusammen, du und ich!" - "Nein", denkt Halbeisen. "Nichts davon. Ich weiss nichts über dich. Lass die Andeutungen und enthülle dich!" - Hieronymus blickt der erscheinenden Gestalt in ihr Antlitz. Sie ragt aus einem Hintergrund auf, der in seiner Lebendigkeit immer bedrohlicher wird. Aus seinen Gesichtszügen ist jede Anbiederung gewichen. Indem Halbeisen sein eigenes Sehen in dessen beide Augen taucht, wird er an der Stelle zwischen seinen Augen an eine geistige Fessel gelegt, die ihn mit dem Gegenüber zusammen kettet. Die Spiegelgestalt glüht auf in grimmigem Ernst und nachstossende Willensschübe härten ihren Blick.
Halbeisen empfindet das Schwinden seines Eigenwillens als eine Beseligung fragwürdiger Art. Die innere Lähmung bildet die schiefe Bahn, auf der er in das fremde Wesen hinüber gleitet, welches vorübergehend sein Lager auf dem Boden seines eigenen Bewusstseins aufgeschlagen hat. Sein Blick wird trübe, und alles Wissen und alle Selbstzuversicht, die Halbeisen während seines ganzen Lebens, auch in Zeiten des Jammers, zuverlässig zur Seite standen, ziehen wie die letzten orange verglimmenden Wolkenbänke beim Ausbruch des Gewitters, wenn die Nacht hereinbricht, im Anblick der sich türmenden des Egregors unter die Bewusstseinsschwelle zurück. Während der Umstülpung der Seele von Hieronymus Halbeisen ergiesst sich eine uranische Gewalt in das Antlitz des Doppelgängers. Das tumultuarisch aufgerührte Getümmel zwischen dem Abbild mit seinem Urbild breitet sich aus wie der Klang eines tonnenschweren, fernöstlichen Kriegsgongs. Die Augen des Doppelgängers werden zu kochenden Seen, aus der die Lava der seit langem eingekerkerten Gluten überfliesst. Und Halbeisen erlebt, wie sein Blick in sich zusammenstürzt.
Es ist kein Spiegelbild mehr, dem er gegenüber steht. Ein Spiegelbild träte nicht in seine eigene Welt über, um als Wahngestalt fordernd sich vor ihn zu stellen. Und Halbeisen schmiegt sich ihm innig an, saugt die metallene Kraft, die von der Erscheinung ausgeht, in sich auf. Und so schwindet sie langsam dahin, während das Gefühl ihrer verstörenden An-wesenheit sich wie ein blau züngelnder Rauch allmählich verflüchtigt. "Nein, bleib!", befiehlt Halbeisen. Oder ist es bloss ein Betteln? - Und sofort kehrt der Doppelgänger zurück und Halbeisen vermeint in seinen Augen den wutentbrannten Widersacher wahrzunehmen, der den eigenen Blick in Schächte unbeschreiblicher Teufeleien hinunter zieht. Aus den Abgründen das Stöhnen von Dämonen; der Doppelgänger erstarrt zu einem metallischen Götzenbild, über dessen polierte Oberfläche elektrische Netze zucken.
"Und ich lasse dich nicht, bevor du mir nicht zeigst, was du in Wirklichkeit bist". - Hinter den lauernden Attacken des Hasses und der Versuchung empfindet Hieronymus, nun in höchster Not, das sanfte Echo seiner verzweifelten Bitte aus dem fernen Umraum erhabener Weisheit. Sie ist wie immer da, um alle Wesen in den Schleier ihrer unbegreiflichen Güte zu hüllen. Er erahnt selige Gestalten, die schwimmend im Licht Schaffendes wirken. Zu ihnen richtet er ein traumverlorenes Stossgebet.
Und ein letztes Mal ersteht Halbeisens Doppelgänger, und dieses mal lässt er seine letzte Maske fallen. Vom ersten Augenblick an ist ihm Halbeisen ausgeliefert, sein Wille ist vollkommen an dasjenige verloren, was ihm geschieht. Er bleibt als der erstarrte Kraftpunkt eines seelischen Glühwürmchens zurück, das auf seinem entrückt beobachtenden Aussenposten verharrt. Das doppelgängerische Wesen wechselt seine Gestalt im willkürlichen Puls eines närrischen Kaleidoskops. Seine glosenden Halluzinationen erstehen und vergehen in einem Rhythmus zwischen Wolkenluft und Blutschwall, zwischen lockendem Licht und den Hammerschlägen des Schreckens.
