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3.1.3 Entwurf eines Beschreibungsrahmens des Varietätenraums

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In einem Modell des Varietätenraums für vorliegende Untersuchung soll als Grundgerüst weiterhin auf das Diasystem rekurriert werden und trotz einiger nicht von der Hand zu weisender Vorteile (z.B. Zentrum vs. Peripherie) der graphischen Umsetzung bei Berruto (1987) soll die Darstellung bei Koch/Oesterreicher (2011) als Vorbild dienen. Nicht berücksichtigt werden soll hingen die vierte Dimension – zumindest nicht als eigene Ebene, da es berechtigte Zweifel gibt, ob die an sich wertvolle Konzeption des Nähe-Distanz-Kontinuums Teil des Diasystems sein sollte (cf. supra). Hinzu kommt die dort getroffene Unterscheidung von universaler und einzelsprachlicher Ebene, die anhand der gelieferten empirischer Daten kaum aufrecht zu erhalten ist.104 Die in die Nähe-Distanz-Dimension bei Koch/Oesterreicher inkorporierte Unterscheidung von Söll (1974) in Bezug auf Konzeption vs. Medium soll ebenfalls einen Platz in einem neuen Gesamtmodell erhalten, jedoch außerhalb der eigentlichen Varietätendimensionen. Dabei soll berücksichtigt werden, daß dem Medium, also der Frage nach der medialen Realisierung, mehr Gewicht beigemessen werden sollte (cf. Hunnius 2012:38–41; Massicot 2015:190–191), und die gesprochene Sprache eben nicht kategorisch von der ihr zugehörigen medialen Umsetzung zu trennen ist.

Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Verquickung sozio- und varietätenlinguistischer Ansätze soll das hier neu konzipierte bzw. modifizierte Modell des Varietätenraumes die Frage der Selektion einer Varietät mitberücksichtigen. Trotz des Einbezugs dieses Aspektes sei betont, daß dabei nicht die Darstellung eines ganzheitlichen Kommunikationsmodelles (mit Rückkopplung Sprecher, Hörer, etc.) anvisiert wird, sondern lediglich die Sprechsituation eine adäquate Einbettung finden soll.

Damit soll einerseits der bekannten, grundlegenden Fragestellung der Soziolinguistik von Fishman (1965), nämlich, wer spricht welche Sprache mit wem und wann (who speaks what language to whom and when,) Rechnung getragen werden und zum anderen die schon bei Halliday (1978) konstatierte Wahlmöglichkeit des Sprechers aus verschiedenen Varietäten berücksichtigt werden.105 Diese Wahl wiederum ist abhängig vom situationellen Kommunikationskontext. Wie wichtig dieser situationelle Kontext ist, darauf verweist bereits Malinowski, bevor jener im Zuge des pragmatic turn größere Geltung gewinnt.106

Der bei Malinowski noch im Sinne eines determinierenden Faktors für die Semantik einer Äußerung verstandene situationelle Kontext wird bei Halliday erweitert und zu einem allgemeinen context of situation, der, wie er sehr treffend beschreibt, verantwortlich ist für die Selektion des jeweiligen Sprachregisters.

All language functions in contexts of situation, and is relatable to those contexts. The question is not what peculiarities of vocabulary, or grammar or pronunciation, can be directly accounted for by reference to the situation. It is which kinds of situational factor determine which kinds of selection in the linguistic system. (Halliday 1978:32)

Die Wahl einer Varietät – und in der Regel verfügt jeder Sprecher über mehrere Varietäten – so sei postuliert, hängt von der spezifischen Situation ab, und das gilt eben nicht nur für die diaphasische Dimension (bzw. registers bei Halliday), die Nabrings (1981:140) auch treffend diasituative Dimension nennt, sondern eben in Bezug auf alle Varietäten, und im Falle einer Mehrsprachigkeit auch in Bezug auf die Wahl der adäquaten Sprache in einer bestimmten Kommunikationssituation. Auch wenn vielleicht nicht so intendiert, so suggeriert doch ein Modell, wie das von Koch/Oesterreicher (2011) oder auch Berruto (1987), daß die Situation nur in der Diaphasik zum Tragen kommt und dies entspricht wohl nicht der Kommunikationsrealität. Halliday macht das etwas polemisch deutlich, wenn er die Situation zur conditio sine qua non einer Kommunikation erhebt.

