Читать книгу HIERONYMUS - Reto Andrea Savoldelli - Страница 7

Das Dritte

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Nun wird es endlich Zeit, dass ich Euch meinen Menschenschützling vorstelle. Soeben ist er den Falten meines Seelengewandes, in die ich ihn jede Nacht hülle, entglitten. Einmal mehr verkörpert er sich im Erdenleib, wie er es, solange er lebt, nach jedem Schlafe tun wird. Seitdem die grossen Götter Tag und Nacht geschieden haben, bedarf er wie jeder Mensch jener tagtäglichen, sinnengebundenen Verengung des Bewusstseins. Was für ihn ein Tageslauf ist, bedeutet für mich ein Atemzug zwischen erwärmendem Erglimmen und kühlendem Erblassen.

Jeden Morgen dringt seine Seele tiefer in den Leib ein. Im Verlauf des Lebens presst sie ihn förmlich aus und könnte sich dabei der Macht des Geistes bewusst werden, den Zerfall des Körpers zu überdauern. Die Gegenkraft, die seinen Leib in einigen Jahren sterben und zerfallen lässt, ist schon lange am Werk. Sie ist der Inbegriff der von Menschen vorgestellten Naturgesetze. Sie werden Herz und Gehirn, Leber und Lunge, Magen, Nieren, den ganzen Knochenbau und alles, was meinem Schützling seine sinnliche Gestalt verleiht, eines Tages den Kräften des Kosmos zurückgeben. Ich werde mich mit ihm dann mitverwandeln. Denn ich bleibe an seiner Seite.

Diesen Morgen scheint es für meinen Menschen schwieriger als sonst zu sein, sich in seiner Sinnenwelt zurecht zu finden.

«Was ist das hier, wo ich bin?», fragt es sich in Halbeisens aufhellendem Bewusstsein. Er liebt es, sich ohne Unterstützung seiner äusseren Sinne zurechtzufinden. Die Augen zu öffnen, würde die Poesie zerstören, die ihr Zelt hart am Abgrund zwischen Schlafen und Wachen aufstellt. Der physische Raum mit seinen Gegenständen und unter ihnen der eigene Leib, in dessen vorgefertigter Behausung sich seine Seele wiederum einzurichten beginnt und worin, wie die innerste der russischen Babuschkas, Hieronymus Halbeisen zu seinem irdischen Selbstempfinden erwacht.

Seinen Rücken fühlt er wohlig dumpf in eine satt gepolsterte Ecke gedrückt, von der er weiss, dass ihre Oberfläche ledern ist und die Farbe der Rosskastanie besitzt. Er sieht die glänzenden harten Nüsse aus ihren wehrhaften grünen Panzern blinken. Sie passen gut zur edlen Couch, so wie sie auch zu Blinker, seinem Berliner Bekannten und Eigentümer jener Couch passen.

Eine Türklingel muss ihn geweckt haben, denn sein Traum war damit zu Ende gegangen, dass ein ihm unbekannter Mann einen Wecker, der nicht funktionierte, voller Zorn an die Wand warf, was ihn in ein wiederholt schrilles Gepiepse versetzte. Inzwischen ist Halbeisen bereits verständig genug, um den Ursprung des Pieps-Pieps nicht im geträumten Wecker, sondern hinter seinem Rücken im Eingangsbereich des Blinkerschen Besitzes orten zu können.

Er hört zuerst Schritte, dann Worte und fühlt einen kalten Lufthauch über seine Wange streifen. - «Da kommt ihre Unterschrift hin» und dann «Danke» und «Tschüss.» - Und für Hieronymus ist nun alles klar. Er erwacht auf dem Nachtlager, das sich in einer Ecke des Büros des Filmregisseurs Horst Blinker befindet, der ihm dort eine Couch zugewiesen hat. Die er benutzen darf, solange er eben in Berlin zu bleiben gedenkt.

Hieronymus hat lang und tief geschlafen. Schwungvoll stellt er sich in die Vertikale. Die wie ein Blitz sich bildende Vorstellung, heute zurückzufahren, bekräftigt er mit zustimmendem Gefühl. Er freut sich auf den letzten Tag in der deutschen Hauptstadt. Und auch, dass er bald von Blinker loskommt. Er hört, wie sich die Glasschiebewand - pffft, pffft -, von alleine öffnet und wieder schliesst. Sie trennt Blinkers grosses Büro, das er gestern abend doch wirklich "Headoffice" genannt hat, von den sich anschliessenden Studioräumlichkeiten.

