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Das Dreizehnte

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Nachdem Halbeisen die Berliner Filmstudenten in ihrer Wohnung verlassen hatte, blieb die Gesprächsrunde noch lange aktiv. Ilena und Valentin waren die letzten, die den Weg in ihre getrennten Betten fanden. Als Ilena Stunden später noch immer damit beschäftigt war, einzuschlafen, dämmerte es bereits. Es war der Moment, wo ihr Vater auf der Zugfahrt etwa auf der Höhe von Mannheim aus dem Munde von Professor Santi zum ersten mal etwas Genaueres über den Tode seiner Frau Sybille und Ilenas Mutter erfuhr.

Von abflauenden und neu entfachten Gesprächen rund ums Thema Weltanschauung begleitet, hatte sich der Abend unmerklich in einen neuen Tag verwandelt. Die Gesprächsteilnehmer waren durch die anregende Wirkung von Marks Turbobautätigkeit mental beflügelt oder zumindest in einem Masse aufgekratzt, dass an Schlaf nicht zu denken war. Ein weiterer Grund für die Ausdauer, die sie für jenen Gesprächsmarathon an den Tag legten, ging von dem Druck aus, den sie durch Madame Montclaires Ferienaufgabe verspürten und durch ihre wilde Phantasietätigkeit verstärkten.

Ilena: «Muss man sich denn überhaupt an eine Weltanschauung erinnern können, um eine zu haben? Kann man nicht auch eine haben oder meinetwegen anwenden, ohne sich einer solchen bewusst zu sein?» - Jens: «Bestimmt, wie sonst könnte dir deine eigene Weltanschauung deutlicher werden, wenn sie dir schon immer als solche bewusst wäre. Je älter du wirst, um so deutlicher wird sie dir, nicht, weil du sie dann erst erfindest, sondern weil du entdeckst, welche dich schon seit jeher unterbewusst bestimmt hat.» - Ilena: «So siehst du das? Na ja, vielleicht hast du recht. Aber woher hast du sie? Sag jetzt bitte nicht: Geerbt. Denn wenn mich etwas abtörnt, dann sind es Marks Weltanschauungsgene!»

An diesem Punkt meldete sich zum erstenmal Valentin zu Wort. «Ich mache mal einen Vorschlag, um das Problem etwas rationaler anzugehen. Klären wir doch zuerst einmal den fraglichen Begriff. In diesem Punkt bin ich mit Montclaire vollkommen einig. Wie sie begreife ich Weltanschauung als eine Strukturfolie, mit der das Individuum unterbewusst seine Meinungen, Bewertungen, Urteile vorprägt.»

Inge: «Wie meinst du? So eine Art mentale Backform?» - «Genau, oder so ungefähr. Ich mach ein Beispiel: Jeder hat gesehen, dass Ilena ein Problem mit ihrem Daddy hat. Aber ich bin mir sicher, dass jeder dieses Problem anders sieht und anders beurteilt. Und obwohl wir gar nicht darüber geredet haben und ich jetzt auch gar nicht im Sinn habe, darüber zu reden, könnten wir, denke ich, ziemlich genau sagen, was jeder von uns dazu sagen würde, wenn wir darüber reden wollten. Wir kennen einfach mehr oder weniger die Art, wie jeder von uns zu irgend etwas Stellung nimmt. Und die gefühlsmässige Eigenart, die für jede Meinung Ausschlag gebend ist, fällt eben nicht vom Himmel. Dahinter steckt der ganze Wust von Betonungen und Bevorzugungen, dem einen ist dieses wichtig, ein anderer wiederholt immer wieder jenes, oder auch der Vorurteile, die sich bei einem irgend wann mal eingeschlichen haben. Unter Vorurteilen verstehe ich nicht nur definitiv falsche Vorstellungen, sondern auch unbegründbare Meinungen. Also ziemlich viel von dem, was wir denken und sagen, ohne dass es uns dabei klar wäre, dass es sich um leere Behauptungen handelt, in denen wir zum Ausdruck bringen, dass wir an sie glauben. Sie stellen den Senf dar, den jeder zum Ganzen abgibt.»

