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4.1.6. Die Überdehnung einer Wertegemeinschaft
ОглавлениеDer Begriff der Überdehnung im hier diskutierten Kontext zerfällt in vier Dimensionen:
a) geografische Überdehnung
b) Überdehnung der Akzeptanz der aufnehmenden Bevölkerungen
c) Überdehnung eines gemeinsamen Wertekanons
d) zahlenmäßige Überdehnung
Eine geografische Überdehnung im Hinblick auf ein bereits existierendes NATO-Mitglied zu postulieren, wäre kaum plausibel. Angebrachter wäre der Begriff im Hinblick auf die Östliche Partnerschaft, in deren Rahmen sich die Europäische Union, im Rahmen der nachfrage-geleiteten Politik der Offenen Tür und natürlich nur in allerbester Absicht, in die Angelegenheiten von Ländern hinter dem Schwarzen Meer einmischt.
Die Überdehnung der Akzeptanz der aufnehmenden Bevölkerung ist regionalen Präferenzen und zeitlichen Stimmungswandeln in der Bevölkerung unterworfen. Wie anders ist zu erklären, dass im Vorfeld der Brexit-Abstimmung Umfragen veröffentlicht wurden, in denen Befragte angaben, mit indischen Gemüsehändlern weniger Probleme zu haben als mit polnischen Klempnern?
Die mögliche Überdehnung des gemeinsamen Wertekanons basiert auf der Annahme eines gemeinsamen, durch die christliche Herkunft und den Humanismus erworbenen Grundkonsenses über den angemessenen Umgang miteinander. Die Türkei, die ihr erstes offizielles Beitrittsgesuch vor 30 Jahren eingereicht hat, wirft uns Europäern gerne vor, einen Beitritt nicht wirklich zu wollen, weil wir es vorzögen, ein reiner Christenclub zu sein.
Dieser Einwand ließe sich mit der Entgegnung entkräften, dass mit Albanien und Kosovo weitere mehrheitlich moslemische Länder auf der Liste der (möglichen) Beitrittskandidaten stehen. Allerdings muss konzediert werden, dass in diesen beiden Ländern insgesamt weniger als fünf Millionen Moslems wohnen, was einen Konsens und eine Integration wesentlich leichter als mit 78 Millionen türkischen Moslems erscheinen ließe.
Dieses mitberücksichtigt, sind wir bei der vierten Dimension, der zahlenmäßigen Überdehnung, welches, in Kombination mit der Nichtintegrierbarkeit des Islams in den bestehenden Wertekanon das maßgebliche Argument darstellt, den gesamten Beitrittsprozess mit der Türkei letztlich abzubrechen, zumal dies im Sinne der in 2.4.3 beschriebenen Vertrauensebenen ehrlicher wäre.