We do not in fact, first decide what we want to say, independently of the setting, and then dress it up in a garb that is appropriate to it in the context, as some writers on language and language events seem to assume. (Halliday 1978:33)

Daraus folgt, daß der Situation eine weitaus prominentere Stellung innerhalb eines Modells gebührt als bisher verwirklicht und als der a priori determinierende Faktor anzusehen ist. Dieser Tatsache sei in folgendem Modell zu ‚Diasystem und Sprechsituation‘ Rechnung getragen:


Abb. 2: Diasystem und Sprechsituation

Den determinierenden Faktoren der Sprach- und Varietätenwahl liegen u.a. die Erkenntnisse von Nabrings (1981:140–144) zugrunde, die – allerdings allein für die diasituative Dimension – folgende Parameter festgelegt hat: Gesprächspartner, Medium, Ort der Kommunikation, Thema. Dies sind eindeutig Faktoren, die nicht auf einer Stufe mit den im Modell Koch/Oesterreicher (2011:13) aufgelisteten Kommunikationsbedingungen stehen können, die ja nach deren Konzept „nur“ den Grad der Nähe bzw. Distanz beeinflussen, sondern einen prominenteren Status einnehmen sollten.107 Wie wichtig der oder die Gesprächspartner bei einer Kommunikation im Allgemeinen und in Bezug auf die Wahl der adäquaten Varietät sind, wird schon bei Behagel deutlich.108 Aus den Ausführungen Behagels geht aber auch der wie bei Nabrings und auch sonst nicht selten als sous-entendu verstandene Sprecher bzw. Produzent der Äußerung als wichtiger Determinant der Kommunikation hervor. Dies bestätigt auch – um hier einmal den größtmöglichsten zeitlichen Sprung machen – die Untersuchung von Massicot (2014), die als wichtige Faktoren neben dem Thema und dem Medium die Sprecheridentität aufführt. Die Tatsache, daß auch das Kommunikationsziel ein beeinflussender Faktor bei der Wahl der Varietät sein kann, läßt sich aus den bekannten Kommunikationsmodellen bei Bühler (1934:28) und Jakobson (1979:88) ableiten. Dies sei dahingehend interpretiert, daß nicht allein das Gegenüber ausschlaggebendes Kriterium ist, sondern unter Umständen eben auch relevant für das, was der Sprecher erreichen möchte, welche Varietät die dafür angemessene ist.

Determinierend sind außerdem die gewählte oder vorgegebene Diskurstradition sowie der soziale und situative Kommunikationskontext (cf. field, tenor, mode) im Sinne Hallidays (cf. Martin/Williams 2004:121) (v. supra).109 Diese Parameter beeinflussen alle Selektionsvorgänge entscheidend mit.

Die erste Selektion, die dann getroffen wird, und zwar aufgrund der determinierenden Faktoren der Sprechsituation, ist die bezüglich des Mediums. Damit soll hervorgehoben werden, daß das Medium hier nicht irgendein Teilaspekt des Diasystems ist, sondern diesem sozusagen vorgeschaltet, denn zuerst wählt der Sprecher das Medium (code phonique oder code graphique), sofern es nicht durch eine Kommunikationssituation vorgegeben ist, dann die Sprache und die Varietät. Die Versprachlichung der konzeptionellen Nähe bzw. Distanz, ist dabei als sekundär einzustufen, d.h. sie erfolgt unter den Bedingungen der Kommunikationssituation. Eine diamesische Ebene überlagert sozusagen alle weiteren Varietätendimensionen, insofern es sowohl bezüglich des Standards eine mündliche und schriftliche (medial und konzpetionell) Ebene gibt als auch bezüglich aller weiteren Non-Standard-Ebenen, also der Dialekte, Situolekte, Soziolekte etc. (z.B. mündlich vs. schriftlicher Dialektgebrauch).

