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Das Elfte

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Während er auf die Einfahrt des Zuges im Lehrter Bahnhof wartet, sitzt Halbeisen auf einer metallgitternen Stufe und blickt auf einen Wall rot-weiss gestrichener Holzverbarrikadierungen, die das Ende der Begehbarkeit markieren.

Die Nacht ist hereingebrochen und er starrt auf den mondbeschienenen, künstlichen See, zu dem die Treppe hinunterführt. In ihm liegen die unter Wasser gebauten, riesigen Betonbecken, die nach dem Abpumpen des Spreewassers bald einmal als U-Bahnhof des neu entstehenden Berliner Hauptbahnhofs Verwendung finden werden. Halbeisens Blick verliert sich hinter den Barrikaden in den unzähligen Streiflichtern auf der Wasserober-fläche, die Reflexionen von Eisenverstrebungen dutzender, um das Toten-wasser aufgestellter Kräne. Sie stehen eingerammt in die technische Planlandschaft eines grossartig verwirrenden Grossbauplatzes und erweisen in wohlproportionierter Rangordnung sich gegenseitig Referenz: grosse und kleine, mit hochgezogenen oder tiefgebeugten Schwenkarmen nicken sie sich steif zu, sinnierend inmitten der lautlosen Stille, die sich nach dem Abbruch eines zerwühlten Werktages zwischen sie gesenkt hat.

«Halbeisen, du willst doch auch nach Basel! Komm, beeil dich, ich nehm dich mit!» - Halbeisen erkennt die Stimme Santis sofort, der auf dem nahen Bahngleis ein schepperndes Ungetüm hinter sich her zieht. Auch hier weiss Halbeisen unmittelbar Bescheid, um was es sich handelt. Er steigt einige Stufen hinauf und erblickt den Koffer, den Santi einfach hat stehen lassen, vor sich. Mit dem Rest seiner Pakethabe ist Santi bereits weiter geschritten. Er ruft nun über seine Schultern zurück: «Halbeisen, ich weiss, dass deine Hilfsbereitschaft grenzenlos ist, also wenn du es schaffst, bin ich dir nicht böse. Das Monster ist mir zu schwer geworden.» - Halbeisen entschliesst sich, an Santis Unverschämtheit keinen Gedanken zu verschwenden und ergreift den verwaisten Rollkoffer im Überformat.

Bald darauf schieben sich die beiden durch Gänge überfüllter Bahnwaggons. Santi hat einen freien Platz gefunden. Halbeisen wuchtet schwit-zend die Gepäckstücke in die Ablage und will sich nach vorn weiter durchschlagen, als sich ein junger Mann gegenüber Santi erhebt und Halbeisen seinen Platz anbietet; er steige ohnehin gleich aus.

Nach Wolfsburg dösen die meisten Mitreisenden bereits. Allein ein Türke mampft ein dreistöckiges Riesensandwich. Halbeisen beobachtet mit Interesse, wie er mit einem grossen weissen Taschentuch für die herunterfallenden vegetabilen und fleischlichen Klemmstücke zwischen seinen Beinen eine Auffangmulde bettet. Wie geschickt die Menschen mit den kleinen Tücken des Lebens doch fertig werden! Unablässig arbeitet ein grosser Teil unseres Verstandes daran, uns des wohlorganisierten Wohlbefindens zu erfreuen. - Halbeisen hat vor, wenn ihn der Zufall schon Santi gegenüber zu sitzen nötigt, ihn über dieses und jenes zu befragen. Er verspürt dazu entschiedene Neugier. Doch sein Reisegefährte bleibt vorerst wortkarg. Endlich, den Frankfurter Bahnhof haben sie soeben verlassen, beginnt Santi, von seiner früheren Berufstätigkeit zu erzählen. In der Dämmerung schwebt die Frankfurter Skyline vorüber wie eine Fata Morgana.

«Ich konnte filmen, was ich wollte. Im Kongo, in Südafrika, in Indonesien, in Nicaragua, egal wo. Die Jahre verstrichen, und es änderte sich weder für mich noch auf der Welt irgend etwas Wesentliches. Immer dasselbe Spiel mit immer denselben Anklagen und Propagandalügen. Damit werden solange die Triebe aufgeheizt, bis Denken und Vernunft kapitulieren. Sie gehören zu jedem Krieg, wie die Fliegenschwärme zu jedem Misthaufen. Dann das furchtbare Elend der betroffenen Menschen, der Gewalt hilflos ausgeliefert, die sich irgendeine Geschichte zurecht legen müssen, um zu verstehen, warum gerade sie zu einem Spielball der Auseinandersetzungen geworden sind. Die meisten haben ein paar Parolen auf Lager, die sie wie stumpfe Holzschwerter gegen die Entwürdigung und die Vertreibung, gegen die Vergewaltigungen und die Massaker schwingen. Das ist alles, was ihnen zum Verstehen übrig geblieben ist, während ein paar Scheusale, oft ihres eigenen Clans, ihren grossen, rasch verfliegenden Kick erleben. Dann natürlich die international organisierte Maschinerie der Überlebenssicherung in den Auffanglagern, in denen die Kriegsopfer oft bis an ihr vorzeitiges Ende dahinvegetieren! Natürlich ist es das Beste, was ihnen widerfahren kann, wenn sie der eingespielten Erfahrung der humanitären UNO-Heilsarmee zugeführt werden: Maschendraht, Formulare und Bettdecken! - Und dann die Leichen. Wie viele habe ich gesehen! Zuerst durfte man sie nicht filmen oder sie wurden rausgeschnitten. Und immer mehr gehörten sie dazu. Zu dem, was die Fernsehzuschauer als objektive Berichterstattung sehen sollten oder später wohl auch erwarteten.

