Читать книгу HIERONYMUS - Reto Andrea Savoldelli - Страница 5

Das Erste

Оглавление

In der Abenddämmerung eines milden Januartages des Jahres 1992 fuhr Professor Santi in seinem rostzerfressenen Pickup zum Nussbaum hoch. Er hievte Tisch und Stuhl, Filmprojektor und Leinwand von der Ladebrücke und richtete alles für die Vorführung ein. Die Leinwand spannte er wie gewöhnlich zwischen die untersten dicken Äste, den altertümlichen Filmprojektor klemmte er an die Autobatterie. Santi war vorgestern erst von Tiflis nach Zürich zurückgekehrt. Als ein Filmjournalist, der in vielen Kriegsgebieten seine Erfahrungen gesammelt hatte, verfügte er über das nötige Outdoor-Equipment.

Den meisten Menschen seiner schweizerischen Umgebung blieb Professor Santi unverständlich. Sein Vater, ein Autoverkäufer aus Milano, begegnete seiner schweizerischen Mutter in den Gallerien Vittoria Emanuele neben dem Duomo. Dort sass sie in einer Caffeteria mit einer Arbeitskollegin, als er sie erblickte. Bald darauf verkaufte er Alfaromeos und Bugattis in Winterthur, wo ihr Sohn Gustavo Santi schon bald zur Welt kommen sollte.

Obwohl Santi sein Professorentitel in gewissen Augenblicken jenen Respekt verschaffte, ohne den kaum ein Mensch auskommt, machte er davon wie von Geld zweifelhafter Währung nur im Notfall Gebrauch. Die Geschichte, wie er Professor wurde, ist diese: 1959 hatte er als Kameramann ein Praktikum beim schweizerischen Fernsehen abgeschlossen und gleichzeitig die Zusicherung einer Festanstellung erhalten. Und was damals für ihn das wichtigste war: Er nannte seit kurzem eine 16mm Bolex-Filmkamera und das neueste Nagra-Reportertonbandgerät sein eigen. Sein Vater, der in letzter Zeit viele Autos an seine spartüchtigen italienischen Landsleute verkauft hatte, hatte ihm das Geld dazu geschenkt. Als eine Art Investitionskredit.

Bevor er mit seiner Arbeit als Fernsehreporter in Zürich beginnen sollte, wollte er sich jedoch eine Auszeit gönnen. Auf der später legendär gewordenen Hippie-Haschroute reiste er 1960 über Teheran nach Kabul, um über den Khyberpass nach Peschawar und danach an den Indus zu gelangen. Während seiner Reise filmte er ununterbrochen. Sein Englisch war gut genug, um kiffende Amerikaner und Islamisten im Hindukusch zu interviewen, die sich gegen König Sahir Shah zu organisieren begonnen hatten, wie auch kommunistische Agitatoren, die damals in den Städten aktiv wurden. Mehr als einmal half ihm dabei sein Personalausweis des schweizerischen Fernsehens. Das ging so lange gut, bis er eines Tages von Prinz Mohammed Daoud Pashtounyar Khan, dem Sohn des Königs, in einer Hotellounge in Jalalabad entdeckt wurde. Es war sein Equipment, das dem Prinzen ins Auge stach. Er hatte soeben in der neubegründeten Universität in Jalalabad zu studieren begonnen. Sein Page arrangierte ein Treffen zwischen ihm und bald fand sich Santi in der Rolle eines Dozenten der Universität wieder. Auf Drängen des Prinzen und einiger seiner Cousins und Freunde, die alle an dem Kurs teilzunehmen gedachten, hatte er in einen dreiwöchigen Einführungskurs in Kamera- und Tonaufnahmetechnik eingewilligt. Der Kurs kam sehr gut an und der Prinz hatte mit seinen Kumpels allen erdenklichen Spass. Einige erschienen am ersten Tag mit irgendwelchen Filmkameras, die ihnen ihre Eltern aus Europa mitgebracht hatten und die ihre Tücken bereits an den Tag legten, wenn es um das Einlegen der Filmrollen ging. Zum Abschluss händigte ihm der Prinz ein prachtvoll auf Persisch kalligraphiertes und ins Englische übersetztes Dokument aus. Darin ernannte der Rektor der Universität Gustavo Santi zu einem "technical professor" der Universität der Stadt Jalalabad. Deren Bevölkerung bestand in jener Zeit aus siebenundneunzig Prozent Analphabeten und der Vorgang, wie Santi Professor wurde, erschien ihm später als eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht.

