Читать книгу Der rote Brunnen - Rita Renate Schönig - Страница 9

Sonntag / 19:15 Uhr

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Philipp Keilmann räumte die Reste seiner Pizza in den Kühlschrank. Danach stellte er die Teetasse in die Spüle und sammelte die Krümel vom Küchentisch und warf sie in den Abfalleimer. Er wunderte sich über sich selbst. Früher war er nie so ordentlich gewesen. Da kam es häufig vor, dass das Geschirr einer ganzen Woche in der Küche verteilt stand und er kaum noch ein sauberes Hemd im Schrank hatte.

Wenn er jetzt seinen Kleiderschrank öffnete, hingen dort seine Hemden und Hosen auf Bügeln, die Shirts akkurat zusammengelegt im Regal und selbst seine Socken waren paarweise zusammengerollt.

Früher, dachte er. Klingt, als sei es eine Ewigkeit her, und dennoch ist kaum ein halbes Jahr vergangen.

Bereits vier Monate arbeitete er jetzt im Immobilienbüro und Bernd Maurer, der Inhaber, schien mit seinen Leistungen zufrieden. Aber, noch wichtiger war, Maurer stellte keine Fragen; genau wie Dr. Claudia Scherer es vorausgesagt hatte.

Weder wollte Herr Maurer wissen, weshalb Philipp seinen vorherigen Arbeitsplatz aufgegeben hatte, noch weshalb er in psychotherapeutischer Behandlung gewesen war. Die kleine Wohnung, nahe der Seligenstädter Altstadt, verdankte Philipp ebenfalls seinem neuen Chef.

Alles lief wie am Schnürchen. Fast alles. Wären da nicht noch immer diese Albträume und – was noch schlimmer war – die Stunden, die ihm fehlten … wo er nicht wusste, was zwischenzeitlich geschehen war.

Im Normalfall stand er um sieben Uhr auf, machte sich fertig und kam zwischen halb neun und neun im Büro an, je nachdem ob ihm nach Einnahme seiner Tabletten übel wurde und er sich noch ein paar Minuten hinlegen musste.

Es war aber auch schon passiert, dass er erst um zehn Uhr die Tür zur Agentur aufschloss, und nur weil sein Chef gerade an diesen Tagen einen Außentermin hatte, fiel sein Zuspätkommen nicht auf.

Was in diesen Fehlstunden geschehen war – er konnte sich nicht erinnern, so sehr er sich auch anstrengte. Auch konnte er sich nicht erklären, wie er an die Orte gelangt war, an denen er wieder zu sich kam.

Einmal stand er vor dem Brunnen im Klostergarten der ehemaligen Benediktinerabtei – ein anderes Mal befand er sich an der Fähre am Mainufer und letzte Woche kam er, auf der Treppe der Basilika sitzend, in die Gegenwart zurück.

Waren es Anzeichen, dass er wieder in der Psychiatrie musste … in diese kalte, emotionslose Einrichtung, zu den apathisch dahinvegetierenden Menschen?

Lange hatte er gezögert mit seiner Ärztin, Dr. Claudia Scherer, darüber zu sprechen. Als er sich letzte Woche doch dazu überwand, beruhigte diese ihn jedoch schnell.

Jedem von uns wäre es doch schon mal passiert, dass er in Gedanken wahllos in der Gegend herumspaziert sei. Und, nach dem was er durchgemacht hatte, wäre das nicht verwunderlich und schon gar nicht besorgniserregend.

Durchgemacht hatte Philipp wahrlich eine ganze Menge. Ohne Claudias Hilfe – wenn er an sie dachte, nannte er sie beim Vornamen – hätte er es niemals geschafft; davon war er überzeugt. Ein Grund mehr, weshalb er Angst hatte, irgendwann … vielleicht schon bald, ohne sie auskommen zu müssen. Er wusste selbst, dass dies ein Widerspruch in sich war. Einerseits wollte er diese dunkle Seite hinter sich lassen – andererseits fürchtete er sich vor einem Leben ohne sie.

Die Gefühle, die er für Claudia Scherer mittlerweile empfand, gingen weit über das hinaus, was man eine Patienten-Therapeuten-Beziehung nennen mochte. Ihm war aber auch bewusst, dass es keine andere Beziehung geben würden … schon gar keine romantische.

