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Das Zwölfte

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Hieronymus Halbeisen betritt in Solothurn als erster Kusters Laden. Ihm dicht auf den Fersen folgt Santi, der sofort hinter einem der Regale verschwindet, auf denen alte Kameras, Schnittwerkzeuge, Projektoren und Monitoren verstauben. Eine Klingel hat Kuster auf seine Besucher aufmerksam gemacht. Halbeisen quetscht sich durch einen verwinkelten Gang, der zwischen aneinander gereihten Schneidetischen, Gestellen,


Schränken und Werkbänken frei gehalten worden war und nähert sich dem sitzenden Filmtechniker, der noch keine Anstalten gemacht hat, sich zu erheben. Er ist gerade damit beschäftigt, in einen Filmprojektor eine Sammellinse einzubauen. Der Projektor ist, wie Halbeisen zu seinem Erstaunen bemerkt, mit zwei Filmspulen und zwei Projektionslampen bestückt, wobei die anzubringende Sammellinse offenbar die beiden Lichtstrahlen zu einem einzigen bündeln soll, bevor dieser durch das Projektionsfenster auf die Leinwand geworfen wird. Nachdem Kuster mit Hilfe einer vor das Auge geschnallten Lupe eine letzte winzige Schraube festgedreht hat, erhebt er den Blick und erkennt einen früheren Kunden.

Ruedi Kuster führt seine Werkstatt für Filmtechnik bereits seit vielen Jahren. Die Rolladen sind das ganze Jahr über unten. Auf Laufkundschaft ist er nicht angwiesen, und auf der Eingangstür klebt der Hinweis: "Achtung! Videoüberwacht!" Dass dies ein Scherz ist, wissen nur diejenigen, die Kusters Arbeit kennen.

Er rechnet jedem vor, wie haushoch die Qualität des Zelluloidbildes allen digitalen Trägermedien überlegen sei. Wenn 35mm-Film viereinhalb Millionen Bildpunkte aufweise, so bringe es das DVD-Format auf lächerliche vierhunderttausend. Noch das gute alte Super-8-Filmformat weise neunhundertfünfzig Tausend Bildpunkte auf. Ruedi Kuster konstruiert tatsächlich Projektoren, die Super-8-Filme im Cinemascope-Format mit Dolby Surround-Ton wiedergeben und damit alle digitalen Medien, was die Bildqualität betrifft, in den Schatten stellen, behauptet zumindest Kuster, obwohl die Grundlage seiner Bildpunktberechnung für Hieronymus Halbeisen nicht ganz greifbar wird.

Wenn man mit ihm noch auf die Lebensdauer der Trägermedien zu sprechen kommt, so sollte es jedem klar werden, in welcher verkehrten, leichtgläubigen Welt wir leben. Spätere Archäologen werden zum Schluss kommen, prophezeit Kuster, dass der Menschheit ab 1990 das Schrifttum und damit ihre eigene Geschichte zunehmend abhanden ging. Sumerische Tonscherben seien auch nach dreieinhalbtausend Jahren noch lesbar, während eine CD mit grossem Glück eine fünfzigjährige Lebenszeit erreiche. Er sieht überall nur das kurzfristige Geschäft auf Kosten sinnvoller Produkte. Die neuen Speichermedien veralten schneller, als sie unlesbar werden, pflegt er zu bemerken.

Das verpixelte Bild ist ihm ein Horror und er kann nicht verstehen, wa-rum der Konsument der Bequemlichkeit willen diesen schrecklichen Qualitätsverlust hinnehme. Dabei ergeht er sich in den höchsten Tönen über die "lebendige Wärme" des Zelluloidbildes. In ihm graviere das reale Sonnenlicht in der Camera obscura in einem alchimistischen Prozess die Abbilder dieser Welt eins zu eins in die Filmschicht, dieses Wunderwerk der Chemie, ein. Er vermag es einfach nicht zu verstehen, warum der Protest gegen die Bildlüge, die das digitalisierte Bild in Form einer Addition von atomisierten Punktwerten begehe, nicht stärker sei und wa-rum man nicht der "Sony-Mafia", wie Kuster den Gesamtkomplex zu nennen beliebt, eine Abfuhr erteile. Dass die Filmnutzung von gestern viel teurer zu stehen kam als Videotapes und Disketten, ist für Kuster interessanterweise ein weiteres Plus für den Realbildträger, wie er den Analogfilm nennt. Das diszipliniere und qualifiziere den animalischen Drang zur Reproduktion sinnlich beliebiger Eindrücke, dies gierige Habenwollen und Nichthabenkönnen der Habenichtse. Ob es denn wirklich altmodisch geworden sei, fragt er jeweils, sich vorher zu überlegen, was und vor allem warum man irgend wo und irgend etwas filme? Wenn technischer Fortschritt nur im Doppelpack mit Bewusstseinsverlust auftrete, sei der Menschheit kaum mehr zu helfen, meint er.

