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Das Fünfzehnte

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Ilena und Valentin hatten im Badischen Bahnhof von Basel die Schweizer Grenze überquert und sassen nun in der gelben Strassenbahn, die sie durch die ländliche Gegend des Leymentals an die französische Grenze brachte. Das Biederthal markiert die Grenze und je nachdem, wo vor Jahrhunderten die menschlichen Behausungen errichtet worden waren, fanden sie sich nun durch die historisch letzte aller Grenzziehungen in hüben und drüben geschieden. Sundlach, der Wohnort Halbeisens, lag gerade noch auf Schweizer Boden, auf einen Steinwurf vom Staatsgebiet der Europäischen Union entfernt, wie seine Musikerkollegen aus Kiffis das Land ihrer bescheidenen Behausungen angeberisch nannten.

Die nach Formularen riechende Bezeichnung fand nur Schweizern gegenüber Verwendung. Unter sich waren sie "des Alsaciens". Die Schweiz war das Land, so die Standardformel, das den Anschluss an Europa noch nicht gefunden hatte. - «Die Schweiz war bereits der Nabel Europas, bevor eure EU-Staatsmänner nach all den Kriegen, die sie gegeneinander führten, überhaupt wussten, dass es Europa gibt», stellte Halbeisen dazu fest. Oder, wenn er pessimistisch gestimmt war: «Die EU ist eine intern friedenserhaltende Massnahme der Wirtschaft zur Maximierung ihrer Rendite, die sich in eine kriegstreibende Blockbildung Amerika und Asien gegenüber verwandeln wird, wenn die EU-Kommissäre nicht abrücken werden, allein auf den Schutz der Wirtschaftsmacht und des Kapitals zu setzen und damit den Terror der Geistlosigkeit zu stärken.»

Seine Kollegen kannten Halbeisen als hilfsbereiten Kumpel, mit dem das musikalische Zusammenspiel Freude machte. Wenn Musik angesagt war, sagte "notre Swissois" am wenigsten von allen. So reagierten sie stets betreten, wenn er sie gelegentlich mit einer Zornestirade gegen das Brüsseler System verstörte, das ihnen so lang wie breit war. In diesen seltenen Momenten strapazierte er das Verständnis von Alain, Claude und Thierry über Gebühr.

Als sich unsere beiden jungen Menschen mit geschulterten Rucksäcken, Ilena trug einen orangen, Valentin einen blauen, in der Wärme eines windstillen Sommerabends vom Dorfbrunnen Sundlachs gegen den Wald in Richtung Maria-Stein in Bewegung setzten, ergab dies ein reines Bild der Freude. Erwartungsvoll dachte Ilena an Maria-Stein hinter dem Hügel, wo sie mit ihren Eltern ihre ersten Lebensjahre verbracht und die Dorfschule besucht hatte. Nach der zweiten Strassenkehre gegen den Waldrand hin erhoben sich die Doppeltürme der Wallfahrtskirche über den grünen Horizont. In ihrer Kindheit waren sie Ilena wie zwei zum Himmel weisende Finger vorgekommen, die an ein geheimes Gelöbnis mahnten.


Von weitem entströmte dem Häuschen, dem sie zustrebten, musikalische Klangschwaden. Es stand als letztes an einer Naturstrasse, bevor diese in einen Fusspfad überging und sich im Wald verlor. Die Fenster waren geöffnet, und der Wind wehte einen schräg schluchzenden Blues über das Kornfeld. Das Halmenmeer, an dem Ilena und Valentin vorbeischritten, ragte als ein Heer unsichtbarer Lanzenträger in den abdunkelnden Himmel. Ein heisser Tag neigte sich dem Ende zu und alles begann, sich dem nächtlichen Traum des Reifens und Vollbringens zu überlassen. Eine Lerche präludierte selig über dem makellosen Feld, durch die verströmende Atemluft hineingehoben in einen Raum entrückter Überschau. Sie hing schwerelos zwischen den letzten Lichtstrahlen von oben und dem schattenden Goldfluss von unten, levitiert durch die Modulationen des eigenen Gezwitschers.

