Читать книгу Der rote Brunnen - Rita Renate Schönig - Страница 19
Montag / 16:20 Uhr
Оглавление„Ja, was is en do los? Kriet mer üwerhaupt nix mehr verzählt?“, polterte Sepp.
Das Dreigestirn – so Herberts Benennung seiner ehemals direkten Nachbarn – bestehend aus Gundel, Schorsch und Sepp, stürmten an Helene vorbei, sobald diese die Haustür geöffnet hatte. Wobei stürmen sich lediglich auf Gundel bezog. Bei Schorsch, der sich auf seinen Gehstock stützte, war es eher eine schlürfende Art der Fortbewegung. Während Sepp, auf unsicheren Beinen schwankend sich an der Wand entlang tastete, bis er sich laut schnaufend auf einen Küchenstuhl fallen ließ.
„Ihr wisst ja offenbar schon Bescheid“, sagte Herbert.
„Von weesche. Nix wisse mer“, dröhnte Sepp weiter. „Mir wisse nur, dass die Fraa, die erstoche worn is, Marita Leistner heeßt und, dass des vielleicht ihr Mann gewese is. Jedenfalls is der ganz fuchtelisch geworde, als die Gundel den gefrocht hot.“
„Marina Leistner hot die gehaaße“, berichtigte Schorsch. Host de widder doi Heergerät net o, weil de Batterie sparn willst?“
„Ach redd doch so koan Kokolores“, winkte Sepp ab. „Ob Marita oder Marina, des is doch egal. Tot is tot.“
Dem hatten weder Herbert noch Helene etwas entgegenzusetzen.
„Du wolltest dich doch nochmal mit Frau Hoffmann, der Nachbarin der Leistners, unterhalten? Wie kommt’s, dass du mit Herrn Leistner …?“
„Ja, wollte ich“, wurde Helene von Gundel unterbrochen. „Ich stand ja auch lange Zeit vor ihrem Haus und habe mir den Daumen an der Klingel plattgedrückt. Und, als ich schon wieder gehen wollte, kam die Therese aus dem Haus der Leistners. Da bin ich natürlich gleich rüber. Ich dachte mir … zwei Fliegen mit einer Klappe und habe dem Herrn Leistner mein Beileid ausgesprochen. Dabei habe ich ihn auch gleich mal gefragt, wieso er denn nicht bemerkt hätte, dass seine Frau nicht zu Hause war.“
„Sehr feinsinnig“, murmelte Herbert.
„Und?“ Helene hatte die Hände auf die Tischplatte gestützt und sah Gundel aus weit aufgerissenen Augen an. Sie konnte es gar nicht erwarten, mehr zu erfahren.
„Er sagte, weil er sehr spät heimgekommen sei, hätte er seine Frau nicht aufwecken wollen und deswegen im Gästezimmer übernachtet.“
Gundel schürzte ihre Lippen. „Aber, wenn ihr mich fragt –, da stimmt’s nicht mehr ganz in der Beziehung; das hat auch die Therese gesagt. Erst letzte Woche hätte sie einen lauten Streit zwischen den beiden mitbekommen. Es ging wohl um einen Brief. Aber bevor sie hören konnte, was genau dahintersteckt, knallte das Fenster bei den Leistners zu. Das hätte sie aber den Kriminalbeamten nicht erzählt, sagte sie noch, weil … das wäre ja doch Privatsache und ginge die nichts an.“
„Vielleicht hot se e Liebschaft, die Leistner‘“, schleuderte Schorsch in den Raum. „Und des, mit dem nachts dorsch die Geschend renne, ist nur so a Ausredd.“
„Des is awer dann ganz schee oastrengend … ich moan, immer so mitte in de Nacht“, hielt Sepp dagegen.
„Wieso? Die war doch noch jung. Do kenn ich ganz annere, viel Ältere, die do nachts rumstromern.“
„Escht jetzt?“, brachte Sepp seine Verwunderung zum Ausdruck. Ganz in der Art, wie sein Enkel Leon sich in letzter Zeit äußerte.
„A noja, halt net drauße, awer von oaner Wohnungsdier zur annern. Du glaabst ja net, was do bei uns so alles los is, nachts.“
„Och ja, erzähl. Des det misch jetzt schon interessiern.“
„Uns aber net“, beendete Herbert abrupt die womöglich heiklen Berichte über nächtliche Exkursionen der Senioren. „Unser Thema is der Mord an der Frau Leistner und net, wer nachts mit wem in dem Altenheim durch die Gegend geistert.“
Gruselig genug, wenn ich mir des vorstell, dachte er, um Sekunden später zu erkennen, dass Helene und er auch nicht mehr in einem knackigen Alter waren.