In Kommunikationssituationen, die mehr oder weniger das Medium vorgeben, also z.B. bei einem Telefongespräch, einem Vortrag oder ein Bewerbungsschreiben, liegt hier natürlich keine Wahl mehr im eigentliche Sinne vor, doch es bleibt zunächst die Situation (z.B. Wunsch/Pflicht, jmd. zurückzurufen, einen Vortrag zu halten; Notwendigkeit sich zu bewerben), die das Medium determiniert und womöglich auch die Varietät (z.B. das Stilregister für ein Bewerbungsschreiben qua Diskurstradition).

Falls es sich nun um eine Kommunikationssituation handelt, bei der nicht bereits eine Sprache bereits a priori feststeht, und in der der Sprecher über mehrere Sprachen verfügt – und dies muß nicht nur im Sinne eines bilingualen Sprechers zu verstehen sein –, aus denen er wählen kann (L1, L2, L3 – Lx), unabhängig von der Kompetenz in der jeweiligen Sprache, dann wäre diese Selektion vom Sprecher vor der Frage nach einer bestimmten Varietät einer Sprache zu treffen. Erst im Folgenden stellt sich für ihn die Wahl, sofern seine Kompetenz in der bestimmten Sprache dies überhaupt zuläßt, ob er sich im unmarkierten Standard verständigt oder sich für eine wie auch immer markierte Varietät entscheidet. Dies kann jedoch durch Medium oder Diskurstradition auch bereits vorgegeben sein (z.B. in der Schriftsprache eher kein Dialekt, je nach Textsorte ein bestimmtes Stilregister).110

Die determinierende Sprechsituation ist dabei immer die gleiche, also die Ausgangssituation (cf. determinierende Faktoren), denn die im Modell dargestellten Abfolgen von Selektionen sind in Wirklichkeit Entscheidungen, die der Sprecher aufgrund der einen gegebenen Situation innerhalb eines gesamten Entscheidungsprozesses zur in dieser Kommunikationssituation adäquaten Art des Sprechens trifft.111

Wichtig erscheint im Folgenden noch einmal zu betonen, daß die Situation, in der sich ein Sprecher befindet – und dies soll bei obigem Modell deutlich werden – nicht nur die Wahl des Stilregisters, also die diaphasische Ebene determiniert, sondern im gleichen Maße die Frage bestimmt, ob ein Dialekt oder Soziolekt etc. in der nämlichen Situation adäquat ist oder eben nicht. Ändert sich die Sprechsituation insgesamt oder auch nur einzelne Komponenten dieser Situation, so wird unter Umständen wieder aufs Neue nachjustiert.

Die Anordnung der determinierenden Faktoren für die Varietätenwahl in obigem Modell ist nicht zufällig, sondern folgt der Rangfolge einer postulierten Dominanz, d.h. der wichtigste Faktor ist der der Situation (formell vs. informell, offiziell vs. privat, etc.), gefolgt vom Gesprächspartner (mit Parametern wie bekannt vs. unbekannt, Dialektsprecher vs. Standardsprecher, etc.) und dem Ort der Kommunikation (in Abgrenzung zur Situation rein regional zur verstehen). In nicht so eindeutiger Hierarchisierung stehen folgen schließlich noch die Faktoren Thema (des Gesprächs), der Sprecher selbst (individuelle Disposition) und das Kommunikationsziel. Die Faktoren sind dabei in Bezug auf ihre Prominenz in einer bestimmten Kommunikationssituation als interagierend und interdependent anzusehen.