Doch war es nicht der Professorentitel, der bei Santis Nachbarn zu Hause für Missmut sorgte, sondern sein ungewöhnliches Verhalten, das sie an ihm beobachteten, obwohl er sich weiss Gott Mühe gab, nicht aufzufallen. So hatte er seit seiner Kindheit die Angewohnheit, mit "seinem" Nussbaum zu sprechen. Nicht etwa nur in Gedanken, nein, er tat es gerade heute wieder einmal mit wohlklingenden Worten. Er war nicht so verrückt, dass er sich nicht zuvor versichert hätte, dass niemand in der Nähe war. Übrigens, der mächtige Walnussbaum hiess Nathan.

«Sei mir gegrüsst, Nathan! Du hast bemerkt, dass ich einige Wochen abwesend war. Ich habe mich im Auftrag der ARD in Georgien aufgehalten. Ich hatte den Auftrag, im Land einen Stimmungsbericht anderthalb Jahren nach den ersten demokratischen Wahlen herzustellen. Bei meinen Vorgesetzten gelte ich als Georgien-Experte, nachdem ich zuvor in Tiflis Gamsachurdia als erster europäischer Reporter nach seiner Ernennung zum Staatspräsidenten interviewen konnte. Ein kluger und mutiger Mann, der zuvor, als sein grosser Gegenspieler Schewardnadse noch KGB-Chef in Georgien war, wegen "antikommunistischer Umtriebe" einige Zeit seiner Verbannung in einem Arbeitslager im Nordkaukasus zugebracht hatte. Ich habe viele Politiker gesehen, die es ganz nach oben geschafft hatten. Entweder waren sie geduldig und raffiniert oder waghalsig und mit einfachsten Lösungen für alles mögliche unterwegs. Gamsachurdia war keines von beidem und dadurch erschien er mir leicht verwundbar. Seine zurückhaltende Art war mir sofort sympathisch, was ich jedoch für mich behielt. Doch diesmal war alles anders. Nathan, ich musste Hals über Kopf aus Tiflis fliehen!

Mit Geld und mit Waffen lässt sich bei Menschen leider vieles, ja fast alles erreichen. Unter den Parolen von Freiheit und Gerechtigkeit kannst du damit sogar einen paramilitärischen Putsch gegen einen kurz zuvor in freien Wahlen mit einer Mehrheit von siebenundachtzig Prozent gewählten Präsidenten organisieren. Sofern dies durch internationale Geheimdiplomatie zuvor abgesichert wird. Als es für mich in Tiflis zu gefährlich wurde, hat die ARD meinen Rückflug angeordnet. Ob Gamsachurdia lebend aus der Stadt herauskam, weiss ich nicht. Der Kreml hat in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft erfolglos versucht, die neue Regierung unter Druck zu setzen um sie zum Beitritt zur Gemeinschaft unabhängiger Staaten GUS zu bewegen. Solange Schewardnadse als Aussenminister der Sowjetunion im Rampenlicht der internationalen Beziehungen stand, konnte niemand dem Kreml verwehren, Georgien als abtrünnige Provinz zu betrachten, die für Russland nicht verloren gehen darf.

