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Das Zweite

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Wir schreiben den Juni 2002 und die Welt steht in Aufruhr. Seit jenem denkwürdigen Januartag hat die Erde zehn weitere Male die Sonne umrundet. Der mit missionarischem Inbrunst geführte Krieg gegen den internationalen Terrorismus, wie er auf der einen Seite heisst, oder gegen den amerikanischen Kolonialismus und die Zerstörung der religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit in islamischen Gesellschaften ist bereits voll im Gang. Die strategischen Eckpfeiler waren lange vor der Jahrtausendwende durch die Hintermänner der hohen Politik beschlossen worden und wurden nach der mysteriösen Zerstörung der Zwillingstürme in New York von den Kongressabgeordneten in kollektiv getrübter Bewusstseinsverfassung demokratisch abgesegnet.

Seit 1995 ist Eduard Schewardnadse Georgiens neugewählter Staatspräsident. Seine Verantwortung formulierte er vor den willkürlich angesetzten Neuwahlen so: «Ich weiss, dass ich nicht legitimiert bin, das Amt des Staatschefs zu übernehmen. Aber ich bin mir sicher, dass nur ich Georgien aus Chaos und Krise herausholen und zur Demokratie führen kann.» - Im letzten Winter wurde er als Staatspräsident in einem Amt bestätigt, das er de facto auch ungewählt zuvor bereits inne hatte. Bei der letzten Wahl hat er ihre Ergebnisse mit wenig wählerischen Mitteln zu seinen Gunsten verbessern lassen. Nach endlosen Demonstrationen und der Besetzung des Regierungsgebäudes durch Tausende von aufgebrachten Bürgern - schon wieder das Regierungsgebäude an der Rustaweli-Allee - sah er sich zum Rücktritt gezwungen. Diesmal war der Druck von der Strasse von seinen eigenen politischen Zöglingen organisiert worden. Der unblutige Machtwechsel ist als Rosenrevolution als eine Erzählform georgischer Geschich-te eingegangen.

Die neue Regierung hat daraufhin eine Untersuchung des gewaltsamen Todes von Swiad Gamsachurdia angeordnet, die, solange Schewardnadse lebt, zu keinen gesicherten Ergebnissen gelangen wird. Seine Kinder blieben auch nach Papas Sturz auf veritablen Rosen gebettet. Die Tochter als Leiterin des staatlichen Fernsehens, der Sohn als Leiter von Unesco in Georgien. Und Eduard Schewardnadse? Er wurde zum offiziellen Berater des UNO-Generalsekretärs "degradiert".

Überdies wäre der Umstand nachzutragen, dass die Bewohner der bereits erwähnten, von Doktor Haug geleiteten Burg von ihrer erhöhten Position aus sich in der bevorzugten Lage befanden, die in der hysterisch gefeierten Milleniumswendfeier losgeschossenen Leuchtpetarden über dem Baseler Rheinknie zu verfolgen. Was sie auch bis weit über Mitternacht hinaus taten, bis sie der unaufhörlichen Wiederholung desselben müde wurden und zu Bett gingen.

Wie eh und je stand ihr Gemäuer auf dem bewaldeten Kalkgrat, der zu einer der Juraketten gehört, welche die Schweiz von Frankreich trennt. Ein steil ansteigender Weg mit einem im Fels montierten Handlauf führt vom Brunnen des Dorfes Burg im Leimental hinauf zum Tor, durch das man die Burganlage betritt. Heute besteht sie aus drei Wohnhäusern, die auf steiler Zinne aufgereiht in die nördliche Weite blicken, aus einem Glockenturm sowie aus einer mit dem Wohntrakt verbundenen Kapelle. Die Glasscheiben der Burgfenster blinken in den letzten Sonnenstrahlen zu Santi hinunter, während bei ihm unten im Tal Dämmerung bereits die Obstbaumwiesen einhüllt. Der grosse Erdschatten hat auch den mächtigen Nussbaum bereits erreicht, an dem sich Santi einmal mehr zu schaffen macht. Leicht erhöht steht der Baum auf einem Buckel des Erdbodens, der einstmals wie ein schwerer Teppich zurechtgeschüttelt worden war und danach, so wie er fiel, für die Zeiträume geologisch zuverlässigerer Erdzustände liegen blieb.

Die Menschen in den wenigen Häusern des abgelegenen Grenzortes wissen nicht recht, was sie von den Bewohnern der Burg halten sollen. Insbesondere die neu im Dorf Angesiedelten rätseln, was es mit ihnen auf sich habe. Einige haben in Erfahrung gebracht, dass die Häuser der Burganlage einer Allgemeinen Burggesellschaft für Koordination und Prävention gehören. Doch da sie daraus ebenso wenig schlau werden wie ihre seit Generationen ansässigen Nachbarn, lenken sie ihre Gedanken bald einmal auf ergiebigere Gegenstände.

Viele unter den Neureichen besitzen bequeme Villen mit weitreichendem Ausblick auf die zwischen Schwarzwald und Vogesen breit sich erstreckende Rheinebene. In ihren Gartenanlagen blinken Swimmingpools, wobei Einblick verwehrende Hecken keine profane Neidgefühle aufkommen lassen. Für ihre Besitzer wäre ein Leben in der Burg mit ihren hohen, schlecht beheizbaren Räumen ohne jeglichen modernem Komfort - einige meinten, die Feuchtigkeit stecke in allen Wänden und der Gips bröckle - ohnehin unvorstellbar. Der Anblick der Burg hatte etwas Bizarres: Die drei Wohnbauten sassen nah nebeneinander über den hoch aufragenden Kalkwänden und schienen wie brückenlose Zähne durch fragwürdige Lücken getrennt.

Nun hat sich ein Eckfenster in einem der Wohntürme geöffnet. Zwei ältere Damen versuchen zu erkennen, was sich unter dem grossen Baum abspielen mag. Einige weisse, französische Kühe stehen auf der Wiese wie Holzspieltiere um den Nussbaum angeordnet. Jeden Abend suchen sie den erhöhten Standort als ihren bevorzugten Nachtlagerplatz auf. Doch sind es nicht allein Kühe, die eine der am Fenster stehenden Damen durch ihren Operngucker zu erspähen hofft.

Am untersten Baumast lehnt eine Leiter. Über sie ist Santi bereits unter das sommerliche Blätterdach gerutscht. Er hält eine Filmkamera in der Hand, die er langsam den Einzelheiten der Baumgestalt entlang bewegt. Jetzt lässt er sich zu Boden fallen und setzt sich in eine trockene Mulde, die das Wurzelgeflecht gebildet hat.

Obwohl für die Damen am Fenster nicht genau zu erkennen ist, was Santi tut, interessieren sie sich sehr für seine weit entfernte Gestalt. Die vordere reicht den Gucker der zweiten hinter ihr mit den Worten: «Lisbeth, chum go luege. Dr Santi redet wider mit sim Boum!»

Lisbeth kann sich nicht lange des vergrösserten Anblicks erfreuen. Mit sanfter Bestimmtheit werden beide von einem vornehmen Herrn vom Fenster abgezogen. - «Meine Damen, ich bitte Sie! Das geht nun wirklich nicht!» - Erleichtert wie Kinder, deren Vergehen nur glimpflich bestraft wurde, verlassen die Frauen den Raum, während Doktor Haug das Fenster schliesst und die Vorhänge zieht.

Santi hat sich in der Mulde zu Nathans Füssen sitzend soeben dazu entschlossen, in einigen Tagen nach Berlin zu reisen.

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