Kuster hasst alles, was die primären Sinneseindrücke der Farben und der Klänge in elektronische Impulse umwandelt, bevor sie, wie er sagt, aus einem unwahrnehmbar gewordenen Zustand zerhackter Datenmassen wieder zusammen gewürfelt werden. Er scheint unzählige Beispiele des modernen, mutwilligen Datenverlustes zu kennen: So seien für die amerikanische Weltraumfahrtbehörde grosse Teile der Aufzeichnungen ihrer Raumfähren aus den siebziger Jahren bereits abhanden gekommen, weil keine entsprechenden Lesegeräte mehr existierten. Das gelte auch für die aufwändig ermittelten Aufzeichnungen von Geheimdiensten auf der ganzen Welt, beispielsweise der DDR, obwohl es in diesem Fall nichts zu bedauern gäbe. Doch wenn er an die Fahrlässigkeit von Ämtern denke, Grundbuchämtern beispielsweise, welche Rechtstatbestände, die eine halbe Ewigkeit lang feststellbar sein sollen, hübsch beschrifteten und silbrig funkelnden Scheibchen anvertrauten, die kaum ein Jahrzehnt überlebten, so komme er aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Die Menschheit werde auf einer Müllhalde von Harddisk-Backups ihr geschichtliches Gedächtnis verlieren. Je älter zurück die Aufbewahrungsform, je langlebiger sei sie. Mikrofilm zum Beispiel halte mit Sicherheit hundert Jahre. Immer noch wenig im Vergleich etwa zu holzfreiem Papier oder gar Papyrus.

Halbeisen leitet sein Anliegen damit ein, dass er erwähnt, dass er und der andere Kunde geradewegs von Berlin kämen und dass es das Anliegen seines Kollegen sei, hier ruft er in den Hintergrund: "Professor Santi, würden Sie bitte nach vorne kommen", einige Dutzend Filmrollen im Neuneinhalb-Format entwickeln zu lassen. - Wie von der Tarantel gestochen drückt sich Kuster an Halbeisen vorbei und bewegt sich in den Hintergrund, Santi entgegen. - «Ja schau mal an, der Santi! Was habe ich dir denn getan, Mensch, dass du mir aus dem Weg gehst! Woche um Woche warte ich, bis sich der Herr Professor wieder mal zu zeigen geruht. Wir haben ein gemeinsames Vorhaben mit der Schwarzblendengeschichte, die dir noch vor einem Jahr von globaler Bedeutung war! Oder leidest du an Gedächtnisverlust?

Und warum überhaupt hast du es nötig, den armen Herrn Halbeisen vor dich herzuschieben? Du weisst, dass du von mir fast alles bekommen kannst. Was ist mit Neuneinhalbmillimeter? Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, die würden dir in Berlin wo auch immer das noch entwickeln?»

Halbeisen hat den Eindruck, dass er sich besser still verhalten soll und spitzt die Ohren, da der Besuch bei Kuster eine für ihn unverhoffte Wendung nimmt. Inzwischen nimmt er die eine oder andere der herumliegenden Filmkameras mit nostalgischen Gefühlen in die Hand und lässt seinen Blick über Produktteile und filmtechnische Innereien gleiten, von denen ihm einige unverständlich blieben. Beim wiederholten Betrachten des Projektors, den Kuster in Arbeit hat, fragt er sich, was die beiden Filmrollen sollen. Zwei Rollen nebeneinander mit zwei Projektionslinsen davor! Warum nicht, wenn jemand Lust auf eine gekoppelte Simultanprojektion hatte, für eine Lightshow in der Disco oder was ähnlichem. Doch auf Film? Ist das nicht endgültig vorbei? - "Nein wart mal", sagt Hieronymus zu sich, "hier sind ja gar nicht zwei Linsen, sondern nur eine! Und eine zweite ist bestimmt auch nicht geplant, denn was soll sonst die Sammellinse, an der Kuster gerade herumbastelt?" - Er kann sich einfach keinen Reim darauf machen.