Was nun die Erfassung des Varietätenraumes mit Hilfe des Diasystems anbelangt, so muß man wohl mit bestimmten Aporien leben. Dazu gehört zum einen die, aufgrund der in der sprachlichen Realität engen Verquickung dieser beiden Aspekte, oft unscharfe oder gar unmögliche Trennung von diaphasischer und diastratischer Dimension112 sowie die Frage, welche Bereiche unter die Diastratik fallen, da ja letztendlich fast alle sprachliche Variation an größere oder kleinere soziale Gruppen gebunden ist (schichtenspezifisches Sprechen, altersspezifisches, berufsspezifisches, etc.). Die diatopische Ebene bleibt zudem eine besondere, da es sich hierbei um historisch gewachsene (Regional-)Sprachen handelt, die einst, in Epochen vor der Herausbildung und Verbreitung einer nationalen Standardsprache, in sich geschlossene vollständige Sprachsysteme bildeten113 (mit entsprechender Variationsbreite auf allen Dia-Ebenen) und für alle Sprecher, bzw. noch lange für viele, das einzige Kommunikationsidiom darstellten. So kann auch heute noch die diatopische Ebene für manche Sprecher die Basis der mündlichen Verständigung bilden und ist situationsbedingt nicht zwingend auf gleiche Weise auszublenden bzw. abrufbar wie Varietäten der Diastratik oder der Diaphasik.

Für vorliegendes Modell wurde aus diesen Gründen neben der unstrittigen diatopischen Ebene, weiterhin die Unterscheidung von diastratischer und diaphasischer Ebene beibehalten, allerdings mit der Einschränkung, daß anstelle von ‚diastratisch‘ hier der Begriff ‚diasozial‘ bevorzugt wird.114 Dies sei damit begründet, daß aufgrund seiner etymologischen Herleitung sowie aufgrund seiner häufigen Verwendung im Kontext mit schichtenspezifischem Sprechen dieser Terminus eine zu geringe Extension suggeriert, insofern das in den modernen Gesellschaften – und nicht nur dort – dominierende gruppenspezifische Sprechen hier als sekundäres und nicht primäres Verständnis konnotiert wird. Mit ‚diasozial‘ ist demnach also ganz allgemein und neutral das an eine spezifische soziale Gruppe gebundene Sprechen gemeint – und dies kann natürlich auch ein schichtenspezifisches sein. Deshalb soll im weiteren der Begriff ‚diastratisch‘ rein auf die Varietäten in Abhängigkeit von sozialen Schichten und Klassen appliziert werden. Für das gruppenspezifische Sprechen hingegen sei in Anlehnung an die homogene griechische Prägung der anderen Begriffe ‚diakoinonisch‘ (zu griech. κοινωνία ‚Gesellschaft, Gemeinschaft‘ bzw. κοινός ‚Teilnehmer, Genosse‘) vorgeschlagen. Beide Begriffe sollen demnach Teilbereiche der diasozialen Dimensionen konstituieren. Alternativ müsste man zur Verdeutlichung von ‚diastratisch im weiteren Sinne‘ (also schichten- und gruppenspezifisch) und ‚diastratisch im engeren Sinne‘ (also nur schichtenspezifisch) sprechen, wobei dann trotzdem eine terminologische Lücke für die rein gruppensprachlichen Varietäten bliebe.

Die grundsätzliche Frage, ob es legitim ist, über das Coseriu’sche Dreier-Schema hinaus weitere dia-Dimensionen anzunehmen, sei dahingehend salomonisch beantwortet, daß dies davon abhängt, ob man weitere Varietäten identifizieren kann. Das Problem sei also auf die bereits gestellte Problematik (v. supra), wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät zu sprechen, verlagert. Das extreme Beispiel einer Proliferation von dia-Ebenen war das Modell von Schmidt-Radefeldt, der quasi 1:1 die metalexikographische dia-Kategorisierung (wie z.B. bei Hausmann 1979) auf die Beschreibung des Varietätenraumes übertragen hat. Wo ist hier also eine Grenze zu ziehen bzw. gibt es eine?

Das Grundkriterium ist dabei m.E. nicht die Frage nach der Anzahl der sprachlichen Varianten, die nötig sind, um eine eigenständige Varietät zu postulieren, sondern, ob es eine soziale Gruppe gibt, der eine oder mehrere Varianten klar attribuiert werden kann.