«Du meinst also, dass alle Unterschiede in unbewussten Konditionierungen begründet sind?», fragte Inge nach. - «Alle Weltanschauungen sind relativ, aber dennoch musst du eine haben. So etwa? Das tönt nicht sehr anregend. Da lob ich mir denn noch die Weltanschauungsgene, von deren Existenz ich gar nichts wissen muss. Kann man nicht auch auf eine Weltanschauung verzichten? So wie die indischen Gurus, für die eine Weltanschauung nichts anderes als ein Phänomen westlicher Beschränktheit ist, einer der unzähligen Formen, sich mit den Ketten der Verstandestätigkeit selbst zu fesseln. Ein erleuchteter Guru diskutiert ja nicht, sondern verströmt kraft seiner Vereinigung mit dem Unaussprechlichen Frieden und Harmonie.» - «Und harmonisiert damit auch seine Finanzlage. Inge, wieso kennst du eigentlich diese Nirvana-Junkies so gut? Das klang sehr authentisch und gibt mir zu denken! Nimm dich vor denen bloss in Acht, Mädel. Was ich über Weltanschauung sagte, war nicht nur pessimistisch gemeint. Denn immerhin existiert in jedem von uns eine spezifische Form des Selbstbewusstseins mit einer passenden, weltanschaulichen Grundstruktur, die unseren Gedanken oder auch unserer Gedankenlosigkeit ein individuelles Gepräge verleiht! Der Gedankencharakter östlich infiltrierter Verächter begrifflicher Aktivität verrät ihre überall gleich schwammige, für jede weltanschauliche Selbstständigkeit untaugliche Grundlage.» - Inge: «Spassige Vorstellung das: Gedankencharakter. Ich glaube, ich habe keinen.» Das war das erste Votum, bei dem sich alle anderen ziemlich sicher waren, dass es falsch war.

Nun meldete sich Niki mit einem Gedanken zu Wort, der schon vielen früheren philosophischen Exkursen den Todesstoss versetzt hat. «Ich wollte vorhin nur sagen, dass Tiere bestimmt keine Überlegungen anstellen. Stell dir mal ein Pferd vor, das auf die Weide rennt und sich sagen würde: "Aha, da steht wieder dieser Apfelbaum mit seinen Riesenäpfeln. Und weil der Bauer sie nicht heruntergeholt hat, so muss ich höllisch aufpassen, wenn ich mich in seinen Schatten stelle. Sonst knallen sie mir auf den Schädel." - Valentin, das wäre doch Blödsinn, sich so etwas vorzustellen! Und wieso? Weil Tiere nicht erinnern, brauchen sie weder zu über-legen noch sich sonstwie Sorgen zu machen. Und gerade deshalb leben sie in Harmonie mit der Welt und deshalb weiss ein Pferd auch nicht, dass es ein Pferd ist und weiss somit auch nichts über eine ausserpferdliche Welt und braucht auch keine Weltanschauung. Warum muss das beim Mensch auf Teufel komm raus eigentlich so ganz anders sein, häh?»

Valentin stöhnte unmerklich. Dabei ging ihm das folgende durch den Kopf: "Wieso kommt sie jetzt mit dem Pferd? Ist ihre geheime Mission: Werdet wie die Pferde und ihr werdet das Himmelreich erlangen? Was hat das mit demjenigen zu tun, worüber wir gerade geredet haben? Was ist denn das für eine Weltanschauung, nie zu wissen, worüber garade geredet wird?" - Daraufhin galoppierte Mark, auch nicht gerade eine Leuchte der Wissenschaft, zusammen mit Niki hinaus in den grünen Klee: «Niki, ich versteh nicht, was daran so schlimm sein soll, wenn die Tiere keine Weltanschauung haben? Im übrigen stellt sich das Pferd nicht immer wieder unter denselben Baum, wenn es sich dort verletzt hat. Es kann sich sehr wohl erinnern. Dazu braucht es noch lange kein Selbstbewusstsein oder eine Weltanschauung. Ich würde ja auch nichts verpassen, wenn ich nicht wüsste, dass ich Rumpelstilzchen hiesse. Ich meine, wenn ich echt Rumpelstilzchen wäre.» - «Ich sagte doch gerade, dass ich das gut finde, ohne Weltanschauung. Man kann doch sehr wohl weltanschauungslos Filme machen! Das müssen wir Madame Montclaire einfach beibringen, dass den weltanschauungslosen Filmen die Zukunft gehört!»