Jetzt hört er, wie Santi bemerkt: «Ich hab nun mal von der Gesellschaft kein Geld mehr für die Entwicklung der Schwarzblenden-Eliminierung erhalten. Haug sagt, es lägen andere geistige Notwendigkeiten vor. In den kommenden Jahren sollten alle Kräfte auf die neue Energiequelle, du weisst schon, verwendet werden. Analoge Filme würden aus wirtschaftlichen Erwägungen schon bald vollkommen verschwunden sein. Dann gäbe es eine Weile nur digitale Bilder, bis diese mit den biochemisch direkt implantierten in Konkurrenz träten. Die Nanotechnik sei bald soweit. Du wirst sehen, er wird auch damit einmal mehr recht bekommen.

Es war gut, mit dir die Dinge zu durchdenken und die Herstellung des Prototyps hat Spass gemacht. Aber du weisst so gut wie ich, dass niemand das Risiko für eine Kuriosität auf dem schwindenden Filmmarkt tragen wird, nicht einmal aus historischen oder kulturellen Erwägungen. Die Leute haben sich in all den Jahrzehnten an das harte Staccato der Bildfolgen gewöhnt, dass kaum jemand die Qualität der physiologisch weichen Bilder in ihrer neuartigen Qualität deutlich genug empfinden könnte.»

«Kann ja alles sein, aber das heisst, dass meine Arbeit einmal mehr als zwangsgeschenkt betrachtet wird. Und überdies, ich sag es dir, in jenem Punkt irrt Haug. Niemand hatte der Vinylplatte eine Zukunft gegeben. Aber nicht alle verlieren den Sinn für qualitativ entscheidende Unterschiede. Auch im filmtechnischen Bereich nicht. Dass das dein Haug nicht einsehen kann, dieser Schwarzmaler, der er ist! Die verpixelten Readymade-Leuchtbildchen kommen doch gegen ein warmes Zelluloidgemälde niemals auf!»

Kuster schaut jetzt auf Santis verbeulten Koffer und nimmt ihn an sich. «Dieses Gewicht trägst du mit dir in der Welt herum! Und nur, um mir aus den Augen gehen zu können. Ist ja grossartig. Ich wünsche dir, dass dein Arm zur Strafe einen halben Meter länger geworden ist!» - «Jetzt mach mal einen Punkt. So schlimm war es auch nicht, denn meistens hat Herr Halbeisen geschleppt!» - Wenn die beiden Knaben sich schon über ihn lustig machen, denkt Halbeisen, dann ist es jetzt an der Zeit, sich einzuschalten.

«Ich bitte Sie, mir als Gegenleistung für meine Kulidienste erläutern zu wollen, was es mit der Schwarzblenden-Eliminierung auf sich hat.» - «Gern lieber Hieronymus, in aller Kürze», antwortet Santi. «Du weisst, dass wir im Kino fast die Hälfte der Zeit über ins Schwarze starren. Die Zeit, in der das rotierende Malteserkreuz, die Schwarzblende eben, das Projektionsfenster abdeckt. Dies wiederum tut sie, um den Transport der einzelnen Filmbilder, die ruckartig vor das Projektionsfenster gezerrt wer-den, zu verdecken. Wenn dem nicht so wäre, so gäbe es kein Kino, denn niemand würde verwischte Farbflecken auf einer Wand anstarren wollen.

Nun ist jedoch eine starke Durchleuchtung der Einzelbilder nötig, damit sie beim Zuschauer einen genügend deutlichen Eindruck machen, damit der nächste nachfolgende Bildeindruck mit der abklingenden Nachblendung durch das vorangehende Lichtbild nahtlos verschmilzt. Wenn diese Verbindung mehr als ungefähr achtzehnmal in der Sekunde geschieht, gehen die schnell aneinandergereihten Einzelbilder, die wir auf der technisch unausgereiften Stufe des Kintops noch als einzelne erkennen, in das Empfinden über, als würden sich die eigentlich starren Einzelbilder von selbst ineinander verwandeln. Das heisst: der Zuschauer glaubt seinem Eindruck, dass er es mit echter Bewegung zu tun habe. Und je mehr er den Glauben an Gott verloren hat, um so mehr sieht er sich gezwungen, an den Betrug der Technik zu glauben.» - Die technische Erklärung hätte sich Santi sparen können. Wer meint er, wen er vor sich hat! Doch die letzte Bemerkung hat ihn beeindruckt und er bedauert, dass Santi, bevor er auch nur eine Sekunde darüber nachdenken kann, bereits weitergesprochen hat.

