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Das Achte

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Professor Santi tritt an die Empfangstheke des deutschen Filmarchivs, denn er ist an der Reihe. Ausser Halbeisen ist sonst niemand mehr im Raum. Er stützt sich mit einem Ellbogen auf der Theke ab, was seine Lockerheit zum Ausdruck bringen soll und äusserst verkrampft aussieht. Zumindest für Halbeisen, der Santi auf einem Sicherheitsmonitor über sich erblickt. Der Monitor hängt dort, wo die Decke zwei Wände begrüsst. Halbeisen hatte sich im engen Raum umgedreht und ihn nach einer Sitzgelegenheit abgesucht. Vergeblich. Von sich selbst erblickt er im Videobild nur den Hinterkopf, was wie bei den meisten Menschen Befremden auslöst. Demnach muss die Kamera auf dem Regal hinter der blonden Dame montiert sein, die jetzt mit Santi spricht. Somit können die Mitarbeiter des Filmarchivs ihre Kunden in Augenschein nehmen, noch bevor sie sich der Theke nähern.

«Professor Santi. Aus der Schweiz.» Santi wuchtet einen verbeulten und abgeschabten Koffer auf die Theke. «Hier sind Filmoriginale, 16mm, die vor vierzig Jahren für die deutsche Presseagentur hergestellt wurden. Und das ist das Entscheidende, weder ausgestrahlt noch je in Kinos gezeigt wurden! In der Hauptsache geht es um die Aufdeckung des Flugzeugabsturzes im Kongo, bei dem Dag Hammarskjöld ums Leben kam. Damit das Material erhalten bleibt und fachgerecht aufbewahrt wird, will ich es hiermit dem Filmarchiv vermachen. Es ist ein wertvolles Geschichtsdokument und ich selbst verfüge über keine geeignete Aufbewahrungsmöglichkeit.» Halbeisen zuckt zusammen. Das letztere war nicht das beste Argument.

«Tja, das ist schwierig. Zuerst würde ich eine Einlagerungsbewilligung der Begutachtungskommission benötigen. Die kommt aber vor den Ferien nicht mehr zusammen. Sie können sich vorstellen, wir haben hier .. » « ... sehr viele Filme an Lager und hoffentlich noch mehr, die in Zukunft eingelagert werden, ich weiss», unterbricht sie Santi. «Sie sagen es. Und dann muss ich natürlich die Rechtslage abklären. Tag ... ? Wie hiess die Person schon wieder, um die es geht? Der Name sagt mir leider nichts.»

Wie Halbeisen feststellt, ist Santi bereits auf hundertachzig. - «Dag Hammarskjöld war der zweite und zweifellos bedeutendste Generalsekretär, den die UNO je hatte. Doch vielleicht haben Sie auch von der UNO noch nie etwas gehört! Doch? Sehr erfreulich. Ohne die endgültige Zustimmung von Washington und London abzuwarten, führte Hammarskjöld die UNO-Blauhelmtruppen ein. Er wurde von den feinen Herren eines Brüsseler Bergbaumultis ermordet, die sehr, sehr böse geworden waren, als die UNO-Politik ihre Geschäftserwartungen für den Kongo dämpfte. Und genau das habe ich bereits damals recherchiert, was vor kurzem erst von Bischof Tutu und seiner Wahrheitsfindungskommission in Südafrika offiziell bestätigt worden ist, die auf die entscheidenden Akte des Auftrags an die Killer stiessen. Damals war das brandheiss und dennoch wollte es kein Sender bringen, wie Sie sich vielleicht auch nicht vorstellen können.»

«Das ist alles schön und gut, Herr Professor, oder leider nicht gut genug, denn ohne Einlagerungsbeschluss bin ich nicht befugt, Filmmaterial entgegenzunehmen. Herr Santi, schauen Sie, ich gebe Ihnen schon mal das Antragsformular für eine Einlagerung mit.» - «Ich würde es mehr begrüssen, wenn Sie mir jetzt Ihren Chef holen könnten. Vielleicht ist er ja in der Lage, den Wert dessen zu erkennen, was ich dem Filmarchiv schenken will, wozu Sie offenbar nicht in der Lage sind.» - «Herr Santi, niemand haftet für unaufgefordertes Filmmaterial. Jede Woche entsorgen wir Dutzende alter Filmrollen. Unsere Arbeit läuft nun mal so, wie sie läuft und dafür gibt es gute Gründe.» - «Laufen ist gut! Die guten Gründe ebenso - verdammt, ich kenne sie! Ich habe lange genug für dieses Metier gearbeitet, länger als Sie alt sind! Glauben Sie also nicht, mich auf diese Weise abfertigen zu können. Damit kommen Sie bei mir nicht durch. Sie können sich versteifen, so lang Sie wollen, aber schminken Sie sich diesen beschwichtigenden Ton ab, als ob Sie mit einem Bekloppten reden würden!»