Valentin schätzte die beiden als reichlich zugedröhnt ein. Zudem hegte er eine zu niemandem bisher geäusserte Sympathie für Isabelle Montclaire. Sie hatte ihn bereits im ersten Moment, als sie ihnen vorgestellt worden war, von sich eingenommen. Wie sie ruhig da stand und sich der allgemeinen Nervosität entgegen gestellt hatte. Das schönste schien ihm, wie sie es schaffte, genau zuzuhören und dabei dennoch wie abwesend zu wirken! So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Und in den Klang ihrer Stimme war er förmlich verliebt und in ihre gleichzeitig unbeholfene wie treffsichere Wortwahl. Und dann ihre Gestalt! Wenn Ilenas Beziehung zu ihm leidenschaftlicher wäre, so hätte sie allen Grund, auf Montclaire eifersüchtig zu sein.

Trotz seiner innigen, an Madame Isabelle, wie er sie insgeheim nannte, gerichteten Gedanken, war es ihm nicht vergönnt, sich aus dem Zeugenstand der Gesprächsfortsetzung zu befreien. Soeben war Mark wieder an der Reihe: «Im übrigen ist dein Urteil über Pferde ziemlich faschistisch. Es ist ein Symptom für deine eigene, besserwisserische Weltanschauung. Denn obwohl du wie du zugibst nichts über deine eigene Weltanschauung weisst, bist du plötzlich Experte für pferdehaftes, oder wie soll man dem sagen, pferdliches Bewusstsein.» - Niki: «Ich habe überhaupt nichts beurteilt. Ich habe nur gesagt, dass ein Pferd kein Selbstbewusstsein und damit auch keine Weltanschauung hat. Das ist eine Wiedergabe von Tatsachen. That's all.» - Mark: «Du hast verdammt noch mal recht. Was du da soeben gesagt hast, ist weniger als eine Beurteilung. Es ist eine leere Behauptung über etwas, wovon du keinen Schimmer haben kannst. Oder bist du plötzlich zu einem Pferd mutiert? Haben wir da etwas verpasst, Niki?»

Inge, noch nicht von allen guten Geistern verlassen, unternahm mit unzweckmässigen Mitteln den Versuch, die lose herunter hängenden und sich dennoch verwirrenden Redefaden auf irgendeine Spule zu wickeln. - «Niki, entschuldige bitte, es war nicht vom

Selbstbewusstsein der Tiere die Rede, in die wir uns nun einmal nicht hinein versetzen können, sondern über die Weltanschauung, die sich ein Mensch macht oder die er hat. Und genau das: ob er sie einfach als gegeben vorfindet oder ob er für ihre Ausgestaltung, ihren Inhalt verantwortlich ist, war meines Wissens die Frage.»

Nun kam noch Jens schlichtend zu Hilfe, was selten gut ging. - «Niki wollte doch nur sagen, dass ein Gaul die Welt ohne das berühmte "Ich denke, also bin ich" erlebt. Und ich habe sie so verstanden, dass sie sagen wollte, dass das Pferd ohne das pooplige Selbstbewusstein viel glücklicher ist als mit einem solchen. Denn wozu sollte er so etwas auch nötig haben? Damit es wissen kann: Ich bin ein echtes Pferd und kein Schaukelpferd? Was für ein Bewusstseinssprung wäre das denn?» - Eine Flutwelle der Sympathie schwappte von Niki zu Jens hinüber. Sie hätte es nicht treffender formulieren können!

Doch nun peitscht Ilena, die sich sonst meist zurückhält, die Wogen des Widerspruchs weiter auf. Valentin traut seinen Ohren nicht. Versucht auch sie nun, witzig zu sein? - «Komm schon Jens, natürlich weiss das Pferd ganz genau, dass es ein Pferd ist, auf jeden Fall weiss es mehr davon als du weisst, was oder wer du bist, würde ich mal behaupten. Wenn dem nicht so wäre, würde es nie und nimmer seinen Reiter abwerfen, als Schaukelpferd zum Beispiel. Wie könnte es ohne Selbstbewusstsein wissen, was es will oder nicht will.»

Damit ist der Punkt erreicht, bei dem Valentin das Gespräch definitiv für unergiebig erklärt und genervt den Raum verlässt. Dass sich auch noch Ilena in diesen Blödsinn einmischen musste! Mark hält die gespannte Atmosphäre auch nicht mehr lange aus, nur kann er sich nicht vorstellen, dass es ihm alleine besser ginge. - «Kommt Kinder», meint er, «lassen wir's. Die Viecher bringen es auch nicht. Wenn ich zuviel denke, beginne ich schwer daran zu zweifeln, ob ich überhaupt noch bin. Also zurück zu Kant, der bereits sagte: "Ich kiffe, also bin ich!"»

