Читать книгу Der rote Brunnen - Rita Renate Schönig - Страница 18

Montag / 16:00 Uhr

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Nicole fuhr in die Parklücke, die ein herausfahrender Wagen gerade hinterlassen hatte; ansonsten war der Parkplatz des rechtsmedizinischen Instituts in der Kennedyallee proppenvoll.

Das bedeutete jedoch nicht zwangsläufig, dass die Toten sich in den Kältekammern stapelten.

Rechtsmediziner unterstützen die Justizbehörden nicht nur bei ihren Ermittlungen, die Todesursachen und -umstände bei Mordfällen zu klären. Ihre Aufgabe besteht auch darin, mutmaßliche ärztliche Kunstfehler aufzuspüren, eventuelle Pflegemängel sowie Kindesmisshandlungen und sexuellen Missbrauch aufzudecken. Desgleichen stellen sie biomechanische Verletzungen, aufgrund von Unfällen, fest und die Fahrtüchtigkeit, infolge körperlicher Mängel – Drogen oder Alkoholmissbrauch.

Auch gehört die forensische Altersdiagnostik – sowohl bei nicht identifizierten Toten – aber auch bei noch lebenden Personen zu ihrer Arbeit.

„Der hat wohl gerade einen Vaterschaftstest gemacht“, kommentierte Dietmar Schönherr den mürrisch blickenden Mann, der die Kommissare am Eingang beinahe über den Haufen rannte.

„Sprechen Sie aus Erfahrung?“ Nicole schmunzelte und sprach gleichzeitig den Mann am Empfang an. „Hallo, Herr Angerer. Wir sind wegen der Obduktion von Marina Leistner hier.“

„Ich kenne diesen Gesichtsausdruck aus der Zeit, als ich hier …“

„Dietmar?“, wurde Dietmar Schönherr von dem etwa 50-jährigen, unterbrochen. „Menschenskind. Dich hab ich ja schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“

Angerer eilte hinter seinen Tresen hervor und die Männer begrüßten sich mit einem sichtbar festen Händedruck.

„Danke, gut und dir, Christoph?“

„Auch gut. Hab gehört, dass du zur Mordkommission nach Offenbach gewechselt bist. Hab mich schon gefragt, wann du hier aufschlägst.“

„Sie kennen sich?“ Nicole war kurzzeitig verwirrt.

„Na klar. Dietmar arbeitete hier eine Zeit lang, während seines Studiums. Wussten Sie das nicht?“

„Nein, das wusste ich nicht“, erwiderte Nicole scharf.

Sie mochte es überhaupt nicht, wenn sie nicht ganz genau über ihre Mitarbeiter Bescheid wusste. Weshalb sie nun sagte: „Was, wenn man fragen darf, haben Sie hier gearbeitet?“ Ihr Blick heftete sich auf den Kollegen.

„Ich war für …“

„Ah, Nicole“, dröhnte die sonore Stimme von Dr. Martin Lindner durch den Raum und enthob den Kriminaloberkommissar dadurch einer Antwort. „Dann können wir sofort beginnen ... Dietmar? Dietmar Schönherr? Das darf doch nicht wahr sein?“

Der Leiter der Rechtsmedizin kam strahlend herbeigeeilt und schlug Dietmar Schönherr seine Pranke auf die Schulter. „Mensch, Junge. Schön, dich zu sehen!“

„Hallo Doc.“

„Hast du mir überhaupt nicht erzählt, dass du dir den Besten geangelt hast.“ Martin Lindner zwinkerte Nicole zu.

Für einen Moment senkte Dietmar Schönherr den Kopf. Die Situation schien ihm nun doch etwas peinlich zu sein.

„Na dann schreiten wir zur Tat“, sagte der Rechtsmediziner. Mit weit ausholenden Schritten ging er zur Treppe, die nach unten in die Sektionsräume führte. „Unser junger Freund, Staatsanwalt Felix Heller, wartet bereits ungeduldig in meinem Büro. Muss schon sagen, der Junge hat schnell gelernt, seine Hemmungen gegenüber den Verstorbenen abzulegen.“

Als Büro bezeichnete Dr. Lindner den Raum, gegenüber den Kältekammern, der mit einem weißen Schreibtisch auf dem ein Computer stand, einem Bürosessel und zwei Stühlen ausgestattet war. Nicht gerade als gemütlich zu betrachten und kühl wie die Obduktionsräume, aber eben auch nicht direkt gruselig; sah man von den Regalen ab, hinter deren abschließbaren Glasscheiben, wachsweiße Totenschädel – in Acryl gegossene Körperteile – skurrile Mordwerkzeuge und andere bizarre Dinge zur Schau gestellt waren.

