Читать книгу Der rote Brunnen - Rita Renate Schönig - Страница 5
Der rote Brunnen
ОглавлениеProlog
Gleißendes Licht fiel durch vergitterte Fenster. Staubpartikel schwebten auf langen, fingerartigen Sonnenstrahlen durch den Raum; nur hin und wieder unterbrochen, durch sich geisterhaft bewegende Gestalten, entrückt jeglicher Realität. Der Geruch von Kamillentee und Desinfektionsmittel lag in der Luft und – eine unterschwellige Unruhe und Furcht.
Blumen oder auch nur eine Grünpflanze, hätten dieser Tristesse womöglich den Anschein von Lebendigem vermittelt. Doch derartiges Schmuckwerk suchte man hier vergebens.
Neun quadratische Metalltische, exakt angeordnet in Dreierreihen und im mausgrauen Linoleumboden verankert, mit jeweils zwei gegenüberstehenden Stühlen waren die einzigen Möbelstücke.
Drei in weiß gekleidete, kraftstrotzende Männer, deren Augen unentwegt durch den kahlen Raum glitten, unterhielten sich leise.
An einem der Tische saßen sich zwei Männer gegenüber. Minutenlang stierten sie bewegungslos auf ein leeres, auf der Tischplatte aufgemaltes und kaum noch erkennbares Schachbrett. Einer der beiden streckte seine Finger aus und platzierte eine imaginäre Figur außerhalb des Spielbrettes.
„Schachmatt.“
Sein Mitspieler blickte erbost auf. „Das war ein Springer. Du kannst mit einem Springer kein Schachmatt herbeiführen.“
„Das war der König. Hast du keine Augen im Kopf?“
„Und ich sage, es war der Springer“, beharrte der andere. „Ich hab’s genau gesehen. Du bist ein Betrüger!“
Beide sprangen gleichzeitig auf. Ihre Stühle kippten nach hinten. Hart aufschlagendes Metall zerteilte die bislang trügerische Stille.
Eine Frau in einem rosafarbenen Morgenmantel – sie hatte pausenlos das gleiche Kinderlied gesummt – verstummte. Sie presste ihre Puppe an sich und flüsterte mit ängstlicher Stimme: „Aufhören, bitte seid doch leise, meine Tochter schläft.“ Sie lehnte sich an die Wand, ging in die Hocke und wiegte sich und die Puppe sanft hin und her.
Währenddessen schrie ein kleiner, hutzeliger Mann in Filzpantoffeln und in einem, ihm viel zu großen rotblau gestreiften Bademantel hysterisch: „Dämonen! Die Dämonen! Sie sind wieder da.“ Er schlurfte auf die beiden Schachspieler zu und hob abwehrend seine Hände. „Weiche, Satan! Ich befehle es dir.“
Zwei der Weißgekleideten stürzten herbei. Eine Minute später kehrte wieder diese friedlose Ruhe ein. Die Injektionen taten ihre Wirkung und die beiden Verursacher des kurzen Aufruhrs setzten sich und glotzten erneut mit entrücktem Gesichtsausdruck auf die Tischplatte.
Aus der entgegengesetzten Ecke des Raums ertönte ein keckerndes Lachen. Der Mann – ein Hüne von 1,89 Meter – kauerte auf dem Fußboden und hielt seine Beine umschlungen. Trotz seines glasigen Blicks hatte es den Anschein, als amüsierte er sich.
***
Philipp Keilmann hörte und sah nichts von dem, was sich ein Stockwerk tiefer ereignete. Trotzdem wusste er, was sich dort unten abspielte. Er selbst hatte es, während der ersten Tage seines Aufenthalts in der Klinik, erlebt. Vierunddreißig Tage war es jetzt her; vorausgesetzt er konnte sich auf die Aussage seiner Ärztin verlassen.
Der Aufenthaltsraum, in dem er sich befand, war mit Holztischen und Holzstühlen ausgestattet. Bilder an den Wänden, mit abstrakter Malerei, sollten eine angenehme Stimmung erzeugen und die psychische Situation erträglicher machen; ebenso die vor sich hin blubbernde Kaffeemaschine auf dem Tresen und die kleinen süßen Törtchen, die jeden Nachmittag bereitstanden.