Jens, der sich über Marks masslosen Haschkonsum am meisten Sorge macht, fühlt sich nun zur Richtigstellung herausgefordert: «Mark, entschuldige, aber deine Ganja-Sucht hat mit keiner Weltanschauung etwas zu tun. Valentin, der uns soeben überstürzt verlassen hat, hat uns zuvor erklärt, dass Weltanschauung eine Urteilsform ist. Und wenn du bekifft bist, bringst du keine vernünftige Beurteilung auf die Reihe. Im übrigen war es Descartes und nicht Kant, den du zitiert hast.» - «Willst du mich beleidigen, Blödmann, deinen besten Freund! Ich soll also wegen ein paar Cannabisblättchen mein Urteilsvermögen verloren haben! Geht's noch! Nenn irgend etwas, was ich beurteilen soll! Irgendwas.» - «Ach komm schon, Mark, ich bitte dich!»

Ilena war durch den Abgang Valentins missmutig geworden und knüpfte sich nun Jens vor, der Mark mit aufgesetztem Mitleid soeben als unterbelichtet abgestempelt hatte. - «Jens, vergiss nicht, dass Madame beim nächsten mal von dir etwas Vernünftiges über den Unterschied von Filmautor und filmischem Entertainer hören will.» - «Darauf kann sie lange warten, denn dieser Unterschied existiert nur in ihrem Kopf. Sie erwartet doch nicht, dass sie mit ihrer Moral die ganze Filmbranche aufmischen kann. Über einen Film, der nicht unterhaltsam ist, brauchen wir gar nicht zu sprechen. Wer schaut sich schon einen Film an, der nicht unterhalten will? Und wenn sich jemand mit den weltanschaulichen Positionen eines Filmautors unterhalten lassen möchte, so muss e r das begründen, nicht ich. Und genau dies wird Madame von mir zu hören bekommen!» - «Damit wird sich die Montclaire bestimmt nicht zufrieden geben, das kann ich dir prophezeien. Sie wird von dir eine Erklärung darüber erwarten, warum du etwas unterhaltsam empfindest und anderes nicht. Und dabei wird sie dich mit Sicherheit dazu auffordern, bei deinem persönlichen Filmspass die Färbung durch deine gedanklich erinnernde Aktivität oder auch ihre Abwesenheit mit zu berücksichtigen. Du kennst sie doch inzwischen. Erinnere dich, das Gespräch ging in ihrem Seminar schon einmal in diese Richtung. Sie hat mit einer Frage an dich abgeschlossen. Sie sagte, wenn ich mich richtig erinnere, in ihrem Privatdeutsch: "Herr Brockmann, Sie sagen demnach, dass ein guter Film ein Film ist, der Sie persönlich unterhält und dass Sie sich meistens durch diejenigen Filme am besten unterhalten lassen, welche jeweils die grössten Kassenschlager sind. Und das sind sie, weil sie die Mehrheit unterhalten, und dass die für eine Minderheit gedrehten Filme meist schon deshalb schlechte Filme sind. Haben Sie wirklich nichts Inhaltliches zu diesem Thema beizutragen?" - Jens, ich fürchte, das nächste Mal will sie nicht dasselbe nochmals von dir hören wollen.» - Das brachte Jens zum Verstummen. Er grübelte vor sich hin und entschloss sich, sich für zukünftige Gesprächsangriffe von Seiten der Montclaire mit gut vorbereiteten Argumenten zu wappnen. Und die wollte er sich bei der erstbesten Gelegenheit zurechtlegen. Jetzt war dafür definitiv nicht der richtige Zeitpunkt.

Inzwischen hatte sich Valentin wieder zu den anderen gesellt. Ilena tauschte den Küchentisch mit der Wohncouch unten und schob eines der Videotapes ihres Vaters in den Player. Mit dem steil abflachenden Interesse am Gespräch auf der Küchenplattform lief für Jens, Inge, Mark und Niki die dankbar registrierte Ablenkung durch verschiedene Bildsequenzen des Halbeisen-Videos parallel. Es wurde zusehends stiller. Auf dem Bildschirm sprang ein schwarzer Hund in Zeitlupe über einen Gartenzaun. Ein junger Mann erwachte in einem Gewächshaus. Ein hochgeschossener Perser in einem Kapuzenmantel übergab dem jungen Mann ein altertümliches Pergament, das dieser nicht verstand.