Nicole wusste genau, was der Doc damit andeutete. Sie konnte sich gut an Felix Hellers erste Anwesenheit bei einer Leichenöffnung vor sieben Monaten erinnern. Seitdem machte er einen routinierten Eindruck, soweit das als Zuschauer möglich war.

Selbst Nicole und ihre Kollegen brachen nicht in Begeisterungsstürme aus – Lars am allerwenigsten – wenn wieder mal eine Autopsie anstand.

Dr. Martin Lindner riss die Tür zu seinem Büro auf, wohl doch in der Hoffnung, den jungen Staatsanwalt zu erschrecken. Zu seiner Enttäuschung stellte er fest, dass dieser sich intensiv mit denen hinter Glas befindlichen Gegenständen beschäftigte und nicht einmal zusammenzuckte.

„Herr Heller, wir sind vollzählig“, sagte der Rechtsmediziner dann auch nur.

Die Autopsie lief ab wie immer. Dr. Lindner begann mit der äußeren Leichenbeschau und ging dann, zusammen mit seinen Assistenten dazu über die Leiche zu öffnen.

Alle Arbeitsschritte kommentierte er akribisch in ein Aufnahmegerät. Dazu machte er die entsprechenden Fotos. Nach zwei Stunden wussten die Kriminalbeamten, dass Marina Leistner zwischen 00:30 und 01:30 Uhr erstochen und durch die Stichwunde in ihrem Unterbauch verstorben war. Ein Sexualdelikt konnte ausgeschlossen werden. Hingegen wurde festgestellt, dass Marina Leistner irgendwann ein Kind zur Welt gebracht hatte.

Dieses Faktum ließ Nicole, wie auch ihren Kollegen, aufhorchen.

„War das nicht auch bei Ihren drei letzten Opfern der Fall?“, äußerte Felix Heller und erntete für seinen Einwurf einen rügenden Blick von Dr. Lindner.

Der Rechtsmediziner konnte es nicht ausstehen, während seiner Arbeit durch Zwischenbemerkungen unterbrochen zu werden. Hingegen suchte der Doc den Blickkontakt zu den Kriminalkommissaren und sagte: „Ich würde vorschlagen, wir veranlassen eine Tox-Screen-Untersuchung, obgleich die Leber keine Auffälligkeiten zeigt.“

Nicole nickte. „Wäre gut zu wissen, ob Frau Leistner Drogen oder regelmäßig Medikamente konsumiert hat.“

„Unter den Fingernägeln befinden sich Stofffasern, aber keine Hautpartikel. Dennoch hat sie sich gewehrt, was für den abgebrochenen Fingernagel am Mittelfinger spricht“, endete der Rechtsmediziner und wandte sich vom Obduktionstisch ab.

Vor dem Sektionsraum zog er Handschuhe und Hygieneanzug aus und warf beides in den vorgesehenen Entsorgungseimer. Die Kommissare und Staatsanwalt Felix Heller taten es ihm gleich und folgten Dr. Lindner in sein Büro.

„Ich muss Ihnen leider Recht geben, Herr Heller. Es sieht ganz so aus, als hätten Sie es mit ein und demselben Täter zu tun; was ich mir nicht erklären kann, weil der, meines Wissens, in der Psychiatrie untergebracht ist.“

„Das habe ich als erstes nachgeprüft“, bestätigte Nicole.

Der Doc schaute von den Kommissaren zurück zu Felix Heller. „Dennoch möchte ich während meiner Arbeit nicht unterbrochen werden, junger Freund.“

„Entschuldigung, Herr Dr. Lindner.“ Felix Heller senkte schuldbewusst den Kopf.

„Einen abschließenden Bericht erhaltet ihr morgen“, wandte sich der Leiter der Rechtsmedizin nun an Nicole und ihren Kollegen. „Bis dahin sollte auch das toxikologische Ergebnis vorliegen.“

„Ok. Danke, Doc.“

Wie immer, wenn Nicole das rechtsmedizinische Institut verließ, atmete sie auf. Gleichzeitig öffnete sie die Haarspange und fuhr mit beiden Händen durch ihre, über die Schultern reichenden dunkelblonden Haare … wie eine Art der Befreiung.