An der Küchentheke verschwanden die ersten Spagettis in den hungrigen Mündern. - «Wisst ihr, wer Tykwer nimmt? Nein? Überlegt mal! Alexander Kluge nimmt in jedem Fall Kevin», meinte Jens, während er seine Gabel drehte. «Das wird zum Gähnen langweilig!» - Mark meinte, dass er sich mal an Wim Wenders ranmachen werde. «Wie wirst du in Berlin zu einem Engel, ohne dich lächerlich zu machen? In meinen Augen ein krasser geistiger Konflikt. Viel weiss ich ja nicht davon. Vielleicht nehme ich dann doch Tarantino, der einiges geiler ist. Ob Montclaire Tarantino erlaubt? Die Weltanschauung des human born Killers?» - Niki: «Und Gerd wird sich einmal mehr auf Pasolini stürzen, schon wegen der Schwulen. Pasolini hätte wirklich jemand anderen als Gerd verdient.» - Inge: «Und unsere unberührbare Véronique wird sehr wahrscheinlich über die karge Aesthetik einer, wie sagte sie neulich, "existentiellen Betroffenheit bei Antonioni" sehr kluge Gedanken aneinander reihen. Wenn sie denn nicht alles nur abschreibt. Das weiss man bei ihr doch nie. - Ilena, nimmst du Bresson? Oder Bergman?» - «Habe ich eine unbewusste Vorliebe für B?» - «Nein, nein, ich hab nur so keinen Bock. Scheisse, Scheisse! Man sieht doch, dass das alles nur kopfwichsig werden kann. Leider steht das französische Miststück, die uns das alles eingebrockt hat, bei Ledermann so hoch im Kurs, dass sie uns am Semesterende echt Probleme machen kann.»
«Jetzt mal halblang, Inge! Erinnere dich, wie einige von uns heulten, und du selbst gehörtest auch dazu, als wir Montclaires Film "Chansons de guerre" im Roxy sahen. Der Film hat in Cannes immerhin eine goldene Palme geholt.» - Und Jens doppelte nach: «Ingelein, du scheinst mir wirk-lich wegen Madame arg gestresst zu sein. Lass uns das zusammen easy angehen. Ich habe den Verdacht, dass dir nachher unser Dschöintli ganz gut tun wird. Danach reden wir nochmal darüber, ja?» - «Was soll mir gut tun?» - Mark lachte und rollte seine vorsorglich produzierten Turbos vor Inges Teller. «So nennt man das im schweizerischen Alpenslang. Ilena, sprich du es nochmals aus, - bitte!»
In diesem Moment hören alle einen dumpfen Schlag. Valentin reagiert als erster. - «Ist eigentlich dein Vater noch immer im Klo?» - Ilena rennt zum Badezimmer und öffnet die Tür, die nicht abgeschlossen ist. Halbeisen sitzt am Boden, halb an die Badewanne gelehnt. - «Nichts Schlimmes», sagt er zur neben ihn sich hin knieenden Tochter. - «Mir wurde nur schwindlig!» - Ilena hilft ihm auf die Beine. Halbeisen wankt zum Wasserhahn und wölbt seine Hände zu einer Schale und taucht sein Gesicht hinein. Und nochmals. Und nochmals, bis alles trieft und tropft. Mit geschlossenen Augen richtet er sich vor dem Spiegel auf und presst die Hände vor das Gesicht. Dann legt er seinen Arm um Ilena und lässt sich wie ein Blinder von ihr aus dem Badezimmer führen.
«Es sind nur noch zwei Stunden, bis der Zug fährt. Hier schau, diese Videos habe ich heute im Filmarchiv ausgelöst. Ich will nicht, dass sie länger öffentlich zu sehen sind. Du kannst sie dir gerne anschauen. - Also dann wieder einmal: Tschüss, mein Liebes!» - Als Hieronymus Ilena umarmen will, entzieht sie sich ihm. - «Komm schon, das war jetzt doch etwas sehr kurz, dein Aufenthalt meine ich. Wir haben uns die Tage über kaum gesehen. Wie ging es denn mit Blinker? Hat sich zwischen euch was getan? Warum setzt du dich nicht zu uns? Wir haben doch noch jede Menge Zeit!»