Jetzt lass uns die Filmbilder noch einmal ansehen, bevor ich in die Dunkelheit des Montageraums abtauche. Ich hoffe deinen Kommentar zu hören, Nathan. Ich will mit meiner Reportage kein Öl ins Feuer giessen. Aber zu verstecken, was ich gesehen und gefilmt habe, - das geht auch nicht!»

Santi zieht sich die Handschuhe aus um die Filmrolle in den Projektor einzufädeln. Nun rattert er los. Ein leerer Prunksaal wird sichtbar. Ein Endfünfziger mit ergrauten Schläfen steht vorne an einem Pult und spricht mit sanfter Stimme in die Kamera. Im pausenlosen Fluss seiner Rede gewinnt sie zunehmend an Eindringlichkeit.


Santi: «Nathan, verstehst du, was er sagt? Gamsachurdia bat mich, seine letzte Fernsehansprache als Präsident aufzuzeichnen. Ausser georgisch spricht er deutsch, englisch, französisch und vermutlich auch Russisch. Die Leitung ins Fernsehstudio der Stadt stand damals noch. Die Parlamentarier hatten das Regierungsgebäude an der Rustaweli-Allee alle verlassen. So befand sich im grossen Parlamentsaal ausser uns beiden niemand mehr. Eine gespenstige Situation. Es war der dritte Januar. Während Gamsachurdia sprach, verteidigten die letzten, im Regierungssitz noch stationierten Soldaten das Parlamentsgebäude von den Balkonen herunter. Hier siehst du einige von ihnen vor mir, ich stehe hinter ihnen in Deckung. «Hier stürzt nach den andauernden Mörsereinschlägen eine Decke ein. Das war knapp! Hier befinden wir uns in einem der Kellertrakte. Dort, hinter der Leinwand, siehst du, findet eine Notoperation statt. Der Soldat wird sterben. - Hier auf der Bahre seine Leiche, die eingesargt wird und das da ist seine Familie. Keine Ahnung, wie diese Menschen ins Gebäude




gekommen sind. Der orthodoxe Priester, - das Totenritual. Die schreiende Frau im Hintergrund ist die Ehefrau des gefallenen Soldaten.

Für den sechsten Januar hatten die eingekesselten Regierungstruppen eine Offensive gegen die Putschisten geplant. Dafür standen noch dreihundert Gardisten und fünf Panzer bereit. Um weiteres Blutvergiessen zu vermeiden nahm Gamsachurdia in der Nacht zuvor den Befehl zurück und verliess selber durch einen versteckten Ausgang das Regierungsgebäude. Seinen Abzug habe ich leider verschlafen.

Doch sieh hier, Eduard Schewardnadse auf dem Flughafen in Tiflis. Immer wieder wurde er in Tiflis gesehen. Die Putschistenführer würden keine Chance haben, ihre Machtergreifung von irgendeinem Staat sanktioniert zu sehen, wenn Schewardnadse nicht mit im Boot sässe. Er garantiert, dass die kaukasische Variante, durch einen Putsch die Demokratie zu sichern, vom westlichen Bündnis abgesegnet wird.

Gut möglich, dass Schewardnadse in Moskau zuvor den Umsturz mit vorbereitet hat. Für meine Vermutung habe ich keinen direkten Beweis, worüber ich nicht traurig bin. Denn dies hätte meine Lage nur erschwert. Doch weiss ich, dass Gamsachurdia dem Schewardnadse schon früher ein Dorn im Auge war.

Hier eine Aufnahme von Gamsachurdia, wie er 1978 vom amerikanischen Kongress für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird. Da lag er für die amerikanische Politik noch im Trend. - Das eine Aufnahme von James Baker, dem amerikanischen Aussenminister, der bestimmt von der politischen Rückkehr Schewardnadses nach Georgien angetan war. Demokratie hin oder her. Genauso wie sein deutscher Kollege Genscher, der sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu weitgehendem Verständnis für die Sorgen des Kremls, dem die Felle davonzuschwimmen drohen, verpflichtet sieht.