All das konnte Philipp nicht wirklich vergessen lassen, wo er sich befand und … warum.
Auch jetzt tauchten wieder nebulöse Gedankenfetzen vor seinem geistigen Auge auf, ergaben aber noch immer kein Gesamtbild; jedenfalls keines das ihm erklärte, weshalb er auf dem Dach der Commerzbank gestanden hatte und wie er dort hingelangt war. Erst lautes Stimmengewirr und wild gestikulierende Menschen hinter ihm, hatte ihn in die Wirklichkeit zurückgebracht – ihn erschrocken umsehen lassen – in der Hoffnung, dass die Aufmerksamkeit nicht ihm galt. Außer ihm stand da aber niemand an der Ummauerung.
Nun schüttelte er den Kopf und die Erinnerungsfetzen verteilten sich. Er blickte hinaus auf die sorgfältig gemähte Rasenfläche und auf die zwei Frauen auf der Bank, am Rande des Kieswegs. Die Jüngere strich immerfort über die Hände der Älteren. Deren Blick war jedoch starr nach vorn gerichtet. Philipp wusste, die alte Frau lebte in ihrer eigenen Welt. Nur hin und wieder erlaubte sie Außenstehenden einen kurzen Einblick. Vor zwei Tagen hatte er die Ehre. Danach war er sehr traurig; während die alte Frau in ihr für sich geschaffenes Universum zurückkehrte und lächelte.
„Philipp, Doktor Scherer erwartet Sie.“
Philipp zuckte zusammen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte der Weißgekleidete mit ernster Miene.
„Ja, ja. Ich war nur in Gedanken“, antwortete Philipp. „Alles bestens.“
Claudia Scherer begrüßte Philipp mit einem strahlenden Lächeln und bat ihn mit einer Stimme, bei der Philipp an dunkelroten Samt denken musste, auf ihrem bequemen Sofa Platz zu nehmen, während sie sich, ihm gegenüber, in einen Sessel setzte.
Ihre bloße Gegenwart gab ihm ein sicheres Gefühl. Wogegen ihm alles andere um ihn herum Angst machte. In manchen Momenten fragte er sich, ob er wohl so enden würde wie die beiden Schachspieler? Hätte er die Wahl, so wäre ihm das Schicksal der alten Dame schon lieber; lächelnd in einer anderen Welt gefangen.
„Sie haben enorm gute Fortschritte gemacht, Philipp“, begann Claudia Scherer das Gespräch. „Ich denke, in etwa einem Monat können Sie uns verlassen.“
„Oh, schon?“ Philipp traf diese Nachricht völlig unvorbereitet. Sein Herz klopfte stark.
„Ja, freuen Sie sich denn nicht?“ Claudia Scherer beugte sich vor. Der dezente Duft ihres Parfüms vermittelte Philipp ein Gefühl des Geborgenseins. Ganz anders als die Gerüche, die durch die abscheulichen Gänge und Räume der Anstalt waberten und eine seelenlose Atmosphäre verbreiteten.
Sie stand auf und setzte sich neben ihn.
„Sie sind wieder gesund. Es war nur eine, nennen wir es, Fehlinformation in Ihrem Gehirn. Natürlich müssen Sie noch, bis auf weiteres, ihre Medikamente nehmen.“
Ganz beiläufig ergriff sie Philipps Hand „Sie zittern. Ist Ihnen nicht gut?“
„Eh … nein“, stotterte Philipp. Wie hätte er ihr sagen können, dass er sich, seit seinem ersten lichten Augenblick, in diese grünblauen Augen, mit denen sie ihn jetzt ansah, verloren hatte. Solche Augen, deren grün schimmernde Pupillen mit einem fast dunkelblauen Rand umgeben waren, hatte er zuvor noch niemals gesehen.
Er senkte den Blick und murmelte: „Ich ... ich dachte nur, ich wäre noch nicht soweit.“
„Denken Sie das oder hoffen Sie es, Philipp?“
Er erschrak. War er so leicht zu durchschauen? Er kam sich vor wie ein Teenager, der seiner ersten großen Liebe gegenüber saß und nicht wusste, was er nun tun sollte.