«So, - gut geruht der Schwiizer!» und zu seinen beiden Mitarbeitern, die den Raum hinter ihm betreten haben: «Und da soll mal einer sagen, dass die Post langsamer sei als UPS. Das muss die neue Sony sein!»

Die letzte Nacht hat Hieronymus in seinen Kleidern geschlafen. Das Gespräch mit Blinker hatte ihm ziemlich zugesetzt. Sein Gesprächspartner hingegen muss sich nach einigen Gläsern Rotwein sehr wohl gefühlt haben. Zu wohl, als dass sich Hieronymus zu angemessener Stunde einfach hätte zurückziehen können. Wohin auch, wenn er in dessen Büro schlief. Einem Gast, dem er das Hotel erspart hatte, auch noch seine Ruhe zu gönnen, überstieg entschieden Blinkers Vorstellungsvermögen.

Hieronymus müht sich nun mit dem Überstreifen seiner Schuhe ab, die er unter dem Glastisch hervor fischt. Sein Blick schweift über die mit Zeitschriften und Büchern, mit welken Vasenblumen, Essensresten und mit einer ganzen Anzahl von Fernbedienungsapparaten belegten Tischoberfläche. Dabei fällt sein Blick auf ein Buch, das er gestern nicht beachtet hat: "The Cathars and Reincarnation". Er zieht es näher an sich heran.

«Ja, schau es dir ruhig an, mein Lieber. Auf der Grundlage dieses Buches soll ich einen Spielfilm über Reinkarnation drehen. Blöd so etwas, warum komm ich erst jetzt darauf zu sprechen! Kennst du vielleicht einen Doktor Haug, Attila Haug?» - Hieronymus murmelt eine Verneinung. «Der wohnt irgendwo bei dir unten im Dreiländereck. Also dieser Haug will den Film produzieren. Und die Finanzierung sei bereits gesichert, behauptet er wenigstens. Ein gefundenes Fressen und ein gemachtes Nest! Das gibt es nicht alle Tage, Kollege!»

Halbeisen hört nur mit halbem Ohr zu. Er hat soeben an etwas ganz anderes gedacht. In welcher Welt, mit welcher Leiblichkeit bewegen sich Menschen im Traum? - "In gewöhnlichen Träumen empfinde ich mich jeweils wie ein verwischtes, kaum fühlbares Zentrum, wie eine halbbelebte Kamera mit einer geringen Dosis von Selbstbewusstsein. Doch habe ich mich auch schon im Traum von aussen gesehen. Und dabei gewusst, dass ich im Moment träume. Was für einen Leib hatte ich denn in einem solchen Moment?" - Doch macht sich Halbeisen auch klar, dass er noch nie davon geträumt hat, sich im Traum von aussen dabei zuzusehen, wie er sich in einem Spiegel anschaut. Könnte man so etwas träumen, ohne dabei aufzuwachen?

Blinker hat ihm die letzten Tage einfach zu viel erzählt. Hieronymus hat Mühe, ihm die geschuldete Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Er blickt auf die Bücherwand, die früher einmal wohl tatsächlich Bücher enthalten hat. Jetzt sind ihre Regale mit dicken Videokasetten und dünnen DVD's vollgestopft. Sein Blick schweift einmal mehr über die hinter Glas gehängten Bilder, auf grafisch aufgemotzte Fotos aus New Yorks Downtown. Vor einigen Jahren hatte er Horst einmal beleidigt, als er ihnen gegenüber von "Freejazz-Kitsch für Küchendesigner" gesprochen hatte.

«Das Drehbuch soll auf der Grundlage dieses Buches verfasst werden. Es enthält den Tatsachenbericht eines englischen Psychiaters, dem eine Patientin offenbart, dass sie sich aus einem früheren Leben kennen würden. Und zwar hätten sie damals als Ketzer in Südfrankreich gelebt - als Katharer, verstehst du. Von denen hast du sicher schon gehört?» - Blinker sagt das in einer Erwartungshaltung, die Hieronymus früher genervt hatte. Ihr zufolge war er das wandelnde Lexikon, wenn es um mystische und okkulte Dinge ging. Nun ja, mit den Katharern hatte er sich wirklich schon auseinandergesetzt, und so nickte er beiläufig.

