Читать книгу Der rote Brunnen - Rita Renate Schönig - Страница 15

Montag / 10:35 Uhr

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„Zur Wohnadresse des Opfers, oder schauen wir uns zuerst den Tatort an?“, fragte Harald, nachdem er in der Großen Maingasse, direkt an der Kirchenmauer einen Parkplatz gefunden hatte. „Beides liegt dicht beieinander.“

„Lass uns zuerst den Ehemann befragen“, schlug Lars vor.

Kurz darauf standen sie vor einem schmucken Fachwerkhaus, in dem – laut Namensschild an Briefkasten und Klingel – Marina und Markus Leistner wohnten.

Lars schellte, woraufhin ein melodischer Singsang im Inneren des Hauses erklang. Das wars dann aber auch. Weder hörten die Kommissare, dass sich jemand der Tür näherte, noch anderweitige Geräusche. Lars versuchte es erneut, während Harald an die Fensterscheiben klopfte, mit ähnlich negativem Erfolg.

Hingegen wurde auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Fenster geöffnet. „Hallo, Sie!“, rief eine ältere Frau mit graugelocktem Haar. „Was wolle Sie von dem Herrn Leistner? Lasse Sie den armen Mann doch wenigstens heut in Ruh.“

Harald ging über die Straße. „Wir sind von der Polizei.“

Die Frau blickte mehr als skeptisch. „Des kann ja jeder behaupte. Zeige Sie mir erst mal Ihrn Ausweis. Heutzutag treibt sich einfach zu viel Gesindel rum. Manche gebe sich sogar als Polizei aus, nur damit se in die Wohnung komme und hinnerher is es Geld weg und was sonst noch.“

Harald hielt der Frau seinen Polizeiausweis vor die Nase. „Weinert ist mein Name. Ich bin von der Kriminalpolizei in Offenbach. Und Sie sind …?“

„Zumindest steht des da“, entgegnete die Frau, beugte sich weit aus ihrem Fenster, um Haralds Dienstausweis genau betrachten zu können.

„Therese Hoffmann, mit zwei F.“

Na so was … mit zwei F …, dachte Harald amüsiert.

„Jetzt wolle Sie bestimmt auch mein Pass sehe?“

„Nicht nötig, Frau Hoffmann. Mein Kollege Hansen.“ Harald machte eine Kopfbewegung zu Lars. „Wir müssen unbedingt mit Herrn Leistner reden. Wissen Sie, ob er zu Hause ist?“

„Natürlich ist der daheim. Wo soll er denn sonst sein, nachdem was passiert is. Des geht bestimmt um soi Frau, stimmt’s?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, redete die Frau ohne Punkt und Komma eifrig weiter und verfiel dabei immer heftiger in die Seligenstädter Mundart.

„Bei dem Krawall heut Morche am „Rote Brünnche“, hat ja doch die ganze Nachberschaft aus de Fenster geguckt. Na ja, die viele Polizeiautos und dann sinn ja auch noch die, in dene weiße Anzüch gekomme. Da weiß mer doch, dass da schon wieder was Schlimmes passiert sein muss. Genau wie letzt Johr, als es den Hagemann erwischt hot. Den hot mer an de „Mulaule“ gefunne. Oinische saache ja, er hätt‘s net annerst verdient – de Hartgesottene.“

Einen kleinen Augenblick schaute die Frau gedankenverloren in die Gegend. „Warn Sie damals aach dabei?“

„Ja, wir hatten das Vergnügen“, erwiderte Harald.

„Wir hoffe ja alle, dass des mit dem Mord und Totschlag hier bei uns net zur Gewohnheit wird. Mer is sich ja soi Lebe net mehr sicher. Aber eins kann ich Ihne gleich sage; der Herr Leistner hat seine Frau net umgebracht. Da brauche Se gar net erst drüber nachzudenke. Sowas könnt‘ der gar net. Der hat sogar letzt Jahr drei Ratte mit em Käfisch gefange und die dann in de Spessart gefahrn, wo er die Viecher wieder ausgesetzt hat. Ob des so nötisch war. Ratte – des muss mer sich amol überlege; da gibt’s doch werklich genug davo. Na ja, jeder wie er will.“ Sie seufzte. „Außerdem war der gar net daheim, übers Wochenende – den Herr Leistner, mein isch.“

Lars und Harald warteten geduldig, bis die Frau ihre „Aussage“ beendet hatte und einige Sekunden darüber hinaus. Als sie dann nur noch erwartungsvoll schaute, stellte Harald die Frage, auf die Frau Hoffmann noch keine unaufgeforderte Antwort gegeben hatte.