Claudia war verheiratet.

Es wird Zeit, dass du dein Leben wieder selbst in die Hand nimmst, maßregelte er sich. Du bist ein erwachsener Mann von fünfunddreißig Jahren und kein pubertierender Teenager.

Entschlossen ging er ins Schlafzimmer, tauschte seine Jogginghose und sein zerknittertes Shirt gegen eine Jeans und ein kariertes Kurzarmhemd. Im Flur warf er seinem Pendant im Spiegel ein Lächeln entgegen.

Es gelang nur halbwegs.

Die warme Abendluft trieb mehr Menschen aus ihren Häusern, als er angenommen hatte. Der Außenbereich des von ihm bevorzugten Restaurants war entsprechend voll besetzt oder nur noch einzelne Plätze an Tischen frei. Ihm war aber nicht danach, sich zu wildfremden Leuten setzen, weshalb er seinen Weg fortsetzte, zu der einige Meter entfernten Pizzeria.

Im dortigen Biergarten fand er einen leeren Tisch und bestellte ein großes Weizenbier.

Er sah sich um. An den Tischen saßen fröhlich plaudernde Menschen und auch einige verliebte Pärchen.

Philipp stellte sich vor, hier mit Claudia zu sitzen. Was wäre das wohl für ein Gefühl sie in den Armen zu halten, ihre warme Haut zu spüren und sich in ihren magischen grünblauen Augen zu verlieren?

„Ihr Weizenbier, bitte sehr.“

Eine etwa dreißigjährige Frau mit großen dunkelbraunen Augen stellte das Getränk mit einem herzlichen Lächeln vor Philipp ab. Dabei fiel ihr langer, dunkler Zopf über ihre Schulter.

„Möchten Sie vielleicht auch etwas essen?“

„Oh, eh … danke … nein“, stammelte Philipp. „Ich muss gestehen, ich hatte gerade eine halbe Pizza. Microwelle“, fügte er schnell hinzu.

„Aus der Mikrowelle?“ Die junge Frau schüttelte verständnislos den Kopf und lächelte. „Kein Wunder, dass Sie nur die Hälfte gegessen haben.“

Sie reichte Philipp eine kleine Speisekarte. „Wenn Sie doch noch ein wenig Hunger verspüren …“

„Sie verstehen Ihr Geschäft.“

„Wenn es nicht so wäre, hätte ich schon lange schließen müssen.“

„Ach, Sie sind die Inhaberin?“

„Ich bekenne mich schuldig.“ Nun lachte sie. „Deshalb muss ich mich jetzt auch um meine anderen Gäste kümmern.“

„Eine Kleinigkeit könnte ich doch noch vertragen“, sagte Philipp, als sie sich bereits abwandte. „Was würden Sie mir empfehlen?“

„Vielleicht eine Vorspeise? Unser „Italienischer Teller“ mit Parmaschinken, Käse und Salami. Oder auch das „Krabbenpfännchen“ in Öl und Knoblauch.“

„Krabbenpfännchen hört sich sehr verlockend an. Aber, ich muss morgen wieder arbeiten. Eine Knoblauchfahne macht sich da nicht so gut. Mit dem Parmaschinken könnte ich mich anfreunden.“

„Kommt sofort, der Herr.“

Gerade eben noch wünschte Philipp sich Claudia an seiner Seite, ihr tief in die Augen zu schauen und ihrer samtartigen Stimme zu lauschen und nun starrte er dieser italienischen Schönheit hinterher.

Zwei total verschiedene Frauen, aus gänzlich unterschiedlichen Welten und doch spürte er, dass beide eine geheimnisvolle Ausstrahlung umgaben.

Mit der Vorspeise brachte ihm die Inhaberin des italienischen Restaurants auch ein Glas Rotwein.

„Auf Kosten des Hauses und natürlich aus meiner Heimat.“

„Und wo ist das?“, fragte Philipp.

„Die Toskana, Bella Italia.“

Ein sehnsüchtiges Lächeln überzog das hübsche Gesicht.

Der rote Brunnen

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