Читать книгу Der rote Brunnen - Rita Renate Schönig - Страница 23
Montag / 21:35 Uhr
ОглавлениеStella betrachtet Philipp vom Tresen aus. Seit Stunden saß er an dem Tisch in der Ecke, knabberte ab und zu am restlichen Brot und nippte abwechselnd am Rotwein oder dem Wasser.
Was hat er nur? Warum ist er so traurig? Kurzentschlossen nahm sie eine neue Flasche Rotwein und ein Glas.
„Das ist ja nicht zum Angucken. Du vergraulst mir ja noch die Gäste“, schmunzelte sie und nahm ihm gegenüber Platz. „Willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt?“
„Ich bin mir selbst nicht sicher“, erwiderte Philipp und umfasste den Stil des Weinglases, als müsste er sich daran festhalten. „Vielleicht bin ich ja verrückt. Vielleicht muss ich wieder zurück in die … Psychiatrie.“
Er sah Stella direkt in die Augen. „So, nun ist es heraus. Ja, ich war eine Zeit lang in einer solchen Einrichtung.“
„In der Psychiatrie?“, wiederholte Stella, mit großen Augen. „Weshalb?“
Philipp sah sich um. An einem Tisch am Eingang saßen vier Jugendliche und zwei Männer warteten vor der Theke auf ihre Bestellungen. Ansonsten war niemand im Lokal.
„Versprich mir, dass du es für dich behältst. Außer meiner Ärztin, weiß niemand davon.“
„Selbstverständlich.“
Noch immer unsicher, ob er wirklich sein Geheimnis preisgeben sollte – er kannte Stella ja erst seit gestern, und kennen? – Na ja, auch nicht wirklich – begann Philipp dann doch zu erzählen. Es war sein Bauchgefühl, das ihm sagte: Ihr kannst du vertrauen.
Philipp berichtete von einem Leben, das in einer anderen Welt stattgefunden hatte – der Welt der Finanzen, des Investmentbankings, des großen Geldes aber auch der Täuschung und des Betrugs.
„Die Arbeit in der Bank hat mir Spaß gemacht; hinter dem Schalter zu stehen oder die Kunden zu beraten und ihre wenigen Spareinlagen durch eine bestmögliche Verzinsung aufzuwerten. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal in die oberen Etagen aufsteigen würde. Solche Ambitionen hatte ich nie – und es mir auch nicht zugetraut; obwohl ich schon immer gut mit Zahlen umgehen konnte.
Eines Tages wurde ich ins Büro von Dr. Mehlhorn, dem Leiter der Bankfiliale, gerufen. Ich dachte schon, ich hätte irgendeinen Fehler gemacht. Stattdessen bot er mir an in der Investmentabteilung mitzuarbeiten. Dort wäre gerade eine Stelle freigeworden.
Natürlich hatte ich von den hohen Vergütungen gehört, die in diesem Geschäftsbereich üblich waren. Also sagte ich zu. Wie heißt es so schön … Geld kann man immer gebrauchen. Zu spät bemerkte ich, dass die Arbeit mich auffraß. Ich begann Aufputschmittel zu nehmen und Beruhigungsmittel – immer mehr und immer stärkere – damit ich meine Arbeit erledigen konnte.“
„Wie bist du da drangekommen?“, unterbrach ihn Stella. „Ich meine, kein verantwortungsvoller Apotheker händigt dir ständig Aufputsch- und Beruhigungspillen aus.“
„Ich kannte Dr. Claudia Scherer, die Ärztin der Klinik im Taunus, in der ich mich später selbst einwies, schon vorher. Dr. Mehlhorn nannte mir irgendwann ihre Adresse.“
„Ach?“, erwiderte Stella. Jeder andere hätte diesen kurzen Ausruf als misstrauisch empfunden. Nicht so Philipp.
„Als die Polizei mit einem Durchsuchungsbeschluss in der Bank erschien“, fuhr er fort, „und mich festnahm, war ich mehr oder weniger high und wusste gar nicht so recht was mit mir geschah. Ich konnte auch nicht erklären, weshalb ich auf dem Dach des Bankgebäudes stand – gerade, als sich Dr. Martin Mehlhorn runterstürzte. Die offizielle Version war also Suizid.“
„Was heißt das … die offizielle Version?“, fragte Stella. „Du hast ihn doch nicht etwa runtergestoßen?“
„Das ist es ja, was mir ständig durch den Kopf geht. Ich weiß es nicht genau.“
Erneut hatte Philipp dieses andere Szenario vor Augen. Seit jenem Tag hatte es sich in seine Netzhaut und in sein Gedächtnis gebrannt.