«Nun haben Kuster und ich uns gedacht, dass man die Schwarzblende dadurch eliminieren kann, wenn wir von einem Film, wenn er entwickelt wird, jeweils zwei Rollen ziehen. Auf die erste kommen die Bilder eins, drei, fünf, sieben und so weiter, also alle ungeraden Bilder, auf die zweite die dazwischen liegenden. Die beiden Rollen werden bei der Projektion gegeneinander getaktet. Wenn die eine in Ruhe ist, wird die andere weitergezogen. Das ist alles. Es braucht nur einen kleinen Umlenkspiegel, der den leicht versetzten Strahlengang der beiden Projektionsverläufe bündelt.»

«Und was ist damit gewonnen?», fragte Hieronymus. - Jetzt antwortete Kuster: «Das Filmsehen läuft dann friedlicher ab, die Misshandlung der Augen ist viel geringer! Verstehen Sie, normalerweise braucht es eine temporäre Blendung nach jedem Bild; und die können wir uns bei unserer Projektion sparen! Das Licht kann viel schwächer werden, ohne dass dadurch die Bewegungsillusion gefährdet wird. Die Nachblendung dauert im Kino eindeutig zu lang! Sie ist die gesunde Reaktion des Sehsinnes auf seine Überreizung.»

«Und dieser Doktor Haug, von ihm hat übrigens in anderem Zusammenhang auch Horst Blinker in Berlin gesprochen, warum ist er gegen die Fortsetzung eurer Entwicklung?» - «In welchem Zusammenhang hat ihn Blinker denn erwähnt?» - «Na komm schon, Santi, beantworte mir bitte zuerst meine Frage.» - «Ich hab es doch schon gesagt. Nicht eigentlich dagegen. Er sagt, wir hätten mit allem vollkommen recht, nur müsse man Prioritäten setzen. Und die Mehrheit der Kinogänger sei bereits organisch wie psychisch soweit an die filmische Sehgewohnheit adaptiert, dass es den von uns als bedeutend eingeschätzten Unterschied kaum empfinden würde. Und man habe hundert Jahre in dieser Art Filme projiziert und darüber hinaus stehe man an der Schwelle einer neuen Bildtechnik.

Und dann wusste er wieder mal mehr als wir, dass nämlich "unsere Erfindung" älter als das Kino der Gebrüder Lumière sei. Der Bioskop, eine Projektionstechnik der Berliner Skladanowsky-Brüder, wäre im Prinzip dasselbe wie unsere vermeintliche "Erfindung". Das hat mir die Lust, weiter zu machen, gründlich vergällt. Obwohl die Skladanowsky die ersten waren, die Filme gegen Eintritt projizierten, kamen sie schon bald nicht mehr gegen die Stroboskopmaschine der Pariser Brüder an. Ich musste Doktor Haug zum Schluss recht geben. Nur, da ich meinen Kollegen Kuster als einen fundamentalistischen Filmnostalgiker kenne, wollte ich mir sein dagegen gehaltenes Gezeter nicht anhören. Was auch wiederum kindisch ist und wie du siehst zu nichts Erfreulichem führt.»

«Und warum gibt Doktor Haug bei Horst Blinker einen Film in Auftrag, wenn er das Kino sogar aus medizinischen Gründen als schädlich einschätzt?» - «Was sagst du da? Das musst du geträumt haben! So etwas ist vollkommen ausgeschlossen!» - «Lieber Santi, Sie sind offensichtlich nicht auf dem Laufenden, was Doktor Haug angeht. Er will einen Film über Reinkarnation produzieren und Blinker soll ihn herstellen. Das habe ich von Blinker selbst gehört. Wieso sollte Blinker das erfunden haben, wenn er das Geld doch schon wie sicher in der Tasche hat? Und, glaub mir, Blinker kann sehr gut zwischen realem und erfundenem Geld unterscheiden.» - «Hast du das gehört, Santi?», meldet sich Kuster zu Wort. «Uns dreht er den Geldhahn für einige wenige Tausender zu und produziert stattdessen einen millionenschweren Film. Wach endlich auf!»