Verstehst du, Nathan! Der Westen mischt sich nicht ein, wenn sich die Russen in die Angelegenheiten der Nachbarvölker einmischen. Das ist die neue Nato-Doktrin, musst du wissen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Politik nur im Detail verwirrend, im Prinzip aber von geradezu primitiver Einfachheit ist.»

Santi stellte mit einiger Anstrengung die notwendige Ruhe in sich her, in der er Nathan vernehmen konnte. Sein Denken liess die Lebensregungen des Nussbaumes von den weissen Wurzelspitzen, die sich unter der Erdkrume mit den Mineralien unterhielten, durch den Flüssigkeitsstrom unter der Rinde hinauf bis zu den Blattspreiten, die weit oben die Lichtluft tranken, alle gleichzeitig im Geiste wirksam sein. Dann verdrängte er mit einem Schlag das ganze Vorstellungsgemälde. Wie einen fetten Blattbüschelkranz des Löwenzahns riss er es aus seinem Denken, um sich allein auf das Kraftgebilde zu konzentrieren, in das sich der zuvor vergegenwärtigte Baumraum aufgelöst hatte. Das war sein erprobtes Mittel, um bald darauf die unverwechselbare Stimme des Baumgeistes zu vernehmen. Von allen Gestalten der als stumm geltenden Natur sprach bis heute nur dieser einzige Walnussbaum zu ihm.

An einem warmen Sonntag Ende Mai hatte er ihn zum ersten Mal gehört. Er war damals noch ein Knabe und lag in der untersten grossen Astgabelung im Schatten. Seine Beine baumelten auf beiden Seiten der lebendigen Liege hinunter, während er selbst aufwärts in die hellgrüne Kuppel träumte. Die Strahlen des Lichtes waren damit beschäftigt, die Formkraft der Blattaugen und Triebspitzen in das Quellgewebe sich öffnender Knospen umzuschmieden. Wie von ferne drang das Gebimmel der Kuhglocken an sein Ohr. Er mochte neun Jahre alt gewesen sein. Es war nicht so, dass die Baumstimme etwa aus der Rinde drang. Und es waren auch keine eingesperrten Elfchen, die aus den noch weichen, grünen Nüssen flüsterten. Auch sonst wurde der Junge nicht von Hirngespinsten überwältigt. Ganz im Gegenteil.

Zunächst sprach Nathan nicht und hatte auch noch keinen Namen. Der junge Gustavo fühlte sich von ihm nur beobachtet, wenn er aus dem Blätterdach zu ihm hinab sah. Ein grosser, ernster Baumhirte, der etwas von ihm zu wollen schien, was Santi weder als Knabe noch später als Jugendlicher verstehen konnte. Manchmal war er einfach da und schien bereits auf Gustavo zu warten, doch manchmal konnte er machen, was er wollte, der Baumgeist blieb unsichtbar. Es vergingen Jahre, bis Santi den Grund erkannte. In Nathans Obhut befand sich nicht nur Santis Walnussbaum, sondern er sorgte sich für alle Nussbäume in der Region. Allmählich gelang es Santi, ihn herbei zu rufen. Eines Tages stellte sich der Baumgeist selber mit Nathan vor.

Seine Erlebnisse mit Nathan begründeten Santis Naturreligion und veränderten sein Vorstellen und Handeln so, dass sie immer mehr zu seinen eigenen wurden. Allein für seine Umgebung wurde er dadurch immer unverständlicher. Zuvor hatte es ihm an Mut zu einer Religion eigener Prägung gefehlt. Er hatte das getan und gewünscht, was von ihm, wie er jeweils dachte, erwartet würde oder ganz einfach das, was die anderen auch taten und erstrebten. Wenn nun aber in den Erscheinungen der Natur geistige Wesen tätig sind, so wird das im Menschenreich nicht anders ein, sagte er sich. Er hatte den Erlebnissen und Erkenntnissen, die er im Gespräch mit Nathan gewann, den Vorzug vor seinen angelesenen Kenntnissen über Gasstoffwechsel, Biosynthese, Lipide und die nussspezfischen Gerbsäuren gegeben. Dasjenige, worüber die botanischen Erkenntnisse Aufschluss gaben, war für ihn allmählich immer unwirklicher geworden.