Ich glaube nicht daran, dass die Kriege auch nur einen Tag früher dadurch aufhören, dass man Massaker zeigt. Über den Zeitpunkt, wann die Kriegsgeschwüre erschöpft sind, hat noch nie die Meinung der Massen entschieden. Und die Fernsehzuschauer haben sich inzwischen an die Kriegsberichte gewöhnt wie an Gruselfilme. Sie stellen keinen direkten Zusammenhang her mit dem, was man sie verstehen lassen will. Und solange die Bomben nicht ihre eigenen Häuser auseinanderdividieren, ist es Weltpolitik, für die andere zuständig sind. Ich hatte eines Tages einfach keine Kraft mehr, diejenigen, die in ihren Sesseln kleben und auf den Krimi danach warten, "objektiv" darüber zu informieren, "was in der Welt vorgeht". Die Welt, die woanders ist, erschien mir nur noch eine Obszönität mehr!»

Ausserhalb der reflektierenden Fensterscheiben war es jetzt ganz dunkel geworden. Man sah zwar keine Sterne und kein gar nichts, doch erkannte man jede Einzelheit des Zuginneren in den von den Waggonfenstern reflektierten Spiegelbildern. Die meisten Reisenden waren wieder aufgewacht und bearbeiteten ihre seit Stunden vernachlässigten Handys.

«Und dann verstand ich selbst immer weniger, was ich sah, auch wenn ich filmte. Man kann einfach nicht hungernde, verängstigte, apathische, verletzte und verstümmelte Menschen filmen oder meinetwegen auch Soldaten, die mir alle, auch wenn sie gröhlten, wie Häftlinge in unterschiedlichen Sträflingskleidern erschienen, Leichen in allen denkbaren Zuständen, und das wäre es dann gewesen. Die Realität dokumentieren, als Beruf sozusagen. Das macht keinen Sinn, denn die Realität liegt in dem, wie es dazu kam. In den Gefühlen und Gedanken derjenigen, die Entschlüsse gefasst haben. Deshalb, auch wenn du dich noch so sehr dagegen wehrst, mutierst du unmerklich zu einem blutlosen Beobachter-Zombie. Als eine Forderung deines Überlebensinstinktes stirbt jedes Mitgefühl in dir ab und allmählich greift deine Apathie auch auf die Beziehungen über, von denen du dachtest, dass sie intim zu dir gehören würden. Nachdem ernsthafte psychische Schwierigkeiten aufgetreten waren, machte ich eines schönen Tages Schluss mit allem.»

«Waren Sie auch in Bosnien?» - «Sind wir per du oder nicht? - Ja gewiss, in Bosnien war ich auch, nach dem viermonatigen Waffenstillstand, der am 1.Mai 1995 zu Ende ging. Der hat damals den Häuptlingen alle Zeit der Welt gegeben, den Waffennachschub zu organisieren. Mostar, Vukovar, Srebrenica, Ossjek, und so weiter. Immer schön im Schutz der UNO-Truppen.» - «Und in Sarajewo?» - «Sarajewo, na klar! Dies aber schon früher. An Weihnachten 1992. Da wusste man genau, wo die Heckenschützen postiert waren. Ein statischer, chirurgischer Krieg. Täglich gab es Tote unter den rennenden Frauen, die einkaufen mussten. Dann wieder explodierende Bomben auf den Marktplätzen. Aber warum fragst du?» - «Kanntest du eine Sybille Halbeisen?» - «Sicher kannte ich eine Sybille Helmstedt, geborene Halbeisen. Sehr gut sogar. Sie war meine Chefin. Oder war es umgekehrt, geborene Helmstedt? Sag nicht, dass das deine Frau war?»