Santi weigert sich zunächst, Halbeisen Glauben zu schenken. Er bewundert Doktor Haug zu sehr, um das Misstrauen Kusters zu übernehmen. - «Seine Therapie kennt nur ein Mittel gegen Film: Abstinenz von der Virtualität durch Vertiefung in die Wirklichkeit. Ich habe ihn dutzend-mal dasselbe sagen hören: Film sei am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in die Welt getreten, und mit ihm eine starke Gegenkraft gegen die Fähigkeit eines neu erwachenden, geistigen Imaginierens. Vergleichbar dem Nachäffen übersinnlicher Wahrnehmungen in den Wirkungen halluzinogener Drogen.

Realisierung durch geistige Erkenntnis und Illusionierung durch physisch-chemische Technik seien zwei im Gegensatz aufeinander bezogene Entwicklungssysteme. Geistige Wesen würden mit der menschlichen Fähigkeit zu leibfreier Produktivität leichter als in den Jahrhunderten zuvor kommunizieren, was der Konsum sklerotisierter oder halluzinatorischer Bilder jedoch verhindere. All dies ist Haug Originalton. - Verstehst du mich, lieber Halbeisen, dass ich mit der Vorstellung Mühe habe, dass er unter die Filmproduzenten gegangen sein könnte? Ich sehe ihn doch regelmässig. Ich müsste doch zuerst davon etwas mitbekommen haben!» - «Ist er denn verpflichtet, dir über alles Bericht zu erstatten?» - Santi konnte nicht feststellen, ob Halbeisen ihn kritisieren oder Haug verteidigen wollte. So wenig wie Kuster hörte er die folgenden, halblauten Bemerkungen Halbeisens. - «Die Auffassung eures Herrn Haug deckt sich vollkommen mit meiner eigenen. Wenn du nicht aus purem Mitleid mit deinen unbekannten Nachbarn im dunklen Kinoraum sitzt, was ich mal ausschliessen will, so ist es ganz vernünftig, sich die Kinos nur von aussen anzusehen. Die Fernsehgebühren zu sparen ohnehin. Aber wenn nun Blinker doch von demselben Haug gesprochen haben sollte, ich erinnere jetzt auch seinen Vornamen wieder.» - Hieronymus erhob seine Stimme: «Mir fällt soeben der Vorname wieder ein, Attila, Blinker nannte ihn Attila. Wie heisst denn Euer Haug?» - «Ebenso!» - «Dann frage ich mich, welche Beweggründe es für Haug geben könnte, seine Empfehlung einer allgemeinen Video-Abstinenz über Bord zu werfen. Seine geplante Filmproduktion hat offensichtlich mit wiederholten Erdenleben zu tun! Ich kenne mich bei diesem Thema nicht aus, aber denkt ihr, dass dies von Bedeutung sein könnte?»

Diese Frage dringt nur undeutlich an Santis wie Kusters Ohr. Sie scheint ihnen zu theoretisch zu sein, und überdies sind sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Santi schaut auf die Uhr, ein allgemein verständliches Zeichen, einen Aufbruch anzumahnen. - «Bis wann hast du die Filme kopiert, Ruedi?» - «Du kannst sie morgen abend ansehen, wenn du willst. Ich kann sie dir auch direkt in die neue Leinwand einspeisen.» - «Wie, du hast die Leinwand fertig gestellt! Ich fass es nicht! Obwohl Haug sich dagegen ausgesprochen hat!» - «Ach, Haug, Haug und nochmals Haug. Ich pfeife auf deinen Haug! Der klemmt uns die schönsten Möglichkeiten ab und spielt hinter unserem Rücken den Filmproduzenten! Der kann mich mal. Und zudem war es abgemacht und ich gehöre zu denen, die sich an Abmachungen halten. Also, was ist los, hast du Schiss? Dann schlepp deine Pathé-Rumpelkiste allein auf den Hügel! Und lass dich so schnell nicht mehr bei mir blicken. Es reicht mir endgültig!»