Um auf Nathan zurückzukommen: Er warf Santi tatsächlich vor, dass er in Georgien keine Bäume gefilmt habe. Wenigstens auf seine mächtigen Verwandten im botanischen Garten von Tiflis - im neunzehnten Jahrhundert von einem Deutschen angepflanzt - hätte er sein Objektiv richten können. Er habe ihn doch schon früher gebeten, dass er zwischen die Bilder der Zerstörung mächtige Bäume schneiden solle. Es gibt nur ein Leben, wiederholte er immer wieder. Es ist für alle lebende Wesen dasselbe. Wenn sich Menschen damit trösten, dass jeder Krieg vorübergeht, sollten sie wissen, dass dies mit der geistigen Trägheit und der seelischen Gleichgültigkeit, die ihn nicht verhindern konnte, nicht der Fall ist. Die Menschen sollten sich angesichts der Unschuld von Bäumen, die keine Kriege führen, zu schämen erlauben. Und bevor sich die Menschen nicht bis in die Haarwurzeln über alles, was Kriege für Mensch und Natur bedeuten, schämen könnten, würden sie immer wieder ausbrechen. Wie Geschwüre.

Die um Objektivität bemühte Information über einen Kriegsverlauf sei eine soziale Krankheit mehr. Sie befördere die passive Abstumpfung und die Selbsttröstung, dass man für diesen Krieg keine Verantwortung trage und den Betroffenen ohnehin nicht helfen könne, auch wenn sich einige des Mitleids nicht entwöhnt haben. Aus seiner Perspektive hatte Nathan natürlich Recht. Seine "bäumigen" Antworten verband er abschliessend immer mit dem Hinweis, darüber im Grunde nichts zu verstehen. Er schien sich, im Unterschied zu Menschen, der Grenzen seiner Weisheit sehr bewusst zu sein.

Anstelle der Soldaten, die von den Ladeflächen der Militärlastwagen mit ihren Kalaschnikows in den Armen hinunter grinsten, hätte Santi im umstrittenen Kriegsgebiet besser die still ragenden Bäume gefilmt. Santi hatte vor Ort Nathans Ratschlag ganz einfach vergessen. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Waldgebiete, durch die ihn sein Fahrer gelotst hatte. Dabei hatte er für einige Stunden die zunehmende Gewalt im Lande vollkommen vergessen. Was Redaktoren der ARD über kaukasische Waldaufnahmen inmitten einer Kriegsreportage sagen würden, schien Nathan nicht zu interessieren.

Und dann sprach Nathan vom "Sohn eines Falken". Santi solle ihn nur am Rande erwähnen, ihn auf keinen Fall als Sympathisanten des Putsches oder gar als seinen Drahtzieher zur Sprache bringen. Sonst hätte sein Film überhaupt keine Chance, von irgend einem Sender ausgestrahlt zu werden. Er müsse ihn wohl nicht an seine Dokumentation über den Flugzeugabsturz des UNO-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld erinnern und was er damals erreicht habe. Nämlich rein gar nichts!

Einmal mehr staunte Santi über Nathan. Wie konnte er wissen, dass der georgische Name von Schewardnadse, den man in seinem Lande "Tetri Melia", weisser Fuchs, nannte, eigentlich "Sohn eines Falken" bedeutet!