In diesem Moment verwandelt sich die Empfangsdame tatsächlich in einen Menschen, der Santi wenn auch kein Verständnis, so doch entfernt Mitleid entgegenzubringen gewillt ist. - "Ältere Menschen sind so rührend, wenn sie etwas Unmögliches wollen." Diesen Gedanken, der ihre soziale Reife dokumentiert, geht ihr während der im Gang befindlichen Auseinandersetzung tatsächlich durch den Kopf. Sie hält es nunmehr sogar für möglich, dass Santis Film wirklich wertvoll sein könnte. Aber was soll sie denn machen?

Und jetzt rafft sich auch Santi zusammen und ändert schlagartig seinen Ton, was Halbeisen noch mehr in Erstaunen versetzt. Das hatte er ihm doch wirklich nicht zugetraut. «Entschuldigen Sie, Sie haben ja vollkommen Recht. Alles muss seine Ordnung haben. Und es ist überdies auch kein Wunder, dass Sie mich nicht verstehen. Ich verstehe auch vieles nicht, was sich in der Welt abspielt. Doch hier, schauen Sie, ist noch etwas anderes!» - Er greift sich vom Boden den Karton, der, nicht viel kleiner als der Koffer, von der Blonden bisher unentdeckt geblieben ist und stemmt auch diesen auf die Ablage in Augenhöhe.

«In diesem Karton befinden sich unentwickelte Neuneinhalb-Millimeterrollen, die mir sehr wichtig sind, und ich erlaube mir die Frage, ob bei Ihnen eine Möglichkeit besteht, sie entwickeln zu lassen. Wie ich leider festgestellt habe, besitzt Neuneinhalb inzwischen einen grossen Seltenheitswert.» - «Nun, wir haben zwar eine Filmentwicklung im Haus, die jedoch nur interne Aufträge übernimmt. Mmh - Bitte warten Sie, ich gehe mal fragen, ob sich da etwas machen lässt.»

Die Dame kommt zurück und meint mit Seitenblick auf Santi: «Mein Mitarbeiter klärt es gerade mal ab. Einen Moment bitte», während sie mit standardisierter Aufmunterung bereits Halbeisen ansieht, was soviel wie "Sie sind dran!" heissen soll. - «Mein Name ist Hieronymus Halbeisen. Einige meiner alten Filme befinden sich im Deutschen Filmarchiv, nachdem sie vor drei Jahrzehnten an der Berlinale liefen. Ich möchte Sie gerne auslösen. Ich denke, es sollten noch zwei Filmrollen und zwei entsprechende Videobänder hier sein.» - «Jaaa?»

Da hat Halbeisen bereits seinen Personalausweis und die vorbereiteten Dokumente mit den rechtskräftigen Erklärungen von Regie und Produktionsfirma der Dame vor Augen geführt. «Aha, das scheint mir in Ordnung zu sein. Das dauert aber fünf Minuten, weil ich hinunter ins Archiv muss. Wollen Sie solange warten?» - «Na gern, haben Sie vielen Dank.»

Da warten sie also beide. Santi wie Halbeisen schauen sich im Empfangsraum um, womit sie bald fertig sind, und erblicken dabei gleichzeitig ihre Hinterköpfe oben unter der Decke. Santi winkt zum Spass Halbeisen auf dem Monitor zu. Da zieht Halbeisen seine Uhr aus der Brusttasche. «Oi, oi, - Herr Santi, ich habe etwas Wichtiges vergessen. Bitte warten Sie auf mich, ich bin gleich zurück.» - Und weg ist er.

Der Lift spuckt ihn an irgendeiner Stelle des Innenhofes aus. Über dem Glasdach haben sich inzwischen dunkle Wolken zusammengezogen. Halbeisen schlägt sich eine Bresche durch die Touristen, die vor dem einsetzenden Regen ins Trockene ausgewichen sind. Er hofft, seine Tochter Ilena zu treffen. Er weiss, dass sie heute um achtzehn Uhr die dffb verlässt. Da, er erkennt sie von weitem! Inmitten einer Gruppe von Freunden, die zusammenstehen und rauchen, steht sie ruhig da. Als sich Halbeisen der Gruppe nähert, bleibt einigen das Wort im Halse stecken. Wie er ihren Gebärden entnimmt, die hinüber zum Liftausgang weisen, hat es nichts mit ihm, sondern mit einer hellhäutigen Frau zu tun, die soeben von oben aus einem Liftschacht herunter geschwebt kommt.

Ihre kastanienbraunen Haare zeigen einen jugendlichen, unsymmetrisch gestuften Schnitt. Sie trägt einen braunroten Hosenanzug aus feiner Wolle, darüber einen untaillierten dunkelgrauen Regenmantel. Sie bleibt stehen, lässt ihren Blick über die Studentengruppe schweifen, prüft die Wetterlage, ein kühlnasser Wind stösst bereits heftig unters Glasdach, und zieht aus ihrer Handtasche ein goldseidenes Foulard. Dieses Wort fiel Halbeisen mit der Empfindung eines "déjà entendu" ein. Woher kannte er es? Wer hatte es verwendet und gibt es wirklich keine andere Übersetzung für Foulard als "Kopftuch"? Sie streift es sich also über und beginnt es zu verknoten. In diesem Augenblick bauscht ein Luftzug das Tuch und greift in den Haarschopf.