Santi hat Kuster noch nie so aufgewühlt erlebt. - «Nein, nein, beruhige dich. Es ist alles in Ordnung. Ich bin von der Neuigkeit schlichtweg überwältigt. Doch es freut mich natürlich, dass die neue Leinwand fertig geworden ist. Wo hast du sie denn?» - «Da!» Kuster führt Santi zur Nische in einer Wand mit einem blauen Vorhang, den er beiseite zieht. - «Schau!» Santi berührt eine metallene Rolle, die für Halbeisens Einschätzung in eine Art Fischnetz aus Kupferfäden eingewickelt ist. - «Die Tränenleinwand! Funktioniert sie denn?» - «Ich denke schon.»

Santis Stimme wird brüchig vor Rührung. Er tritt einige Schritte zurück und beginnt pathetisch zu deklamieren:

«Oh Tränen ihr, vergossen am Rande des Seins!

Schmerzgekeltert füllt ihr den Kelch der Pein.

Zum Tränen-Spiegel sinkt die Seele nieder

Und ich hör der Engel Lieder wieder!»

«Kennen Sie das, Hieronymus? Nicht? Also, das müssen Sie sich ansehen. Ich lade Sie ein zur Premiere meines Baumfilms, sagen wir morgen abend um zehn Uhr. Dann sollte es dunkel sein. Herr Kuster erklärt Ihnen, wie Sie hinkommen. Ich muss mich jetzt verabschieden. Bis morgen dann.» - Nach einer scharfen Wendung vor der Ladentüre ruft er Kuster noch zu: «Kannst du mir die Leinwand hochbringen?» - Das Nicken von Kuster war mehr ein Seufzen, das "schon gut, wie immer!" bedeutete.

Natürlich muss Halbeisen jetzt Ruedi Kuster nach der wundersamen Leinwand fragen. - «Im Wesentlichen besteht sie aus einem Glyzerin-Schleier mit bestimmten Zusätzen, die vor der Projektion zu astralisieren sind. Dadurch wird das Glyzerin zum Tränensurrogat und induziert psychische Schmerzprozesse, also Komprimierungen des Astralleibes. So fallen Reflexion und Projektion in eins zusammen und neue Bilder können sich über die primär projizierten Bilder darüber legen. Diese Theorie habe ich von Santi. Verstehen Sie, Herr Halbeisen?»

«Nein, kein Wort. Was für Bilder denn?» - «Je nachdem. Das kommt ganz darauf an, was der Zuschauer zu sehen hat.» - «Und warum ist Doktor Haug dagegen?» - «Ui, Sie haben scharfe Ohren. Das ist wohl seine ärztliche Berufskrankheit. "Keine Surrogate" ist sein Leitmotiv. Weder in der Nahrung, noch in der Erfahrung. Er will Selbsterkenntnis pur, ohne technische Unterstützung. Er wehrt sich immer, wie mir scheint, gegen so ziemlich alle neuen technischen Möglichkeiten. Diese setzen sich jedoch immer durch und schaffen dabei neue Bedürfnisse und im Schlepptau dann natürlich auch Arbeitsplätze und Einkommen. Da kann Haug seine Bedenken pflegen, bis er grün wird. Sie können sich kaum vorstellen, was für ein wirtschaftliches Potential in dieser schlichten Leinwand steckt, die Sie soeben gesehen haben. Von Haugs hoher Moral habe ich noch nicht gegessen! Er predigt, dass sich jeder in seiner Seele den Spiegel selbst vorhalten solle. In einem Spiegel aus unvergossenen Tränen, gewissermassen. Denn wenn Sie wirklich verstehen würden, warum Ihnen der Schuh drückt, so hemme das, so Haug, den Tränenfluss erheblich. Das verstehen Sie doch jetzt, nicht wahr?» - Halbeisen nickt nur, damit Kuster weiter spricht. - «Na gut, den Haug zu verstehen, ist nicht schwierig. Dass es immer nur wenige Prediger in der Wüste geben kann, liegt nicht daran, dass man sie nicht versteht, sondern, dass man sie nicht hören will!»