Er brauche Schewardnadse nicht anzugreifen, fuhr Nathan fort. Dieser werde ohnehin bald einmal vom Rad der Geschichte, das die Stimmungen der Massen bewege, auf ein Nebengeleise geschoben werden. Vieles von dem, was er im Hintergrund betrieben habe, werde später ohnehin ans Tageslicht kommen. Aber dazu könne ein unabhängiger und damit machtloser Fernsehjournalist aus der Schweiz keinen entscheidenden Beitrag leisten. Hingegen sei es wichtig, dass das Interesse an Gamsachurdia wach gehalten werde. Denn Gamsachurdia sei ein Baumfreund gewesen.

Der Film war zu Ende. Die Leinwand leuchtete weiss im Geäst. In eine Wolldecke eingeschlagen sann Professor Santi nochmals den Bildeindrücken nach. Ohne zu zögern entschied er, welche Gesamttendenz der Schnitt seiner Georgienaufnahmen haben würde. Die Redaktionen konnten das Ergebnis akzeptieren oder es bleiben lassen. Andere Bilder oder einen anderen Kommentar würde er nicht zur Verfügung stellen. Denn diesmal lagen die Rechte bei ihm. Auf exklusive Aufnahmen wie die seinen würden sie alle scharf sein. Als Kommentar kämen nur die offiziellen Verlautbarungen in Frage, die in den Feuilletons als allgemein akzeptierter Interpretationscode für das georgische Schlamassel angeboten wurden. Er hatte schon genügend davon gesammelt: Aus dem russischen Fernsehen, aus BBC und CNN, den Printmedien, FAZ, Neue Zürcher, Süddeutsche. Diese verschwommenen Halbwahrheiten würde er über seine Putschistenbilder legen, und sie allein durch dazwischen geschnittene Interviews mit russischen und georgischen Kriminellen ergänzen. Angesichts sich grundlegend widersprechender Aussagen würde dies die Fassungslosigkeit beim Zuschauer auslösen, die sich Santi für diesmal erhoffte.

Hunderte von russischen Gefängnisinsassen waren vorzeitig entlassen worden, um strafmildernd an der Rebellion gegen jenen "verrückt gewordenen Diktator" teilzunehmen. Die Interviews, in denen sie alles haarklein erläuterten, waren ihm gelungen, weil er sich als Journalist der englischen Kreml-News ausgegeben hatte. Diesen Blödsinn hatte ein Trupp schwadronierender Kämpfer tatsächlich geschluckt! Er musste nur schnell einen guten Übersetzer finden.

Dann vor allem Nahaufnahmen! Mienen, Blicke, - "Die Menschen sind nicht blöd!", war eine von Santis Selbstbeschwörungsformeln. Von Gamsachurdia, von Schewardnadse, vom amerikanischen Aussenminister Baker und vom amerikanischen Präsidenten. Die Kollegen von CNN hatten ihm bereits die benötigten fünfundvierzig Sekunden aus ihrem Interview mit Bush senior schriftlich zugebilligt, nachdem er ihnen in ihrem Hotel in Tiflis eine seiner Aufnahmen, die ihnen fehlte, in ihr Gerät überspielt hatte. Mehr brauchte er nicht. Die Redaktionen mussten nur noch den Bürokram erledigen und die gegenseitigen Nutzungsrechte abgelten.

Man sieht den amerikanischen Präsidenten im Fernsehstudio. Der servile Gesprächspartner kommt auf das kaukasische Problem zu sprechen. Bush hat sich informiert. Am Nachmittag bekam er wie üblich die Unterlagen vom Auswärtigen Amt zugestellt. Er kennt nun den Unterschied zwischen Ossetien und Abchasien, er weiss, worum es im Krieg zwischen Armenien und Aserbeidschan so ungefähr geht. Auf jeden Fall weiss er, worum es Amerika in diesem Krieg geht. Und dann kommt das Gespräch auf Georgien und auf Gamsachurdia. Der Präsident: «Dieser Mann muss noch lernen, wie man seine politischen Äusserungen formuliert. Ich habe ohnehin den Eindruck, dass er gegen den Strom schwimmt.» - Der Witz der 68-er, dass nur tote Fische mit dem Strom schwimmen, war im Oval Office inzwischen in Vergessenheit geraten. Damals hatte ein sehr lebendiger Präsident der USA als letzter versucht, gegen den Strom der hohen Politik zu schwimmen. Auch er hat mit seinem Leben dafür bezahlt.