Diese in vieler Hinsicht ungewöhnliche Frau zieht die Blicke der Umstehenden auf sich. Halbeisen schätzt sie auf Mitte bis Ende dreissig, vielleicht auch mehr. Auch ihn fasziniert ihre Erscheinung. Sie fährt ausnehmend sorgfältig mit dem Anschmiegen und Knüpfen ihres Kopftuches fort. Halbeisen erlebt ihre Bewegungen wie in Zeitlupe, als würde sie auf etwas warten, was sie dabei unterbrechen soll. Ilena wiederum empfindet in diesem Moment die Kleidung ihrer Professorin Montclaire mit derjenigen ihres Vaters durch eine versteckte Korrespodenz verwandt. Seine Schuhe vielleicht ausgenommen. Ihr Vater steht in schwarzen Hosen mit kaum merklich grauen Längsstreifen vor ihr. Er trägt unter dem offenen, dunkelgrauen Leinensako ein dunkelblaues Gilet, darunter ein Hemd in derselben bordeauxroten Farbe wie Montclaires Anzug. Das Gilet ist alt. Aus feinem, bereits abgeschossenem Samt und einer kleinen Brusttasche für die angekettete goldige Taschenuhr. Ihr Vater hatte die Angewohnheit, Armbanduhren abzulehnen. - «Ein leblos tickender Mechanismus am Handgelenk interferiert ungünstig mit dem Puls», erinnert sich Ilena. Das war vor vielen Jahren, als sie noch alle zusammen wohnten.

Ilena ergreift das Wort: «Madame Montclaire, darf ich Ihnen meinen Vater vorstellen.» - Halbeisen und Montclaire stehen sich in dem locker gruppierten Menschenkreis gegenüber. Und acht Studenten werden Zeugen ihres ersten Handschlages. Das ausdrucksvolle Schweigen, das die koordinierten Handbewegungen begleitet, wird ihnen allen unterbewusst auf-fällig. Hätte man sie deswegen angesprochen, hätten sie wohl geäussert, dass sich die beiden irgendwie komisch begrüsst hätten. Auf die Frage, was daran komisch gewesen sei, hätten sie vermutlich nicht viel zu sagen gewusst.

«Ah, c'est vous, Hieronyme Halbeisen!» Halbeisen nickt energisch, sagt: "Mais oui, - oui" und schaut zum erstenmal in ihre hellen, blaugrünen Augen. Mit seinem Französisch hat er noch nie mehr geschafft als in frankophonen Landen mit Not zu überleben. Und dann fällt ihm tatsächlich noch ein "Enchanté, Madame" ein. Das "Madame" weich und in die Länge gezogen.

Die Jugend staunt, wo doch eigentlich das einzig Erstaunliche nur darin liegt, dass Madame Montclaire den Vornamen von Ilenas Vater kennt. Nicht einmal Halbeisen ist es aufgefallen. Er schaut in ihre sanften und gleichzeitig selbstbeherrschten Augen, und sie hält seinem Blick mit beseeltem Interesse stand. Er bemerkt jetzt auch ihre kaum sichtbaren Sommersprossen, die wie ein hintergründiges Schmunzeln über Nase, Wangen und den Mund herum ausgestreut sind. Und Isabelle Montclaire schaut jetzt so, wie sie schauen würde, wenn sie ganz allein wäre und den Anblick einer neuen Landschaft geniessen wollte und dazu ewig Zeit hätte. Der Kontrast zu ihrem Schulauftritt von vorhin macht auf ihre Schüler einen verwirrenden Eindruck.

Plötzlich scheint sie wieder in die volle Wachheit zurück zu schrecken, und gibt sich fast mädchenhaft schüchtern. «Alors, au revoir monsieur!» "Wo geht sie denn jetzt hin", fragt sich Halbeisen, während er sich leicht benommen verabschiedet.

Dann wendet er sich Ilena zu. «Liebes, wie abgemacht komme ich noch bei dir vorbei. Aber es wird etwas später. Ich begleite noch Professor Santi nach Haus. Er wohnt im Westen drüben am Savignyplatz.» - Und schon rennt er wieder ins Filmarchiv zurück. Ilena kommt aus dem Staunen nicht heraus. Ihre Frage: «Wer ist Santi?», hört er noch. Er dreht sich um und seine Handbewegung bedeutet: "Später!"

Und bereits ist er in einem Pulk Japaner verschwunden. Von oben kracht der Donner durchs Glasgewölbe. Blitze erleuchten die überdachte Bar Marlene.

HIERONYMUS

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