„Wann haben Sie Frau Leistner das letzte Mal gesehen?“

„Na gestern Abend um halb elf. Da hab ich se, wie immer, aus dem Haus renne gesehe. Heut nennt mer des joggen. Sie tät des brauche, damit se einschlafe kann, hat sie mir mal erzählt. Mindestens a halb Stund war se immer unnerwegs. Aber gestern Abend is se wohl länger gejoggt. Jedenfalls hab ich se net heimkomme gesehe.“

Den argwöhnischen Blick der Kommissare nahm Frau Hoffmann zum Anlass, um hinzuzufügen: „Ich kann net mehr so gut schlafe. Deshalb guck ich schon mal öfters aus em Fenster.“

„Können Sie uns vielleicht auch sagen, wann Herr Leistner gestern Nacht nach Hause gekommen ist?“

„Glaube Sie etwa, ich würd‘ meine Nachbarn bespitzele, junger Mann?“ Frau Hoffmann schaute erbost.

„Nein, natürlich nicht. Es liegt mir fern, etwas Derartiges zu behaupten.“ Lars befahl seinem Gesicht eine ausdruckslose Mimik.

„Ich mein aber sein Auto gehört zu habe“, gab Frau Hoffmann dann doch noch preis. „Des muss so um halb eins gewese sein.“

„Aber, dass er jetzt zu Hause ist, wissen Sie?“, hakte Harald nach.

„Ja, ganz sicher. Bestimmt hat er sich hingelegt – nach der ganzen Aufregung.“

„Wie war das Verhältnis zwischen Frau und Herr Leistner? Ich meine – verstanden sie sich gut, oder gab es öfters Streit?“, erkundigte sich Harald.

Frau Hoffmann überlegte einen Moment, wobei sie die Augen zum Himmel hob und schüttelte dann vehement den Kopf. „Zoff hatten die nie, wenn Sie des meine.“

„Danke, Frau Hoffmann“... mit zwei F, setzte Harald gedanklich nach.

„Wir werden unser Glück …“

„Ach, da is er ja, de Herr Leistner.“ Frau Hoffmann winkte dem Mann gegenüber zu, der in einer dunkelblauen Hose und einem hellblauen Shirt in der Eingangstür stand.

„Ich hab dene Kriminale da schon gesacht, dass Sie bestimmt schlafe“, rief sie über die Straße und schloss ihr Fenster, in der festen Überzeugung, momentan ihre Bürgerpflicht erfüllt zu haben.

Markus Leistner bat die Kriminalbeamten ins Haus und direkt die Treppe hinauf ins Obergeschoss.

„Sie müssen Frau Hoffmann entschuldigen. Sie meint es nicht böse. Ich bin sogar froh, dass sie ein Auge auf ihre Nachbarn und speziell auf unsere Wohnung wirft. Dann fühle ich mich besser, wenn Marina alleine zu Hause ist. Obwohl … genutzt hat es wohl nicht wirklich.“

Er ging den Beamten voran in den offenen Wohn- und Essbereich. Der Raum maß etwa 20 bis 23 Quadratmeter und war, mit modernen Möbeln geschmackvoll eingerichtet. Auf schwarzlackierten Regalen, die in verschiedenen Ebenen angebracht waren, standen jeweils drei Fotos in silbernen Rahmen, auf denen das Ehepaar zu sehen war; darunter ein Hochzeitsbild. Sie schienen glücklich. Die blauen Augen der jungen Frau strahlten. Die anderen Bilder – so schätzte Harald – könnten Urlaubsaufnahmen sein.

Seltsam war, dass keine sonstigen Fotos – von Verwandten, Eltern oder Freunden zu sehen waren. Dafür hingen an den Wänden einige scheinbar wertvolle farbenfrohe Kunstdrucke – soweit Harald das beurteilen konnte. Nicht alle waren nach seinem Geschmack.

Lars warf einen neugierigen Blick durch die Terrassentür. Hier hat man einen schönen Blick über die Dächer der Häuser, ging es ihm durch den Kopf.

Harald und Lars nahmen, nach einer auffordernden Geste, auf der anthrazitfarbenen Couch Platz. Auf dem Tisch davor stand eine halb volle Flasche Tamdhu – 15-jährig. Kein Whisky, den man einfach so abkippte, wie Lars von Nicole, als Whisky-Liebhaberin, gelernt hatte.

„Zuerst möchten wir Ihnen unser Beileid aussprechen“, begann Harald das Gespräch.

Markus Leistner nickte. „Danke. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Nein, danke“, brachten Harald und Lars beinahe einstimmig hervor.