Natürlich wollte er raus, aus dieser Stätte des Wahnsinns und das so schnell wie möglich, bevor er selbst zu einem Teil dieses Tollhauses werden würde. Aber wie sollte sein Leben dort draußen weitergehen – ohne sie? Darüber zerbrach er sich in manchen Nächten den Kopf. Auch wollte er nicht wieder in seinen alten Job zurück; was ohnehin nicht möglich wäre, denn kein Bankhaus würde einen Mann einstellen, der das Geld anständiger Sparer verspekuliert hatte, wenn auch nur auf Anweisung seines Vorgesetzten. Doch das hatte ihm vor Gericht schon niemand geglaubt und beweisen konnte er es nicht.
Das Gegenteil war der Fall: Die Beweise gegen ihn waren zu belastend und genutzt hatte es letztendlich den Opfern auch nicht. Ihr Erspartes war futsch. Nur einen geringen Anteil zahlte ihnen die Bank aus, sozusagen als Wiedergutmachung. In erster Linie jedoch, um den Imageverlust zu begrenzen.
Hingegen sah er, Philipp, sich einem unbarmherzigen Blitzlichtgewitter und Buhrufen ausgesetzt, als er das Gerichtsgebäude verließ.
Gerade in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Finanzwirtschaft mehr als angeschlagen war, hofften viele der geprellten Anleger auf ein Urteil, das wenigstens ihr moralisches Weltbild wieder ins Gleichgewicht brachte. Stattdessen erhielt Philipp nur eine Bewährungsstrafe. Ein Affront gegenüber den Betrogenen, wie viele meinten, und für die Presse ein gefundenes Fressen.
„Philipp?“ Ihre samtene Stimme und der Druck ihrer Hand brachten ihn wieder in die Gegenwart zurück. „Sie sorgen sich, wie die Welt dort draußen Sie aufnehmen wird, stimmt’s? Und Sie machen sich gewiss Gedanken, wie Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen sollen?“
Philipp nickte.
„Ja, das verstehe ich.“ Die Psychotherapeutin stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. „Ich habe mit einem guten Bekannten gesprochen. Er ist Immobilienmakler in Seligenstadt und sucht einen zuverlässigen Mitarbeiter. Hier.“ Sie reichte Philipp eine Visitenkarte. „Ich habe ihm erzählt, dass Sie sich beruflich verändern möchten. Das ist ja nicht einmal gelogen, nicht wahr? Wenn Sie wollen, könnten Sie am nächsten Ersten in seiner Agentur anfangen.“
Philipp schaute auf die Karte.
Dr. Claudia Scherer bemerkte sein Zögern. „Nun ja, ich weiß, es ist nicht gerade ein Traumjob für jemanden der …“
„Nein, nein“, warf Philipp ein. „So meinte ich das nicht. Es ist nur – ich verstehe nichts von Immobilien.“
„Sie verstehen etwas von Zahlen und haben keine Probleme im Umgang mit Menschen. Das sollte genügen.“
„Haben Sie ihm erzählt, dass ich …?“
„Was? Dass Sie einer meiner Patienten sind? Aber nein, Philipp; wo denken Sie hin. Sie wissen doch … die ärztliche Schweigepflicht.“
Natürlich hatte sie nichts erzählt, verwarf Philipp seine panischen Gedanken. Das würde Claudia niemals tun.
Er hatte nicht angenommen, dass sein Wiedereinstieg in die Welt dort draußen so bald erfolgen würde – schon gar nicht in beruflicher Hinsicht. Er war mehr als überrascht.
„Nun, was sagen Sie? Wäre das eine Perspektive für ein neues Leben?“
„Danke.“
„Soll das ein JA bedeuten?“
Philipp nickte erneut.
„Na fein. Dann wäre das auch geklärt.“ Dr. Claudia Scherer nahm wieder neben Philipp Platz.
„Und keine Sorge. Ich werde auch weiterhin über Sie wachen. Ich muss es sogar. Sie werden einmal wöchentlich in meine Sprechstunde kommen müssen.“
Philipp hob langsam den Kopf. Von müssen kann keine Rede sein, dachte er.