Die Männer schweigen, beide erschreckt. Keiner weiss, wie das Gespräch weitergehen soll. - «Sie war als Vorstandsmitglied des deutschen Journalistenverbandes, wie dir dann wohl bekannt ist, im Bedarfsfall den Kriegsberichterstattern als Mediatorin zugeordnet. In diesem Rahmen hat sie mich ein paarmal eingeladen, in Berlin für Journalisten, die sich für Kriegsreportagen interessierten, Weiterbildungskurse zu leiten.» - Die Elektrizität reisst die Eisenbahn durch die Nacht. Die beiden Männer spüren kaum etwas davon, so ruhig durchschneidet der ICE den nieselnden Nebel. Im hellen Fenster, auf das Halbeisen starrt, spiegeln sich nicht nur die anderen Menschen im Abteil, sondern auch das Fenster auf der anderen Seite und dessen Spiegelbilder, sodass er den Menschen im Spiegelbild ansehen kann, wie sie von der anderen Seite aus aussehen. Er wendet seinen Blick ab und schliesst die Augen.

Santi verfolgt die Spuren der an den Scheiben waagrecht hinpfeilenden Regentropfen. Wie sie im Zeitlupentempo, Zentimeter um Zentimeter, entgegen der Fahrtrichtung sich ihren Weg erkämpfen und an einem bestimmten Punkt, alle immer an genau demselben, sich vom saugenden Glas losreissen und ins Dunkel schiessen.

«Du warst also ihr Mann. Ich verstand schon damals nicht, warum sie getrennt von dir lebte. Sie sprach ein paarmal sehr freundlich von "ihrem Mann".» - «Sagte sie, sie sei getrennt?» - «Ja.» - «So? Ich versuchte ihr zu helfen, ihren eigenen Weg zu finden. Im Beruf wie im Leben überhaupt. Sie wurde immer freier. Zuletzt hat sie sich irgendwie auch von mir befreit. Entschuldige, Santi, das mag jetzt rührselig klingen: obwohl ich es nicht will, geschieht es mir doch immer wieder. Alle früheren Beziehungen zu Frauen, vor der Ehe, nach der Ehe: ich wünsche mir nichts anderes, als dass meine Frauen immer mehr ihren freien Willen entfachen, ihn anwenden und ihm vertrauen lernen. Das ist auch ein Zeichen der Liebe, dass du den Menschen, den du liebst, auch um seiner Zukunft willen liebst. Und wenn sie beginnen, ihren eigenen Weg, der sie doch in deine Nähe geführt hat, weiter zu gehen, so bleibst du auf der Strecke und verstehst die Welt nicht mehr. Ist das nicht idiotisch!» - «Du Glücklicher, du musst dir dann kein schlechtes Gewissen darüber machen, wenn du mit ihnen nichts mehr zu tun hast! Sieh es einmal so. Sie haben dich verlassen, nicht du sie!» - «Es ist schwer, allein zu sein.» - «Niemand ist allein, mein Freund. Und wenn du wirklich alleine bist, so bist du es am allerwenigsten.» - «Wenn ich allein bin, so bin ich es nicht! Mensch, Santi! Im Moment benötige ich keine religiöse Erbauung. "Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her." - Ist es das, was du sagen willst?» - Wie ein Storch stakst Hieronymus zwischen die in verschiedene Richtungen verkreuzt ausgestreckten Beine des Abteils, wir befinden uns in einem alten Zugwaggon mit dem durchgehenden Gang auf einer Fensterseite, und rettet sich hinaus. Er beginnt vorwärts in Richtung Speisewagen zu wandern. Er schaut in kein Abteil. Er will keine Gesichter sehen. Die Tränen quetschen sich in seine Augen und legen über seine Sicht einen Schleier. Zwei Stunden lang sitzt Halbeisen danach im Speisewagen vor einem Mineralwasser und nimmt die verbröselte Langeweile der Bedienung wahr, die auf die Zugeinfahrt in Basel wartet. Ihre wie seine eigene Zeit rinnt durch dieselbe grosse Sanduhr. Nach der fliegenden Zollkontrolle nehmen die wenigen Passagiere noch die Lautsprecherdurchsage wahr, mit der sich eine virtuelle Hostess für ein virtuelles ICE-Team von den Passagieren in der Hoffnung verabschiedet, sie bald an Bord wieder begrüssen zu dürfen.

Halbeisen geht somit von "Bord". Er stellt sich vor, wie in der Zeit, als die Flugzeuge noch Flugschiffe hiessen, der nautische Ausdruck benutzt wurde, um die beängstigende Enge in den Alublechcontainern hoch oben in der Luft wortmagisch zu poetisieren. Und später hat sich die deutsche Eisenbahn der bereits umgebogenen Bedeutung bedient, um die Vorstellung mondäner Wellness auch auf die Zugwaggons zu übertragen. Und um damit zum Ausdruck zu bringen, dass auch ihr ICE-Zug fliegt, nur weiter unten. Unser Schönsprechzeitalter modelt das Bewusssein mit werbenden Vorstellungen.

Halbeisen bekam Santi nicht mehr zu Gesicht. Doch hatten sie bereits zuvor festgestellt, dass sie in zwei benachbarten Dörfern wohnen und überdies abgemacht, sich noch am selben Tag um Punkt fünfzehn Uhr vor Ruedi Kusters Filmwerkstatt zu treffen.

HIERONYMUS

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