„Des is koa Altersheim“, begehrte Schorsch auch sofort auf. „Des is a Seniorenresidenz fer ältere Mitbürger.“
„Lass gut sein. Herbert hat sich nur falsch ausgedrückt“, versuchte Helene wieder Ruhe in die Runde zu bringen und griff nach ihrem Block, auf dem sie ihre Einkäufe notierte.
„Also. Fassen wir zusammen, was wir bereits wissen. Marina Leistner wurde heute Morgen ...“ Sie setzte ihren Stift wieder ab. „Wusste Frau Hoffmann vielleicht, wann genau ihre Nachbarin gefunden wurde?“, wandte sie sich Gundel zu.
„Die Therese sagte, es muss kurz vor halb sieben gewesen sein. Weil, keine fünf Minuten später hörte sie die Polizeisirenen und rannte sofort nach draußen, um zu sehen, was da los war und verpasste deshalb die Nachrichten im Radio.“
Helene notierte. Leichenfund: circa 06:30 Uhr.
„Das deckt sich mit den Angaben von Harald und Lars“, überlegte sie laut.
Todeszeitpunkt: zwischen Mitternacht und 1 Uhr.
„Woher weißt du das?“, fragte Gundel, mit auf den Block langgerecktem Hals. „Auch von der Kripo? Arbeiten wir jetzt offiziell mit denen zusammen?“
Herbert lachte verschmitzt. „Eher die mit uns.“
„Willst de net aach de Name von dem Opfer do hie schreibe?“ Sepp hatte sich ebenfalls halb über den Tisch gebeugt und klopfte mit seinem Zeigefinger auf Helenes Block.
„Mir wisse doch, wer des is“, wies Schorsch ihn zurecht. „Odder hoast de des schon widder vergesse?“
„Hoab isch net. Moi Gedächtnis is noch ganz gut, genauso, wie moi Ohrn. Trotzdem geheert des dodezu, dass mer aach den Name ufschreibt“, beharrte er.
„Herbert hat die Basisdaten bereits im Computer vermerkt“, erwiderte Helene, schrieb, um des Friedens willen, Opfer: Marina Leistner hinzu.
„Was ist mit Herrn Leistner? Wieso bemerkte er nicht, dass seine Frau nicht zu Hause, in ihrem Bett lag?“
„Die Therese sagte, der war geschäftlich in Leipzig unterwegs“, kam prompt Gundels Antwort.
„Um welche Zeit er nach Hause kam, wusste Frau Hoffmann nicht?“, warf Helene die Frage hinterher.
„Kurz vor zwölf, sagte sie. Doch gleich darauf wäre er nochmals weggegangen und erst um Viertel vor eins wiedergekommen. Das erzählte sie mir aber unter dem Mantel der Verschwiegenheit. Gegenüber der Polizei hätte sie nicht erwähnt, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollte, als würde sie ihre Nachbarn beobachten.“
„Hoab isch’s net gesacht.“ Schorsch schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Der Mann wars. Des is so klar wie Klossbrieh. Soi Fraa hot e Gspusi gehabt, der hot des rauskriet und hot se abgemurkst.“
„Mir müsse den beschatte!“, stimmte Sepp Schorsch zu und wedelte mit erhobenem Zeigefinger in der Luft. „In dene Krimis im Fernseher saache se immer, dass jeder Mörder irschendwann en Fehler mescht. Und dann nemme mer den in die Mangel.“
„Wir?“ Herbert hob die Augenbrauen. „Damit meinst du bestimmt die Helene und mich, oder?“
„A noja, mir sin ja doch schon a bissje zu alt fer so e Üwerwachunge, gell Schorsch.“ Auf Zustimmung heischend, blickte Sepp zu Schorsch.
Der entgegnete jedoch: „Du vielleicht ... isch noch lang net. Bei uns in de Seniorenresidenz bin isch de Jungspund.“
„Du?“ Gundel quiekte. „Du bist gerade zwei Jahre jünger als der Sepp.“
„Zwaa Johr mache in unserm Alter e ganz Menge aus. Die Britschitt seecht des aach immer. Die is grad mal 82.“
„Wer?“, fragte Sepp.
„Die Britschitt halt.“ Schorsch rutschte auf seinem Stuhl herum. „Die kennst de net. Eischentlich heest die Brigitte. Awer in Amerika, wo se loang gewohnt hot, kenne die net Brigitte saache. Deshalb solle mer se aach Britschitt rufe, weil ... do hätt se sich jetzt dro geweehnt.“
„Is des die, mit der de am Moa immer uf de Bank sitzt und die Ente fitterst?“ Sepp grinste und Gundel brachte ein „Aha“ hervor, zog eine Schnute und spielte mit einer Ecke des beigefarbenen Tischsets, das vor ihr lag.
