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Das Neunte

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Nachdem Halbeisen wieder ins Empfangskabäuschen des Filmarchivs zurückgefunden hat, wird er Zeuge einer Unterhaltung, die für die Blonde am Empfang eine ungewöhnliche Herausforderung darstellt. - «Und auf allen Filmen ist immer derselbe Baum sichtbar? Habe ich Sie da richtig verstanden, Herr Santi?» - «Das ist korrekt. Durch über drei Jahrzehnte hinweg aufgenommen. Selbstverständlich in allen Jahreszeiten.» «Selbstverständlich.» Ihr bleibt nicht lange Zeit, sich zu fragen, ob Herr Santi nicht ganz richtig ticke, was ihrem ersten Eindruck, dem man bekanntermassen vertrauen sollte, entsprochen hatte, da wird sie im Hintergrund von einem Kollegen angesprochen.

«Also, mit Neuneinhalb ist nichts, nur sechzehn und fünfunddreissig Millimeter. Und bei uns weiss niemand, wo man so etwas heute noch entwickelt bekommt. Es tut mir wirklich leid, Herr Santi. - Herr Halbeisen, wenn Sie hier unterschreiben würden.» Halbeisen greift sich die beiden Videobänder und die Filmrollen, während Santi seine Filmrollen zurück in die Kartons verstaut.

Draussen hat der Sommersturzregen bereits aufgehört. Halbeisen und Santi versuchen, das Transportproblem, das sie inzwischen aufgrund eines stillschweigend getroffenen, eidgenössischen Abkommens als ein gemeinsames betrachten, dadurch zu lösen, dass sie die beiden Koffer und die Pakete in einen verwaist herumstehenden, weiss Gott wo entwendeten Einkaufswagen laden. Halbeisen macht Santi auf die im Hintergrund noch immer versammelte Filmstudentenschar aufmerksam. Er zeigt ihm seine Tochter Ilena. Diese, leicht konsterniert, wirft einen Blick zu den beiden zurück. "So wie die beiden aussehen, könnten sie einem alten Schwarzweissfilm entsprungen sein", geht es ihr durch den Kopf.

Auf dem Weg zur U-Bahnstation wehrt Santi Halbeisens Versuch ab, den Einkaufswagen zu schieben. Das schafft er doch selbst! Er ist noch kein Tattergreis, dem man über den Zebrastreifen hilft. Nach einer Weile meint Halbeisen: «In der Schweiz kenne ich einen Filmtechniker für alle möglichen speziellen Probleme, zum Beispiel auch alte Filmformate. Der könnte Ihnen Ihre Filme bestimmt entwickeln.» - «Sie meinen nicht etwa den Kuster Ruedi? Doch? - Ja den kenne ich auch. Ich wollte, wenn ich schon mal hier bin, es einmal in Berlin versuchen.»

Sie haben mit der U2 ein gutes Stück zu fahren. Bis Zoologischer Garten, dann steigen sie auf die S-Bahn Richtung Grunewald um. Die Züge sind überfüllt, und viele überlassen sich dem gewohnten, allabendlichen Ritual. - "Für Werktätige könnte es eine Art Meditation sein", stellt sich Halbeisen vor. Der Leib ist gut aufgehoben, es gibt absolut nichts zu tun, als ihn in die gewünschte Richtung transportiert zu empfinden. So kann jeder zweimal im Tag richtig abschalten, die Seele dumpf baumeln lassen. Während dieser kleinen, verdösten Auszeit, zwischen festen Zeitgrenzen eingepflockt, kann sie einem aufgeschnappten Satz nachhängen oder Reime schmieden. Zum Beispiel: "Nur das für Auge, Ohr und Nas, was sie im Nu wiederum vergass."

Santi sitzt Halbeisen gegenüber und Halbeisen fragt nach dem Baum. «Es handelt sich um einen Walnussbaum. Mein Grossvater hat ihn am Tag der Geburt meiner Mutter gepflanzt. Es ist, wie wenn in unserer Familie die Pflege dieses Nusspatriarchen unseren Stammbaum am Leben erhält. Meine Mutter starb jung und so kümmere ich mich seit fünfunddreissig Jahren um ihn, obwohl der Boden, auf dem er steht, schon längst nicht mehr uns gehört.

Als ich als Kriegsreporter arbeitete, habe ich ihn über viele Jahre hinweg immer wieder gefilmt. Zuerst mit der alten Neuneinhalb-Pathé meines Vaters. Und aus irgendeinem Grund habe ich, obwohl ich später meine eigene Kamera hatte, trotzdem mit derselben Kamera weitergefilmt. Ein Umstand, der mir heute nur Ärger bereitet. Doch was sollte ich machen, mein Baum hatte sich an die alte Kamera gewöhnt.» Und schon war der Satz zwischen den Zahnreihen ins Freie geschlüpft. Santi beobachtete Halbeisen aus den Augenwinkeln, ob die unbedachte Äusserung bei Halbeisen eine verständliche Irritation ausgelöst haben könnte. Doch er konnte sich bald wieder beruhigen. Halbeisen schien ihm eher noch eine Spur aufmerksamer. So vertraute Santi ihm auch noch das Folgende an: «Die ersten Visionierungen meines Filmmaterials, von welchem Kriegsschauplatz in der Welt ich auch immer zurückkehre, pflege ich jeweils unter seinen Ästen vorzunehmen.» Daraufhin schweigen beide eine Weile und nehmen am erschöpften Schweigen der Mitreisenden wachen Anteil. Halbeisen hängt den Worten Santis nach. - "Es hat wohl keinen Sinn, dass ich ihn nach dem Grund frage", denkt er. "Entweder ist der alte Herr ein Eingeweihter oder er ist ganz einfach verwirrt oder gar ein verwirrter Eingeweihter, wenn es so etwas geben sollte. Doch was soll‘s! Irgendwie verstehe ich ihn ja."

Nun ist es Santi, der das Schweigen unterbricht. «Also in diesem Punkt wiederhole ich mich gerne: Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, dass Sie mich begleiten. Ich hoffe, dass ich einiges von meinem Gepäck in meiner Pension zurücklassen kann. Ich kenne die Inhaberin seit langem und das Beste dabei ist: Sie besitzt einen trockenen, halb leeren Keller!» - Dann erzwingt das Umsteigen am Zoologischen Garten einen weiteren Gesprächsunterbruch. Die S-Bahn steht schon. Von den schwer Beladenen wird äusserster Einsatz gefordert, wenn sie diesen Vorteil nutzen wollen. - «Einsteigen - zurücktreten bitte», und schon zieht die Elektrische an.

Im neuem, diesmal orangenfarbenen Waggon murmelt Santi, wie in ein Selbstgespräch vertieft: «So langsam nimmt es mich schon wunder, wozu unsere Begegnung gut sein soll, Herr Halbeisen! Mich zum Kuster zu bringen, kann es nicht gewesen sein. Das hätte ich auch allein geschafft.»

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