«Nein, ich möchte hier nicht alles durcheinander bringen. Und es geht mir im Moment auch nicht besonders gut. Was Blinker betrifft: Er führt sein eigenes Leben. Ich denke, wir werden uns so bald nicht wieder sehen.» - Während Ilena ihn beobachtet, wie er einen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke zieht, fragt sie sich, ob der letzte Satz Blinker oder ihr gegolten hat. Im Umschlag befindet sich, der Art nach, wie ihn Hieronymus in den Händen hält, vermutlich Geld. - «Hier! Verbrauch es gut. Mach dir bitte keine Sorgen, wir leben nun mal in schwierigen Zeiten, da bleibt keiner verschont.» - Ilena ist sich zwar nicht sicher mit ihrer Beobachtung, doch meint sie, dass seine Augen feucht sind.
Halbeisen greift nach seinem Koffer und nähert sich der Wohnungstür. In Ilena kocht es. - «Das ist wiedermal Halbeisen pur», faucht sie ihren Vater von hinten an, sodass dieser die Hand um den Koffergriff löst und sich schnellstens umdreht. - «Über allen Wassern schweben und orakeln: Keiner von uns wird verschont. Dann das Geld, vielen Dank, ich kann es wirklich gut gebrauchen, aber was willst du eigentlich? Du brichst hier ein, verschwindest für eine Ewigkeit im Klo, tönst irgendwas an, brichst wieder ab, und vor allem musst du halsüberkopf davon! Wie soll ich das meinen Freunden bitte schön erklären? Soll ich mich heulend in mein Zimmer zurückziehen, oder soll ich lieber denken: Ist doch glatt gelaufen, wenn sich dieser mühsame Kerl, der nun mal mein Vater ist, sich wieder in sein Leben zurückzieht und dir vorher noch etwas Kohle zugeschoben hat. Was schlägst du vor? - Ich verstehe dich nicht! Das mit Mama ist doch jetzt auch einige Jahre her. Du kannst doch nicht ewig trauern, wenn es das ist. Ich entsinne mich, aber vielleicht ist das ja auch wieder falsch, dass du sie vor ihrem Tod oder ihrem Verschwinden, wenn du das lieber hörst, nicht so sehr geliebt hast wie danach. Oder fehlt sie dir nur? Um was geht es dir überhaupt? - Schau meine Leute hier, die kennen in den Grundzügen deine, unsere Geschichte. Gib dir doch mal einen Ruck, sitz an den Tisch und erzähl, was dich beschäftigt. Du wirst bestimmt gute Zuhörer finden. Das muss doch möglich sein, dass man sich Menschen gegenüber verständlich macht, wenn man sich etwas Mühe gibt. Ich habe einfach den Eindruck, und das macht mich wütend, dass du es gar nicht versuchst und das ist wie eine Missachtung der anderen. Damit beleidigst du mich und meine Freunde, du hochnäsiger Kerl!»
«Ach Ilena, glaube mir, ich wüsste nicht, was ich lieber täte, als mich zu euch setzen zu können. Doch es gibt nun einmal Erlebnisse, über die man einfach nicht reden k a n n. Nicht, weil man kein Vertrauen hätte oder sonst irgendwie verklemmt wäre, über Gefühle zu reden, wie du vermutest. Es gibt Dinge, mit denen man zuerst selbst ins Reine gekommen sein muss, bevor man über sie spricht. Sonst hat man verloren. - Es tut mir leid, und du weisst, wie sehr ich dich liebe, Ilena!» - Hieronymus zieht Ilena an sich, küsst sie links, dann rechts, zuletzt auf die Stirn. Sie lässt es mit sich geschehen. Als sie zu den anderen zurück taumelt, vernimmt sie sein allgemein in die Runde gesprochenes: «Auf Wiedersehen allerseits und einen schönen Abend noch!» Dann fällt die Tür ins Schloss.