„Woher waast du, mit wem isch uf de Bank sitz?“, fragte Schorsch zurück. „Außerdem sitze mir net immer dort und Ente tun mir schon mal gar net fittern. Des derf mer überhaupt net, weil des die Ratte ozieht.“
Gundels Kopf schnellte in die Höhe und ihr kurzer Körper streckte sich zu voller Länge. Helene hatte Mühe, sie davon abzuhalten, Schorsch an den Kragen zu springen – im wahrsten Sinne des Wortes.
Solche Ausraster – zum Glück nicht allzu oft –, waren Helene und Herbert von der 1 Meter 45 kleinen, aber quirligen Person, gewohnt; nicht aber die Aggressivität, die in letzter Zeit von ihr ausging.
War es, weil er letzte Woche die verwelkten Überreste einer Cannabispflanze, die aus ihrer Biomülltonne herausragten, in ihrem Garten vergraben hatte, überlegte Herbert. Litt sie möglicherweise an Entzugserscheinungen?
„Ja, was is en jetzt los?“ Schorsch sprang entsetzt und erstaunlich schnell von seinem Stuhl auf.
Indessen hatte Helene Gundel wieder auf ihren Sitzplatz gedrückt. „Sagtest du nicht, Herr Leistner wäre in der Nacht nochmals weggegangen?“
Gundel nickte. Nach einem nadelspitzen Blick in Schorschs Richtung, sagte sie: „Nachdem er in die Wohnung zurückgekommen war, ist er nochmal weg. Wohin konnte die Therese natürlich nicht sagen – nur, dass er in Richtung Main gelaufen ist und das ziemlich eilig. Sie hätte dann noch ein wenig am Fenster gewartet. Als Herr Leistner nach einer viertel Stunde noch immer nicht wieder zurück war, ist sie ins Bett gegangen.“
„Des is doch verdächtisch, odder?“, meldete sich Schorsch erneut.
„Allerdings. Nur ist das kein Beweis, dass er mit dem Tod seiner Ehefrau etwas zu tun hat. Wir brauchen mehr Informationen über die Familie Leistner.“
„Kann mer so was net computertechnisch rausfinne? Ihr kennt euch doch mit dem Zeusch aus un saust dauernd dorsch des elektrische Netz“, untermauerte Sepp, in der ihm eigenen Wortwahl, seine Meinung.
Bevor Herbert bildlich vor Augen hatte, wie er Hand in Hand mit Helene in den Bildschirm des Computers gezogen wurde und sie sich durch das kilometerlange Kabel zwängten, beendete Helene seine Fantasien, indem sie sagte: „Wir kümmern uns drum. Aber, ihr“, sie blickte ihre drei Besucher an, „könntet euch umhören … wenn ihr das wollt?“
„Isch kennt misch mol bei uns in de Residenz umheern“, bot Schorsch sich sogleich an.
Seit er letztes Jahr beschlossen hatte – aufgrund seines fortgeschrittenen Alters und seiner Unlust sich um sein Haus kümmern zu müssen – dieses verkaufte, um eine kleine Wohnung oberhalb des Mainuferwegs errichteten Gebäude für „Betreutes Wohnen“ zu beziehen, erzählte er voller Stolz, er würde in einer Seniorenresidenz wohnen.
„Bestimmt krieh isch was raus. Die Alte wisse immer Geschichte von friher zu erzähle. Do komme Dinger ufs Tapet, des glaabt ihr net.“
„Des glaab isch dir ufs Wort“, kicherte Sepp. „Do mescht oaner dem oanern ebbes weiß. Des is genau so, als wenn de uf de Lüschebank sitze dust.“
Schorsch schien einen Moment zu überlegen. „Weil de grad Lüschebank gesacht host. Isch kennt ja aach amol mit dem Vater von der Marina Leistner redde.“
„Du kennt den Vater von Marina?“ Intuitiv fasste Gundel nach Schorschs Arm. Instinktiv zuckte der zurück.
„Ja klar kenn isch den. Der geht jeden Daach mit soim Paul am Moa spaziern. Des is soin Hund, en Zwerschschnauzer“, klärte Schorsch seine Zuhörer auf, in deren Gesichter sich Unkenntnis breitmachte.
„Der heest deshalb Paul, weil der genauso aussieht wie der Paul von Hindeburg, unser alter Reichspräsident. Awer Paul von Hindeburg war em Heinz zu lang … deshalb Paul.“
Schorsch schaute erneut in die Runde, um sicherzustellen, dass alle ihn jetzt verstanden hatten, und fuhr fort: „Awer der is jetzt grad mit soiner Freundin im Urlaub; also de Heinz, moan isch, net soin Hund. Awer der werd bestimmt aach debei soi. Wenn isch misch rischtig erinnern du, hot de Heinz verzählt, die wollte ins Allgäu.“