Jens rief hinüber: «Ilena, was ist das für ein ausgeflippter Streifen, den du dir da ankuckst? Ist der ganze Film so, oder ist das jetzt nur diese Stelle?» - «Pssst! Ich sehe ihn auch zum ersten mal. Mein Vater hat doch früher Filme gemacht. Er hat mir vorhin einige davon vorbei gebracht.» - Nun wechselten alle von den harten Barhockern hinunter ins weiche Kissenpfühl. «Wann war das?», fragte Mark und fügte hinzu: «Das ist Farbe, also muss es nach dem Krieg gewesen sein.» - «1968.» - «Wow, 68! Danach sieht es wirklich aus.»

Auf dem Bildschirm sind jetzt in Decken gehüllte Körper zwischen umgefallenen Grabsteinen zu sehen. Die Toten werden in eine schäbige Holzhütte getragen, die sich in der Mitte eines verwahrlosten Friedhofs befindet. In der Holzhütte öffnet sich ein unterirdischer Gang, den der junge Mann von vorhin vorsichtig betritt. Er hat etwas auf den Augen, das wie grössere Augen aussieht, wie von einer Kuh. Die reibt er sich an der Tunnelwand ab.

Niki fragt jetzt nach den anderen Videos und wie viele Filme ihr Vater sonst noch gemacht und wann er damit aufgehört habe, bis sie endlich merkt, dass es Ilena nicht nach Infoaustausch zumute ist. Sie geht an den Bildschirm und friert das Bild ein. Ihr Vater in jungen Jahren, nun regungslos auf einem beliebigen Standfoto, müde und schlecht beleuchtet. «Ist er das, Ilena?» Sie bestätigt es kaum merklich, während alle von der Feststellung betroffen sind, dass ihr eine Träne über die Wange läuft. Valentin nähert sich ihr und setzt sich neben sie. «Was ist es denn, meine Liebe?», flüstert er ihr ins Ohr. Ilena zuckt zusammen. Diesen Ausdruck hat er noch nie zuvor verwendet.

Sie beginnt stockend: «Ich weiss, dass ihr ihn nur kurz gesehen habt. Aber wie habt ihr ihn denn erlebt? Ich habe mit Blinker telefoniert, bei dem er bereits gestern ausgezogen ist. Blinker meinte, er hätte sich eigenartig verhalten. Morgens sei er lang im Bett geblieben. Abends dann wäre er jeweils aufgeblüht und ganz angenehm gewesen. Doch sei er immer wieder auf den Zustand der Verstorbenen zu sprechen gekommen. Wenn man nicht wisse, wie die Toten lebten, sei man im Leben orientierungslos, hätte er einmal gesagt. Irgendwelche Kräfte, für die man blind sei, würden einen vom Kind ins Greisenalter durchschieben, sofern man überhaupt alt werde. Und ob man dabei vieles oder gar nichts tue, sei vollkommen egal. Auf jeden Fall hat sich Blinker Sorgen um ihn gemacht.

Er hat nichts von dem gemacht, was er in Berlin tun wollte. Stellt euch vor, Blinker hat ihm sogar angeboten, ein Drehbuch für ihn zu schreiben. Sehr gut bezahlt, ein Stoff, der auf ihn wie zugeschnitten sei, meint Blinker. Nur um ihm zu helfen! Und ohne eine Sekunde zu überlegen hat er es abgelehnt! Herr Blinker hat mich gebeten, ihm sein Angebot im Interesse meines Vaters nochmals in Erinnerung zu rufen.

Und eines Tages hat er offenbar seine alten Filme aus dem Archiv geholt. Und lässt sie hier und gibt mir für seine Verhältnisse viel zu viel Geld. Und verabschiedet sich wirklich sehr merkwürdig. Ihr habt es doch mitbekommen!» - Ilena fürchtet, dass sie den aufsteigenden Tränen bald hilflos ausgeliefert sein könnte und flüchtet in ihr Zimmer. Schluchzend gesteht sie Valentin, der ihr gefolgt ist: «Weisst du, ich denke in letzter Zeit oft, dass er sich etwas antun will. Das würde vieles erklären! Doch vermag ich nicht herauszufinden, ob ich mir das alles nur einbilde, oder ob ich etwas tun muss.»

HIERONYMUS

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