Die aggressive Ablehnung Haugs wird Halbeisen unangenehm. Er verabschiedet sich von Kuster und verlässt seinen Laden. Durch die bereits leeren Gassen Solothurns schlendert er dem Bahnhof zu und weiss nicht, was er denken soll. Er nähert sich der Sankt Ursuskathedrale und lässt den Blick über die beleuchteten Bildgeschichten aus Stein schweifen. Hoch oben am Kirchenfries erblickt er, auf Befehl eines römischen Zenturio, die Enthauptung des Ursus, der dem Christengott nicht abschwören wollte. "Wenn ich in seine Lage käme, würde ich für meine Überzeugung sterben oder würde ich mit einer Lüge mein Leben retten?" - Er graust sich förmlich davor, sich die selbst auferlegte Frage zu beantworten und muss jetzt rennen, damit er den Zug noch erwischt.

Als er über die Aarebrücke keucht, wirft Hieronymus einen Blick zum grossen Landhaus am anderen Flussufer hinüber. Es wurde im Mittelalter als Frachtlagerraum für die damalige Flussschifffahrt gebaut. Seit vielen Jahren schon finden unter seinem Dach die Veranstaltungen der Solothurner Filmtage statt, der jährlichen Werkschau schweizerischer Filmproduktion.

Als mein Mensch im Vorbeihasten einen flüchtigen Blick auf das Landhaus wirft, muss er aufsteigende Gefühle zurückdrängen. Er hat keine Lust, sich mit jenem Ort verbundenen Erinnerungen zu befassen. Ich lese in ihnen wie in einem Buch. Denn wer sonst sollte seine Erinnerungen für ihn aufbewahren? Irgendwann einmal wird sich Hieronymus mit ihnen auseinandersetzen wollen, schon nur, um sich endgültig von seiner Abwehr zu befreien.

«Herr Halbeisen, was bedeuten die vielen Seen, Meere, Bäche und Flüsse in Ihrem letzten Film?» - Das war vor vielen Jahren an einer Pressekonferenz, nach der Premiere seines letzten Films. Hieronymus war noch sehr jung und wollte darauf nicht nur eine befriedigende, sondern eine präzise Antwort geben. Und die gab er dann auch: - «Der Fluss bedeutet .. in meinen Augen .. bedeutet ein Fluss .. (langes Schwei-gen) .. Wasser! Oder, Wasser in Bewegung meine ich.» - Da schwappte ihm eine psychische Welle peinlicher Beklemmung entgegen, weshalb er rasch hinzu fügte: «Und natürlich, dass niemand in denselben Fluss zweimal steigen kann! Sie wissen, Heraklit.» - Darauf hielt er für die Filmjournalisten noch eine Quizfrage bereit: «Also, wenn sie der Wirklichkeit eines Flusses begegnen wollen, wo suchen Sie? - Sicher nicht auf der Landkarte, aber wo?» - Mein junger Hieronymus wiederholte sich einige Male mit immer anderen Wendungen, bis alle die versammelten Presseleute verstanden, dass er es ernst meinte, und dass er nicht bereit sein würde, auf anderes zu sprechen zu kommen, solange niemand darauf antworten wollte. Der Journalist der Basler Nationalzeitung entschied sich, auf Halbeisens Quiz einzutreten. - «Das materielle Wasser des Flusses kann es nicht sein, wie schon Heraklit bemerkte. Es ist in jeder Sekunde etwas anderes und chemisch doch wiederum in allen Flüssen mehr oder weniger dasselbe, so dass es keine Identität für Flüsse begründen kann. Also bleibt für das Dauernde nur der Name des Flusses übrig, aufbewahrt als menschliche Kulturleistung und aufgeladen mit den biographischen Erinnerungen der Menschen: Der Rhein, die Mosel, die Limmat, die Aare.» - «Ich gebe Ihnen dafür einen halben Punkt, nicht mehr und auch nicht weniger.»

Wegen solchen Auftritten wurde er immer mehr von der Presse gemieden. Sie empfanden ihn als anmassend und bei ihm komme nichts Erspriessliches heraus, was sich zu drucken lohne. Er selbst dachte, zu spielen könne allen Spass machen und sei darüber hinaus lehrreicher als nur dasjenige zu artikulieren, was man von ihm erwarte. Doch sogar diejenigen, die mitspielten, misstrauten seinem Spiel. Er selbst merkte es zu spät. Erst, als er den übermütigen Spieltrieb der Jugend endgültig abgelegt hatte.

HIERONYMUS

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