«Der Psychiater findet das Ganze zunächst Ballaballa, muss sich dann aber, durch eigene Recherchen dazu bewegt, von der Wahrheit der Mitteilungen seiner Patientin überzeugen lassen. Denn anders sind seine neuen Erkenntnisse nicht zu erklären.» - Da Blinker bei Hieronymus keine Reaktion ausmachen kann, macht er mal so weiter, wie er begonnen hat.

«Naja, was immer man davon halten will, eine Superstory könnte es allemal werden. Bedenke doch: eine Liebesgeschichte über Jahrhunderte hinweg, Sex und Sekten, Verrat und Märtyrertum, diabolische Inquisitoren, Blut und Folter, alles, was es für einen spannenden Plot braucht. Und natürlich Scheiterhaufen! Diese Katharer sind hip wie nie zuvor! Ich habe mich in Südfrankreich selbst davon überzeugen können. Weit populärer als zum Beispiel die französische Fussballnationalmannschaft, wenn man sich das überhaupt vorstellen kann!» - Halbeisen konnte und so warf Blinker seinen dicksten Köder aus: «Mann, deine früheren, du entschuldigst, Hokuspokus-Themen werden immer beliebter. Die Story gehört ganz entschieden in dein Ressort. Hören Sie jetzt einmal genau hin, Herr Halbeisen, was ich Ihnen anbieten will: Ich überlasse dir das Drehbuchschreiben. Fünfzehn Tausend bekommst du sofort, nochmals fünfzehn Tausend bei Ablieferung. Euro, nicht Fränkli. In diesem Buch ist doch schon alles drin, du musst es nur dramaturgisch auffädeln. - Ich könnte es auch von irgend jemanden schreiben lassen, es gibt in Berlin genügend smarte Schreiberlinge. Doch warum sollte ich, wenn ich schon einen Experten für Okkultismus beherberge. Ich selbst bin noch einige Monate mit meinem finnisch-israelischen Filmprojekt beschäftigt, ich schaff das nicht auch noch. Und all die Stunden vor dem Computer, nee. - Also, Hiero, alter Knabe, was meinst du! - Für dich ist es keine grosse Sache, daraus eine spannende Story zu drechseln, die für die Kamera taugt und die so rattenscharf ist, dass wir eine grosse Werbesumme einsparen können, wenn es dir gelingen könnte, den Klerus zu einer Stellungnahme zu reizen. - Und nebenbei fände ich es als Pflege unserer Freundschaft echt toll, wieder einmal ein Ding mit dir zu drehen.» - Blinker liebte die Doppelbedeutung dieses Ausdrucks, den er oft verwendete. Im übrigen erinnerte sich Hieronymus nicht, dass sie je etwas schon zusammen "gedreht" hätten.

Horst Blinker ist während dessen an den sitzenden Halbeisen herangetreten und klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. Wahllos beginnt Hieroynmus Halbeisen in dem Buch, das er bereits in Händen hält, zu blättern. Er liest: «Tom is the one I am in love now, and we could be happy, if we married. But deep in my heart I am still full of love for that man in my dreams. I feel I belong to him and to no one else.»

«Heisst das, dass die Liebe zu einem längst Verstorbenen alles überschattet? Dass die Frau in ihrem gegenwärtigen Leben jedes mal, wenn sie sich verliebt, dies als einen Treuebruch empfindet?» - Blinker: «Ja genau. Also ich denke schon, dass es das heissen könnte. Wir hätten es mit einem Verständnis für eheliche Treue zu tun, die katholischer ist, als der Papst erlaubt. Ich meine, sie führt auch zu Schwierigkeiten bei der Sicherung des Nachwuchses. Also, so genau habe ich das alles noch nicht gelesen. Aber wenn du sagst, dass es da drin steht, dann wird es sicher so sein. Und mit dem ersten Satz, den du liest, lieferst du ein weiteres cooles Motiv, an das ich selbst noch gar nicht gedacht habe!»