„Ich dachte eigentlich auch eher an Kaffee oder Wasser“, entgegnete Markus Leistner, den Blicken der Beamten folgend. „Ich für meinen Teil, brauche dringend einen Kaffee.“

Er ging die wenigen Meter zur Küchenzeile und holte, ohne noch einmal nachzufragen, drei rote Kaffeebecher aus dem Schrank und stellte sie nacheinander unter den Ausgießer der Maschine.

Aus Erfahrung wussten die Kriminalbeamten, dass solche banalen Tätigkeiten vorwiegend dazu dienten, mit einem schockierenden Ereignis klarzukommen, und ließen den Mann gewähren.

„Stellen Sie Ihre Fragen“, kam Markus Leistner, während er noch immer an dem mahlenden und zischenden Kaffeeautomaten stand, den Kommissaren zuvor. „Obwohl ich befürchte, dass ich Ihnen keine große Hilfe werde sein können. Ich kam gestern erst so etwa um halb eins in der Nacht aus Leipzig zurück.“

„Was genau haben Sie dort gemacht?“, fragte Lars, um zuerst einmal eine vertraulichere Atmosphäre aufzubauen. Wie sich herausstellte, völlig unnötig.

Der Blick, den Markus Leistner den Beamten zuwarf, sagte: Halten Sie mich nicht für naiv.

„Ich nehme an, Sie haben bereits Auskünfte über mich und meine Ehefrau eingeholt.“ Es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.

Die Kommissare verneinten kopfschüttelnd.

„Dazu war noch keine Zeit“, erwiderte Harald, was der Wahrheit entsprach. Außer den freiwilligen Auskünften der redseligen Nachbarin wussten sie so gut wie noch nichts über das Ehepaar.

„Ach so … ja.“ Markus Hofmann holte tief Luft und legte los, als würde er eine öffentliche Präsentation abhalten.

„Ich bin Chemiker, mit dem Schwerpunkt „Produktmanagement“. Das bedeutet, ich muss mich stets über die Weiterentwicklung bestehender Verfahren ausreichend informieren. Und wo könnte ich das besser als direkt vor Ort – in der Universität Leipzig – der Fakultät für Chemie und Mineralogie.“

Lars und Harald wurden mit Kaffee versorgt. Anschließend holte Markus Leistner seinen eigenen Becher.

„Sicher wollen Sie jetzt von mir irgendwelche Unterlagen … Belege, die beweisen, dass ich tatsächlich in Leipzig gewesen bin und wie lange.“

„Das würde uns sehr helfen“, gab Harald zu. „Wenn Sie vielleicht noch einige Personen nennen können, mit denen Sie während Ihres Aufenthalts gesprochen haben, wäre das noch besser.“

„Können Sie haben. Einen Moment.“

Markus Leistner verschwand kurz. Die Kommissare hörten Schritte auf der Treppe und schauten sich zweifelnd an. Aber zwei Minuten später kam er mit einer Heftmappe zurück, in der ordentlich alle Belege für Übernachtung, Essen und Getränke, als auch Tankquittungen, abgeheftet waren.

„Ich kopiere Ihnen gerne die Belege. Eine Liste der Personen, mit denen ich gesprochen habe, gerne auch noch. Ich könnte Ihnen alles per Mail zusenden, wenn das in Ordnung ist?“

Harald nickte und reichte Markus Leistner die Mappe zurück und seine Visitenkarte. „Dann wäre es das fürs Erste.“

Lars trank den Rest seines Kaffees und fragte: „Planen Sie in den nächsten Tagen eine Reise?“

„Ganz bestimmt nicht“, entgegnete der Witwer, annähernd entrüstet. Dann wieder entspannter: „Nicht eher, bis ich … bis nach der Beisetzung meiner Frau.“

Die Kriminalbeamten erhoben sich und Markus Leistner begleitete sie die Treppe hinunter und aus dem Haus. Anschließend schloss er die Tür zu seinem Büro auf. Er machte sich sofort an die versprochenen Kopien und die Liste und schickte alles an die Mail-Adresse von Kriminalhauptkommissar Harald Weinert. Er hasste unerledigte Dinge und wollte immer alles, so schnell wie nur möglich, erledigt haben.

„Hierbei werde ich mir allerdings Zeit nehmen müssen“, murmelte er vor sich hin und nahm das Foto, das heute Morgen, zusammen mit einer Geldforderung von 5000 Euro in seinem Briefkasten lag, in die Hand. Eine Vermutung, wer der Erpresser sein könnte, hatte er auch schon.

„Du kleiner Wicher wirst dein blaues Wunder erleben.“

Der rote Brunnen

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