Eine vibratolastige Violine, eine volle Mundharmonika, ein nicht identifizierbares Blasinstrument und dazu ein klapperndes, schepperndes Rhythmusteil wurden in der Annäherung unterscheidbar. Das Kling-Klapp der Percussion klang scherzhaft komisch, und doch auch tragisch in ihrem verbissenen Versuch, sich der Wirkung eines wohlklingenden Schlagzeugs zu nähern. Valentin sah das Kindergartenschlagzeug, dieses Ärgernis für jeden Percussionliebhaber, zu denen er selbst gehörte, innerlich bereits vor sich. Es musste made in Fernost und billig im Warenhaus erstanden worden sein und würde sich bei anhaltend intensiver Nutzung wohl bald in seine Einzelheiten zerlegen.

Das Licht hatte sich weitgehend verabschiedet. Die Fensterscheiben reflektierten den blauschwarzen Himmel und deshalb vermochten die beiden die Situation im Innern des noch unerhellten Hauses erst genauer prüfen, nachdem ihre Nasen bereits das Glas berührten.

Da stand doch Hieronymus Halbeisen vor ihnen, in kurzen Hosen, barfuss und mit entblösstem Oberkörper und traktierte mit seinen Händen Valentins Vision, das er vor sich auf ein Tischchen geklemmt und mit Klebeband fixiert hatte. Das dünne Blech leuchtete in derselben Helligkeitsstufe wie die Stirn Halbeisens, die ganz auf das Tragen und Halten des musikalischen Pulses seiner drei Mitspieler konzentriert war. Jetzt erblickte er seine Tochter im Fenster, als wäre es das Normalste auf der Welt, und bedeutete ihr durch Miene und Handbewegung, ohne dabei dem rhythmischen Strom zu entsteigen, auf keinen Fall einzutreten. Valentin bemerkte nun das Mikro vor dem Mundharmonikaspieler. Die Vier waren offenbar auf Aufnahme.

Endlich verkrümelten sich die Schlussakzente der traurigen Ballade in lyrischer Besinnlichkeit, die zu besagen schien: "Ja, so ist das Leben! Zum Heulen schön, nicht wahr!" - Claude griff zur Weinflasche, die neben dem Aufnahmegerät stand und füllte sein Glas. Verunsichert überschritt jetzt Ilena die Türschwelle, während Valentin keinerlei Lust verspürte, den kleinen, überfüllten Wohnraum zu betreten. Von aussen machte das Häuschen den Anschein, als sei jener Raum ohnehin der einzig nennenswerte. Wenn irgendjemand auf der Welt nicht suizidgefährdet war, dann bestimmt jedes Mitglied dieser gruppenseligen Combo!

Auch Ilena fragte sich schon bald, was sie hier wollte. Valentin hatte vollkommen Recht gehabt! Ein umsichtig geführtes Telefongespräch hätte genügt, und sie hätten heute diesen herrlichen Abend in einem Strassenrestaurant Berlins verplaudern können. Wo war er denn überhaupt? - «Papa?»

Nachdem sie seine unbekannten Musikerkollegen, die ihre Instrumente verstauten und in die klare Sommerluft hinaustraten, flüchtig begrüsst hatte, umarmte sie ihren Vater und bemühte sich gleichzeitig, Valentin ins Haus zu locken. - «Darf ich dir meinen Freund Valentin vorstellen? Valentin, kommst du bitte mal?» - Hatte ihr Vater auch getrunken? Sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt noch Alkohol trank, doch leuchteten seine Augen in befremdlichem Glanz. - «Valentin heisst er also diesmal!» Er schaute sich nach ihm um. - «Vielleicht wäre es einfacher, du würdest mir nur jeden dritten deiner Freunde namentlich vorstellen. Ich hätte dann eine reelle Chance, mir die Namen zu merken.»