Blinker hatte wirklich keine Ahnung. Hieronymus bindet sich den zweiten Schuh zu, wobei er sich unter das Glastischchen bücken muss. - «Daraus könnte schon was werden, Horst. Ich würde es an deiner Stelle machen, wenn du kannst.» - «Ich würde es machen, wenn du kannst! Das ist wieder mal original Halbeisen. Mann, du sollst es machen, du! Nicht ich. Also, wenn du Bedenkzeit brauchst, so geht das in Ordnung. Doch überlege nicht zu lange. Die Sache eilt, und du kannst dir vorstellen, dass es in Berlin nicht wenige gibt, die für den genannten Betrag sich ein verdammt gutes Drehbuch aus den Fingern saugen würden.»

Hieronymus unterdrückt seinen Seufzer nicht gänzlich. Dabei greift er sich seinen bereits gepackten Reisekoffer und macht Anstalten, sich zu verabschieden. Mit gedrückter Stimme schiebt er die erwartete Erklärung doch noch nach: «Wie oft muss ich eigentlich wiederholen, dass alles, was mit der Filmerei zu tun hat, für mich passé ist!»

Blinker schreitet eilig hinter die Theke zu seiner schicken Sanfreddo- Espressomaschine, die in ihrem Chromgefunkel eine Zierde für jede mittelgrosse italienische Bar abgeben würde. Er will einfach nicht gehört haben, was er einmal mehr von Hieronymus vernommen hat. Denn so etwas kann nur ein vorübergehend Verwirrter sagen. - «Ich weiss ja nicht, wo du deine Kohle hernimmst, und es geht mich auch nichts an. Nur, falscher Stolz ist hier wirklich fehl am Platze. Verstehst du denn nicht, dass das eine Supergelegenheit ist, lustvoll dreissig Riesen abzuräumen. So wie ich dich kenne, bin ich mir sicher, dass dir das Spass machen würde. - Ich will dir doch nur helfen, Mann!»

Als Blinker bei der Kaffeemaschine steht, nutzt Halbeisen die Gelegenheit, Blinkers Mitarbeiter, den Kamera- und den Tonmann, zu beobachten. Sie sind damit beschäftigt, den Inhalt der eingetroffenen Kartons zu begutachten: eine professionelle HD-Kamera für gehobene Ansprüche, dazu Akkus, Aufladegerät, Mikros mit Tonangeln, drei Stative für verschiedene Zwecke, der ganze Kram eben. Nun durchquert Blinker den Raum mit zwei schwappenden Latte machiatos in den Händen. Der eine seiner Kumpels hat die neue Kamera bereits am Auge. Der andere trägt ihm ein Kabel hinterher. Halbeisen ignoriert die ihm hingestreckte Tasse, zieht vielmehr Blinker aus dem Gefahrenkreis.

«Pass auf, du weisst doch, ein wandelnder Kameramann ist praktisch blind. Es wird eng hier. Es ist besser, ich verzieh mich jetzt mal.» - «Und der Kaffee?» - «Entschuldige, aber mir ist schon ohne schlecht.» - Blinker schnauzt verärgert seine Leute an: «Musste das jetzt sein!? Wieso geht ihr nicht hinten herum. Platz genug hat es doch, verdammt noch mal.»

Hieronymus schliesst Blinker in die Arme. «Mach's gut, und nochmals, vielen Dank für deine Gastfreundschaft. Und alles Gute für den Dreh in Finnland. Oder seid ihr zuerst in Hebron?» - «Nein, Finnland ist schon richtig. Und wenn du wieder mal Lust auf Berlin hast, anytime. Es war anregend wie immer, mit dir zu philosophieren. Und vergiss mein Angebot nicht. Ich höre von dir!»

Draussen rollt bereits ein doppelstöckiger Stadtbus in die Haltebucht. Hieronymus beeilt sich, wuchtet den schweren Koffer in den Bus und nickt zum Abschied Blinker zu, der vor der offenen Haustür steht und das Anrollen abwartet, um nach finalem Handgruss wieder ins Innere des Hauses zu verschwinden. Während der Bus in Bewegung gerät, denkt Hieronymus bei sich: «Ihn in die Schweiz einzuladen habe ich mir gerade noch verkneifen können. Kommt eh nicht. Bringt ja nichts.»

In wenigen Tagen wird sich Blinker gezwungen sehen, in die Schweiz aufzubrechen. Doch damit hatte Halbeisen recht behalten: er kam nicht, um ihn zu besuchen.

HIERONYMUS

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