„Ich sehe mich immer wieder auf diesem Dach, nur Schritte von ihm entfernt. Mehlhorn steigt über das Geländer und als ich die Hand nach ihm ausstrecke, lacht er und springt. Warum lacht er? Oder bilde ich mir das nur ein?“
Philipp schaut Stella erschöpft an.
„Was sagt deine Ärztin dazu?“, fragte sie, weil ihr sonst momentan nichts anderes einfiel.
„Sie meint, ich hätte ein zu sensibles Naturell, weswegen ich mir die Schuld für Dr. Mehlhorns Suizid geben würde. Vermutlich hat sie recht.“
„Vermutlich“, wiederholte Stella, nun ebenfalls in Gedanken. „Wurdest du wegen des Suizids deines Vorgesetzten angeklagt?“
„Nein. Die rechtsmedizinische Untersuchung konnte keinerlei Spuren feststellen – weder an Dr. Mehlhorn, noch an mir – die einer Anklage hätten standhalten können. Ich würde aber gerne wissen, was sich wirklich da auf dem Dach abgespielt hat. Und – ob ich vielleicht doch etwas mit seinem Tod zu tun habe.“
Entschlossen schüttelte Stella den Kopf. „Ganz bestimmt nicht.“
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“, fragte Philipp verwundert. Dass ihn zurzeit andere Dämonen fast wieder in den Wahnsinn trieben, erzählte er Stella nicht … noch nicht. „Wir kennen uns doch …“
„Ich habe eine sehr gute Menschenkenntnis. Du kannst mir glauben, du hast niemanden getötet. Das könntest du gar nicht.“
***
Nachdem sie das Licht im Restaurant gelöscht hatte, ging Stella in ihre Wohnung im ersten Stock. Das Gespräch mit Philipp hing ihr noch immer nach. Sie fragte sich, ob sie wirklich eine so gute Menschenkenntnis hatte, wie sie behauptete, oder sich nur einbildete, die Leute einschätzen zu können?
Wenn ein Gast durch die Tür kam, konnte sie an seinem Gesicht ablesen, wie er drauf war; entsprechend reagierte sie. Das hatte aber nicht wirklich etwas mit Menschenkenntnis zu tun – eher mit Beobachtungsgabe.
Weshalb interessierte sie sich überhaupt für Philipps Leben? Oder war es nur Philipp? Was wusste sie schon über diesen 1 Meter 80 großen Mittvierziger, mit den dunkelbraunen welligen Haaren und den sanften braunen Augen?
Obwohl es bereits kurz nach Mitternacht war, holte sie die angebrochene Flasche Chianti aus der Küche und schaltete den Fernseher ein. Sie zappte durch verschiedene Kanäle und schaltete wieder ab. Stattdessen startete sie ihren Laptop. Sie wollte mehr über den Finanzskandal erfahren und den anschließenden Suizid von Mehlhorn.
Nach Eingabe einiger Stichworte hatte sie gefunden, was sie suchte.
Filialleiter stürzt vom Dach der Commerzbank in Frankfurt. Es war kein schöner Anblick, der sich heute Morgen den Passanten, auf ihrem Weg zur Arbeit bot. Direkt vor dem Eingangsbereich lag Dr. Martin Mehlhorn, der Leiter der Bank, in einer Blutlache.
Was es ein Unfall oder Suizid? Noch hält sich die Polizei bedeckt. Die Untersuchungen laufen.
Stella überflog den nachfolgenden Text, der wenige Erkenntnisse brachte. Auch folgten keine weiteren Informationen. Es sah fast so aus, als ob Polizei und Staatsanwaltschaft der Presse einen Maulkorb verpasst hätte.
Sie gab den Namen der Bank ein und Dr. Martin Mehlhorn. Fand aber keine Angaben über dessen Person, obwohl er jahrelang in der Bank gearbeitet hatte. Es schien so, als hätte er nie existiert. Dann stieß sie auf einen Bericht, in dem vom Niedergang des deutschen Bankensektors die Rede war, von Gewinneinbruch aufgrund der Zinspolitik und Stellenstreichungen. Die Finanzbranche wird von einer Selbstmordwelle erschüttert, hieß es an anderer Stelle. Acht Freitode in weniger als drei Monaten. Experten machen dafür den steigenden Leistungsdruck verantwortlich.
Hatte man Mehlhorn zum Bauernopfer gemacht … ihn dazu gebracht, Suizid zu begehen? Aber wie? War es möglich, dass irgendwer Philipp dazu benutzt hatte? Aber wer und wie?
Der Gedanke, der Stella nicht mehr losließ, war gleichermaßen absurd, wie auch wieder logisch. Sie wusste, sie musste dem nachgehen. Aber nicht mehr heute.
Sie trank ihr Glas Wein, von dem sie bis jetzt noch keinen Schluck getrunken hatte, in einem Zug aus.