«Was ist das für ein Blödsinn, Papa, den du da von dir gibst! Du lebst nicht in der Steinzeit und leidest nicht an Alzheimer. Valentin ist ein sehr guter Freund, nichts mehr und nichts weniger.» - «Und in dich verliebt. Weshalb deine Bemerkung die Aussage impliziert, dass er kein guter Freund mehr wäre, wenn es auf deiner Seite ebenso funken würde.» - Da hatte nun ihr Vater einen jener Rücksichtslosigkeitsanfälle, die alle, die ihn näher kannten, befremdeten. Monologisierend fuhr er fort: «Das war quasi eine Standarderöffnung in der Erörterung eines der schwierigsten Themen der Menschheitsgeschichte, welches da heisst: "Über die wahre Beziehung von Sex und Liebe!"» - Ilena suchte Valentin, der sich weit fort wünschte, zu beschwichtigen: «Bitte entschuldige, das geht vorüber.» Und zu Hieronymus: «Du kommst jetzt auf den Teppich und hörst mit diesem Theater sofort auf! Niemand hört auf dein selbstgefälliges Wortgeklingel.» - «Aber aber, was heisst hier niemand! Existiere ich in deinen Augen denn gar nicht mehr!» Es war zwecklos. Dieser Musikclown beharrte weiterhin darauf, einen sehr schlechten Eindruck zu machen.

Um meinen Menschen vor einem Vorurteil des Lesers zu schützen, welches allzu leicht an dieser Stelle entstehen könnte, will ich seine seelische Lage zu erläutern versuchen: In dem Moment, wo Hieronymus Valentin das erste Mal wahrnimmt, wie er da zwei Schritte hinter Ilena stehend wartet und dabei seine Freundin in ihrer Widerrede gegen ihren Vater innerlich unterstützt, da erfasst Hieronymus in einem Augenblick die ungeklärte Wirrnis der instinktiven Beweggründe, die ihre Freundschaft bestimmt. Er sieht die zukünftigen Schmerzen Valentins bereits vor sich, die ihm aus dem Verzicht auf eine leidenschaftliche Erwiderung seiner insgeheim brennenden Liebe für Ilena erstehen, mitsamt dem langwierigen Gezerre entgegengesetzt veranlagter Triebe. Er erkennt auf einen Schlag, dass sie zusammengehören und sich dennoch nicht leicht würden ohne Schmerzen lieben können. Seine Intuition stützt sich dabei auf die ihm eigene Erfahrung in Herzensdingen.

Er fühlt sich den beiden unmittelbar verbunden und gesteht sich gleichzeitig ein, dass ihn das Ganze in keiner Weise etwas angehe. Doch wie er jeweils die Grenze zwischen dem einen und dem anderen zu ziehen hat, gehört für meinen Menschen zu den schwierigsten Dingen seines alltäglichen Seelenlebens. Ich will damit zu bedenken geben, dass, wenn Halbeisen gelegentlich jenen rücksichtslosen Attacken der Unverfrorenheit verfällt, diese nicht auf eine aggressiv verletzende Absicht zurückzuführen sind. Sie sind vielmehr missglückte Versuche, das Gleichgewicht zwischen Schauen und Verschweigen, zwischen Mitgefühl und Distanzwahrung, zwischen Unbefangenheit und erfahrungsgestützter Vorahnung herzustellen.

«Du fragst dich nicht einmal, warum ich hier bin», seufzte Ilena. «Was kümmert es den vornehmen Herrn Halbeisen, was für einen Eindruck er bei anderen hinterlässt! Ich habe mit deinem Freund Blinker telefoniert. Du hast bei ihm viel über das Leben der Verstorbenen raisoniert. Ein bisschen zu viel, fand er. Dass du dich auch im hellen Tageslicht im Dunkeln fühlen würdest, wenn die Verstorbenen nicht um dich wären, hättest du unter anderem verlautbart. Und dass die politischen Parteien ihr Sozialprogramm erweitern sollten, um die Verbesserung der Lebensqualität der Verstorbenen mit einzubeziehen. Blinker hast du mit deinen Andeutungen ziemlich verstört, da du dabei nicht einmal betrunken gewesen seist.