Von außen unterschied sich die ehemalige Villa der Familie Euler – höchstwahrscheinlich eines der schönsten rechtsmedizinischen Institute Deutschlands – in nichts von den beidseits der Kennedyallee stehenden Stadthäuser. Stünde vor dem Eingang nicht das Schild:

Universitätsklinikum Frankfurt – Rechtsmedizin

Auf dem Parkplatz sah Nicole sich um. „Wo ist Ihr schicker Wagen?“

„Habe ich gegen den getauscht.“ Felix Heller zeigte auf einen blauen Mini Cooper Cabriolet. „Der Audi war mir auf Dauer zu protzig. Hat meinem alten Herrn zwar nicht gepasst. Aber egal“, fügte er schmunzelnd hinzu.

Nicole lächelte ebenfalls. Felix Heller gefiel ihr immer besser. Hoffentlich bleibt er so bodenständig, dachte sie.

Sie rief Harald an und erkundigte sich nach der Befragung von Markus Leistner. Ihrerseits informierte sie ihn zu der soeben beendeten Obduktion.

„Was? Habe ich richtig gehört? Unser Opfer hat ein Kind auf die Welt gebracht? Wann?“

„Genau konnte der Doc es nicht sagen – dürfte aber schon einige Jahre her sein“, beantwortete Nicole die Frage. „Ihr Ehemann hat euch nichts darüber erzählt?“

Harald verneinte. „Vielleicht hat sie es ihm verschwiegen. Ich werde ihn sofort danach fragen. In dem Zusammenhang könnte es womöglich von Bedeutung sein, was Dietmar herausgefunden hat.“

„So, was denn?“

Sekunden später nickte Nicole. „Danke.“

„Du kommst nicht mehr rein?“, fragte Harald noch.

„Ich schon. Aber ihr könnt Feierabend machen. Wir sehen uns dann morgen.“

Nicole nahm hinter dem Lenkrad ihres Dienstwagens Platz und Dietmar Schönherr stieg auf der Beifahrerseite ein. „Gibt es etwas Neues?“, fragte er.

„Sagen Sie es mir“, antwortete Nicole.

„Was? Ich verstehe nicht …?“

„Ich verstehe es auch nicht. Was ist Ihr Problem? Wieso weiß ich nichts davon, dass Sie hier gearbeitet haben? Und warum erfahre ich nicht von Ihnen, was Sie über unser Opfer herausgefunden haben?“ Nicoles Worte kamen immer lauter über ihre Lippen.

„Ich dachte nicht, dass es von Belang wäre – also, meine Arbeit hier. War ja auch nur für eine kurze Zeit, um mein Studium zu finanzieren. Und was die Sache mit unserem Mordopfer angeht … Es war lediglich so ein Bauchgefühl. Ich war mir nicht sicher, ob es relevant ist. Ich wollte erst noch …“

„Was relevant ist und was nicht, würde ich gerne selbst entscheiden“, unterbrach Nicole scharf und startete den Motor. „In Zukunft möchte ich über jede Kleinigkeit unterrichtet werden, die Ihnen unter die Augen kommt.“

„Verstanden“, antwortete Dietmar Schönherr.

Er starrte stumm durch die Windschutzscheibe, während Nicole vom Hof der Villa fuhr und sich in den zäh fließenden Verkehr einordnete. Um die etlichen Baustellen und Sperrungen zu umgehen, fuhr sie durch Wohngebiete, in denen Dietmar Schönherr noch nie gewesen war. Nach 20 Minuten erreichten sie die Offenbacher Landstraße, als Nicole plötzlich fragte: „Was haben Sie eigentlich studiert?“

„Medizin. Ich wollte ursprünglich Arzt werden, Bereich Rechtsmedizin. Hat mich schon immer interessiert.“

„Und warum ist nichts daraus geworden?“

„Meine damalige Freundin und jetzt Ehefrau wurde schwanger. Ich musste mir einen Job suchen, der uns ernährt. Also ging ich zurück zur Polizei.“

Nicole bog auf das Gelände des Polizeipräsidiums ein. „Wo haben Sie Ihren Wagen geparkt?“

„Gleich dort vorne, der rote Toyota.”

„Dann bis morgen früh, pünktlich um 8 Uhr.“

Dietmar Schönherr nickte, stieg aus dem Wagen seiner Chefin aus und in seinen ein. Er war verunsichert.

Der rote Brunnen

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