Professor Santi schaute über seinen Nussbaum hinweg zur Burg hinauf. Noch immer war ein Fenster erleuchtet. Es war das Arbeitszimmer von Doktor Attila Haug, der wie so oft auch nachts arbeitete. Nachdem er alles zusammengepackt hatte, deckte er mit einer Plane die Geräte ab und zurrte das Ganze über die gelbe Schaumgummimatratze fest, die er immer auf dem Pickup mitführte. Er knöpfte sich die Lederjacke bis unter das Kinn zu und hauchte in seine eiskalten Hände, bevor er sie in die Handschuhe schob. Schon bald schweiften die beiden Scheinwerfer seines Jeeps über die Wiesen hinunter ins Biederthal.

So hat Nathan, der Baumhirte, wieder einmal Professor Santi dazu verholfen, sein inneres Gleichgewicht zu finden. Das soeben angebrochene neue Jahr fühlte sich verhalten hoffnungsvoll an. Noch war ihm verborgen, dass bald schon weitere Enttäuschungen auf ihn warteten. Im Sommer wird er sich eingestehen müssen, einmal mehr auf einem Berg Schul-den zu sitzen, nachdem er keinen der bedeutenden Sender dazu wird bewegen können, seine Georgienreportage zu übernehmen. Einzig einem österreichischen Sender wird die Ausstrahlung lächerliche achttausend Schillinge wert sein.

Auf ein in versteckten Kanälen weitergereichtes Zeichen hin blieb die westliche Presse den Vorgängen in Tiflis gegenüber abwartend desinteressiert. "Zu weit weg! So wie man dort recherchieren kann: Wer weiss da schon genau, was wirklich abläuft!" - So klangen die Antworten und: "Mal sehen, wie sich das entwickelt." - Santis Dokumentation war in seinem wenn auch unartikulierten Unterton zu anklägerisch. Sie forderte von den westlichen Missionaren für Demokratie und Marktwirtschaft eine Untersuchung des Putsches und als Konsequenz die Anklage vor dem Internationalen Gerichtshof förmlich heraus. Doch vernahm Santi aus den Chefetagen nur abwiegelnde Äusserungen. Der Gang der grossen Geschichte lief in eine andere Richtung.

Dafür erzwangen in den kommenden Jahren die Jugoslawienkriege, die soeben angezettelt wurden, die Hauptaufmerksamkeit. Bereits das übernächste Weihnachtsfest würde Professor Santi in Sarajewo feiern müssen. In den Gesellschaftsräumen einer Kaserne der UN-Schutztruppen, zusammen mit norwegischen und holländischen Soldaten.

Bei diesem seinem nächsten Auslandsaufenthalt wird er gut bezahlt werden. Eingebettet als Kameramann in ein Viererteam, das im Auftrag des deutschen ZDF unterwegs sein wird. Den Einsatz, der zwei Monate länger als geplant dauern wird - der Flughafen Sarajewos wird von den bosnischen Serben besetzt sein - wird er der Auslandkorrespondentin und Redaktionsleiterin Sybille Helmstedt zu verdanken haben. Santi kennt Frau Helmstedt aus seiner Berliner Zeit, in der sie ihn wiederholt zur Durchführung von Kursen für in Ausbildung stehende Kriegsreporter über-redet hatte. Wie er in Erfahrung bringen konnte, ist sie nach ihrer Heirat vor einigen Jahren in die Schweiz umgezogen. Dennoch vermochte sie sich im Vorstand des 1989 neu begründeten deutschen Presseverbandes zu halten. Eine Powerfrau eben, die von Santi im Stillen bewundert wurde.

HIERONYMUS

Подняться наверх