Und mich im übrigen auch, obwohl ich dich etwas besser kenne. Und jetzt ärgere ich mich darüber, die Fahrt hierher gemacht zu haben, nur um einen herum albernden Musikamateur vorzufinden. Deine Leistung am Schlagzeug war superb, alle Achtung! Das ist auf jeden Fall bühnenreif, wenn sich eine Bühne dazu finden sollte. Vielleicht sucht die Bezirksschule noch einen Beitrag für ihren bunten Abend? Oder spielt ihr den Blues wie immer ganz für euch allein? Und warum hast du die einzig verbliebene Verleihmöglichkeit für deine Filme aufgekündigt? Und machst Besuche, die du wie Abschiedsfeiern inszenierst!? Und verteilst grosszügige Geschenke. Ich fürchtete, dass du vielleicht geplant hast, dich umzubringen!? Stell dir das einmal vor! Wie absurd dieser Gedanke ist, nach dem Gastspiel, das du hier gegeben hast. Du feierst wohl gerade deinen zweiten Frühling? Oder ist es bereits der dritte?»

Wenn Ilena wütend wird, dann treibt sie jeweils ihren Vater zu höchst unerwarteten Schutzhandlungen. Denn argumentativ zurückschlagen, dies hat er ihr gegenüber noch nie getan. Überhaupt ist er zu Wutausbrüchen, die er an anderen abreagiert, unfähig. Wenn er sich ärgert, dann über sich selbst, alleine.

Hieronymus Halbeisen neigt seinen Kopf leicht gegen die linke Schulter, breitet seine Arme waagrecht aus, und bewegt sich kaum merklich in linksdrehenden Pirouetten. Dazu skandiert er: «Mitten im Leben, - vom Tode umgeben!» Ist er nun vollkommen übergeschnappt? Nach einer eingetretenen Pause, in der sich sowohl Valentin wie Ilena genau jene Frage stellen, wirbelt er auf die Wiese hinaus und beginnt Ilena, die ihm gefolgt ist, übergangslos folgendes mitzuteilen: «Du, ich habe da jemanden kennen gelernt, einen sehr interessanten Herrn. Du hast Professor Santi ja gesehen, beim Fahrstuhl vor der Filmschule. Denk dir, Santi hat Mama gut gekannt. Wir fuhren zusammen in die Schweiz zurück. Er war mit ihr in Sarajewo. Sie hat ihm nicht gesagt, dass sie verheiratet sei. Santi weiss, wie sie ums Leben kam. Sie war für ihre Kriegswitwenreportage unterwegs. Es geschah in jener Allee der Heckenschützen, vor dem Holiday Inn. Von hinten in den Rücken. Ins Herz. - Sie war sofort tot.»

Ilena schaut ihren Vater gefasst an, bevor sie sich umdreht und sich auf einen grossen warmen Kalkfelsen setzt, den Halbeisen vor einigen Jahren im Wald entdeckt und auf die Wiese hat kippen lassen. Valentin ist drinnen geblieben und hat von den Worten Halbeisens nichts mitbekommen. Er sieht sich bei den Büchern um und entdeckt ein umfangreiches Manuskript mit dem Titel "Die Erwärmung des Spiegels". Er würde gern darin zu blättern beginnen, aber da er Herrn Halbeisen als den Autoren vermutet, wendet er sich durchs Fenster nach ihm um. Dieser versteht Valentins Anliegen sofort und macht eine ermunternde Gebärde.

