Читать книгу Der rote Brunnen - Rita Renate Schönig - Страница 11

Montag – 14. Mai 2018 / 00:25 Uhr

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Der Oberkörper der Frau lehnte gegen die Ummauerung des „Roten Brunnens“; genau in der Höhe, wo das Wasser zwischen den aus Sandstein modellierten Kinderfiguren herauslief. Ihre leeren Augen blickten ihn an. Sie hielt einen Rosenkranz in ihren, wie zum Gebet gefalteten Händen und aus ihrem Bauch pulsierte das Blut unaufhaltsam auf das Pflaster.

Philipps Herz pochte so laut, dass er meinte, es springe ihm gleich aus der Brust. Er riss sich vom Anblick der Toten los und lief den steilen, zwischen den eng stehenden Häusern verlaufenden Weg – von den Alteingesessenen „Gänseweg“ genannt – hinauf zur Kleinen Maingasse.

Danach verschwamm alles im Nebel.

Erst, als er seine Wohnung betrat, kam er wieder zu sich. Er schaute auf die Uhr. Null Uhr dreiundzwanzig. Wie konnte das sein?

Gegen halb elf hatte er mit Stella, die sich immer mal wieder zu ihm setzte, wenn es ihre Zeit erlaubte, ein letztes Glas Wein getrunken. Die Frau gefiel ihm, und sie hatten sich gut unterhalten. Danach machte er sich, zufrieden mit sich und der Welt, auf den Weg zu seiner Wohnung – keine zehn Minuten von dem italienischen Lokal entfernt.

Und doch habe ich fast zwei Stunden gebraucht? Nicht schon wieder, dachte er noch und schon eroberten weitere Bilder sein inneres Auge.

Die Gestalt beugte sich nach vorn über das niedrige Geländer. Er wollte schreien – Halt, stehen bleiben – brachte aber keinen Ton über seine Lippen. Noch zwei, vielleicht drei Schritte. Kies knirschte unter seinen Schuhen. Je näher er herankam, umso weiter entfernte sich die Person. Gerade, als er zupacken wollte, verschwand sie. Nur Augenblicke später hörte er den Aufprall und … Schreie. Ihr verzerrter Widerhall drohte seinen Schädel zu sprengen.

Erneut schreckte Philipp auf – diesmal schweißgebadet. Gleichzeitig stellte er erleichtert fest, dass er sich in seinem Bett, in seinen eigenen vier Wänden befand. Dennoch dröhnten die Schreie konstant in seinem Kopf.

Trotz der Therapie würden sie ihn wohl bis zu seinem Lebensende verfolgen … das wusste er.

Durch die zugezogenen Vorhänge machte sich der Morgen bemerkbar, weshalb er den Weckalarm um 08:30 Uhr auf seinem Handy ausstellte. Er wollte nicht verschlafen. Nein … er wollte nicht noch einmal einschlafen!

Im Badezimmer fiel sein Blick auf seinen grauen Cashmere-Pullover, der mitsamt seiner Hose, auf der Waschmaschine lag. Er konnte sich nicht erinnern, die Kleidungsstücke dort hingelegt zu haben, und trug sie ins Schlafzimmer. Anschließend ging er zurück ins Bad, drehte die Dusche auf und stellte sich unter das lauwarme, noch fast kalte Wasser.

Vielleicht zu viel Wein gestern Abend?

In Zukunft, so schwor er sich, würde er vorsichtiger sein.

Auf dem Weg zurück zum Wohnraum fixierte er sekundenlang das Telefon, als erwartete er, dass es läuten würde, und wunderte sich, dass es still blieb.

Wie jeden Morgen riss er das Blatt auf dem Tageskalender ab. Er hatte lange nach einem solchen nostalgisch anmutenden Datumsanzeiger gesucht. Er brauchte ihn als Zeichen der Normalität. Jedes Blatt ein neuer Tag.

Er goss Wasser in die Espressomaschine und drückte den Startknopf. Das Geräusch des Mahlwerks brachte die Erinnerung an den Albtraum und den knirschenden Kies zurück. Es war so real. So, als wäre es erst gestern passiert.

Claudia! Er brauchte Gewissheit.

Philipp rief in der Agentur an. Die sofort anspringende Mailbox verriet ihm, dass sein Chef noch nicht am Arbeitsplatz war. Er hinterließ eine Nachricht, dass er später käme.

Der rote Brunnen

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