In den Papieren stösst Valentin auf viele Fotografien und Zeichnungen. Da ist Narziss über der Quelle zu sehen, die ihm sein Antlitz zurückwirft. Dann der griechische Held Perseus, der die Gorgone enthauptet. Darauf folgt eine längere Ausführung über eine ägyptische Kulthandlung. Ein Pharao ist sichtbar, welcher der Göttin Isis etwas wie eine Kreisscheibe darbringt.

«Du sollst dir wegen mir keine Sorgen machen, Ilena. Ich verfolge mit beschränkten Kräften ein überaus reales Ziel und ich bin dankbar, dass es mir in all den Jahren nicht abhanden gekommen ist. Na ja, in letzter Zeit war ich vielleicht etwas zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Vielleicht geht es den meisten so. Man führt ein eigenes Leben oder gar keins, stellt man sich vor, obwohl ein wirklich erfülltes Leben womöglich nur im Miterleben der anderen entsteht. Wie macht man das, ohne das eigene zu verlieren? - “Die teuersten Freunde, ermattet auf getrenntesten Hügeln“. So hat es Hölderlin ausgedrückt. Wenn du genauer wissen willst, wie es mir geht: In den letzten Monaten hat sich vieles geändert. Meine jahrelange Suche stösst auf neue Antworten. Ein Wort eines Sufi lautet: “Nur der Suchende findet zu Gott. Aber durch Suchen hat ihn noch keiner erkannt.“ Wie, wenn ich den Sinn meines Lebens nicht mehr zu suchen bräuchte! Er hat sich umgedreht. Er hat begonnen, mich zu suchen.» - «Ich verstehe, dann ist es ja gut.» - «Du verstehst, was ich meine? Das freut mich, das konnte ich nicht erwarten!» - Ilena umarmt ihren Vater lange und fühlt sich erleichtert, dass ihr Papa im Grunde genommen doch in Ordnung ist. «Typisch für dich, du kannst es kaum glauben, wenn dich jemand versteht», flüstert sie ihm ins Ohr. Noch während der nachdrücklichen Umarmung geht ihr durch den Kopf, dass sie mit seinem Ausspruch, dass der Sinn des Lebens ihn zu suchen begonnen habe, nicht wirk-lich etwas anzufangen weiss.

Alain mit der Violine hat sich bereits verabschiedet. Er hat vor kurzem geheiratet und wird von seiner jungen Frau mit ihrem Neugeborenen erwartet. Thierry und Claude, der erste noch Junggeselle, der zweite erst vor kurzem von seiner Frau verlassen, stehen etwas entfernt unter den Buchen am Waldrand und rauchen. «Habt ihr Lust auf eine Freiluftkinoprojektion?», ruft Halbeisen zu ihnen hinüber. «Mais oui, pourquoi pas?» Auch Ilena wird eingeladen. Halbeisen tut geheimnisvoll, als sie fragt, was es zu sehen gäbe. Was war mit Valentin?

Halbeisen erkundigt sich höflich, wenn auch etwas umständlich nach seinem Befinden. Er hat es sich bereits in seinem Ledersessel unter der grünglasigen Leselampe bequem gemacht. Das Manuskript Halbeisens liegt vor ihm. «Wenn Sie erlauben, Herr Halbeisen, würde ich lieber hier bleiben. Ich bin von der Reise doch ziemlich geplättet.» - «Ja, sicher, gerne. Mach dir einen Tee oder sonst etwas. Fühl dich wie zu Hause!»

Halbeisen wirft einen Blick auf die aufgeschlagene Seite des Manuskripts, worauf ein ägyptisches Tempelgemälde mit einem opfernden Pharao zu sehen ist. Er tritt hinter Valentin. Über seine Schulter deutet er auf das Gerät, das der Pharao in der Hand hält. «Siehst du, um was es sich bei diesem Gegenstand handelt? Nein? Das ist ein Spiegel, den der Pharao der vor ihm stehenden Göttin opfert. Der Spiegel ist das kultische Symbol für die irdischen, geistig unwirklichen Wahrnehmungsbilder, die der ägyptische Eingeweihte als Mischung zwischen Schattenwurf und Spiegelbild erlebte. Heute erleben wir für gewöhnlich die Bilder unserer Sinne ganz anders, nämlich als die einzig sicheren Wirklichkeitsgarantien. Hier, über dem Pharao, sind die Worte eingemeisselt, die er an dieser Stelle der Zeremonie jeweils gesprochen hat:

"Ich, der Erbe von Rê, des Sonnengottes; ich erleuchte mit meinem vom Herzen geliebten Spiegel das Antlitz der Herrscherin Isis, der Allgebärerin. Denn ich bin der Gebieter des Augenlichts!"

Das sagt der Pharao zur Mondengöttin, die alles Sichtbare geschaffen hat, damit sie sich in ihrem Werk anschauen lerne. Der Pharao opfert ihr den Spiegel. Ihr wahres Spiegelbild steht als der Leib des Pharaos vor ihr. Seine Lebenskraft gebietet auch über das Augenlicht im Reiche der Spiegelbilder, welche eine Göttin nicht zu sehen vermag. Und wenn die Seele des Pharaos durch seinen Leib, den er als das Werk der Göttin anerkennt, in die Welt schaut, so erblickt sie gleichzeitig die Reflexion dessen, wodurch sich die Gottheit für den Priesterkönig offenbart, - verstehst du?»

Valentin, von dieser Erläuterung schwindlig, fragt nach und verstärkt das Verwirrende damit noch erheblich: «Entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht verstanden. Wer erblickt die Reflexionen? Wen meinten Sie mit "sie": Die Seele des Pharao oder die Göttin Isis? Und antwortet daraufhin die Göttin den Worten des Pharao?» Halbeisen weist mit dem Finger auf die Hieroglyphen vor dem Antlitz der Göttin. «Ja, schau hier, das heisst, ungefähr:

Ich gewähre dir dasjenige, was das rechte Auge während des Tages, was das linke Auge in der Tiefe der Nacht erblickt.“

Was bringt Isis damit zum Ausdruck? Denk darüber nach!» - «Ja, aber verstehen Sie es?» Halbeisen: «Ich denke schon. Auf jeden Fall wüsste ich von hier aus einen interessanten Einstieg in eure Hausaufgaben für Madame Montclaire.»

Jetzt meldet sich die wartende Ilena durch die geöffnete Tür: «Hieronymus, wie lange sollen wir noch warten!» Nach einem Augenblick, Halbeisen ist bereits draussen, fügt sie hinzu: «Wieso weisst du eigentlich von unseren Schulaufgaben?» - «Mein liebes Fräulein Halbeisen, heutzutage ist alles möglich! Es gibt doch diese Fernsprechapparate.» Und etwas lauter, damit es auch Valentin drinnen hören kann: «Wann wird uns eigentlich Jens mit seinem Anhang die Ehre erweisen?» - «Na da schau her, jetzt kennst du tatsächlich sogar den Vornamen eines meiner Freunde! Du machst Fortschritte. Gut, Jens sitzt in Berlin und wird sich unterstehen, hierher zu kommen.» - «Ilena, da wär ich mir nicht so sicher!» Und aufgeräumt und freundlich schallt es ins Häuschen zurück: «Also, Valentin, halt die Stellung! Wir sind bald zurück.» Hat er wirklich nicht ahnen können, dass er soeben eine grosse Unwahrheit ausgesprochen hat.

Am westlichen Horizont saugt die Sonne, die bereits von hinter der Kulisse aus agiert, die rotorangen und türkisgrünen Farbtürme in grossen Atemzügen hinunter in die indigodunklen Fluten. Valentin wirft einen Blick durchs Fenster, das wie alle übrigen des Hauses vorhanglosen Ausblick gewährt, und ruht noch lange auf dem Bild, worin sich die kleiner werdenden Silhouetten der vier Menschen in der bereits abgedunkelten Wand des reifen Korns auflösen.

HIERONYMUS

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