Es sei also definiert, daß man von einer Varietät sprechen kann (und nicht nur allgemein von sprachlicher Variation), wenn ein oder mehrere zusammenhängende, spezifische (markierte) Varianten eindeutig und stabil (über einer längeren Zeitraum) einer bestimmten abgrenzbaren sozialen Gruppe von Sprechern zuzuordnen sind oder eindeutig und stabil in einer bestimmten Sprechsituation zum Tragen kommen. Eine Varietät ist dabei immer als ein Teilsystem einer bestimmten Sprache zu verstehen, die durch einen mehrdimensionalen Varietätenraum konstituiert ist.115

In diesem Sinne ist es zwar nach wie vor der Normalfall, daß eine bestimmte Anzahl von spezifischen sprachlichen Varianten eine Varietät ausmacht, im äußersten Fall kann aber eben auch ein Merkmal konstitutiv sein.116 So wäre dies der Fall der r-Ausprache in den Untersuchungen Labovs (1966), wo allein durch diese Abweichung von der Norm eine soziale Gruppe identifiziert werden kann (hier diastratisch bzw. diasozial zu verstehen) oder die norditalienischen Aussprache des r-Lautes (uvular), die eine diatopische Zuordnung erlaubt. Aus diesem Grunde sind Bezeichnungen wie ‚diafrequent‘ oder ‚diaplanerisch‘ unpassend, da hier zwar auf eine bestimmte Art der Variation innerhalb einer Sprache abgehoben wird, aber die Tatsache, daß bestimmte Lexeme, die allgemein häufiger oder seltener gebraucht werden, oder eben solche, die durch bestimmte Normierungsversuche in die Sprache gelangen, nicht einer bestimmten sozialen Gruppe zugeordnet werden können.117 Auf diese Weise kann auch die Existenz einer diatechnischen, diasexuellen sowie diagenerationellen Ebene begründet werden, d.h. als Varietäten einer bestimmten sozialen Gruppe. Dabei ist zu beachten, daß alle drei Ebenen prinzipiell auch als Subebenen der diastratischen bzw. diasozialen (genauer: diakoinonischen) Ebene gesehen werden könnten. Aber gerade der Bereich der Fachsprachen nimmt sowohl in der sprachlichen Realität der heutigen Gesellschaft als auch in der sprachwissenschaftlichen Forschung einen sehr breiten Raum ein, so daß eine eigene Ebene durchaus vertretbar erscheint.118 Die beiden weiteren Ebenen (diasexuell und diagenerationell) sind hingegen womöglich nicht in jeder Sprachgemeinschaft klar abgrenzbar oder identifizierbar; sofern dies jedoch möglich ist und ausreichend Merkmale ermittelbar sind, sind sie als eigenständige Varietätenebenen etablierbar.

Schließlich soll in vorliegendem Modell auch der Erkenntnis der vorherigen beiden Kapitel zur Genese und Interaktion sozio- und varietätenlinguistischer Ansätze Rechnung getragen werden, und zwar dahingehend, daß die aus der anglistischen (variationslinguistischen) und germanistischen (soziolinguistischen) Tradition stammenden Begrifflichkeiten der Lekte konsequenter als bisher, den dia-Begrifflichkeiten gegenübergestellt werden.119

Löffler (11985, ²1994:86) entwickelt dazu ein diversifiziertes Modell, in dem er „Großbereiche des Sprechens“ (Lekte) annimt, die sich überlagern, und zwar in Form von Mediolekten (nach Medium), Funktiolekten (nach Funktion), Dialekte (nach arealer Verteilung), Soziolekten (nach sozialer Gruppe), Sexolekten/Genderlekten (nach Geschlecht), Situolekten (nach Situation/Interaktionstyp) und Idiolekten (nach Individuum). Das Modell macht zweifellos die Vielfalt der Arten des Sprechens deutlich, über die ein Individuum verfügen kann, jedoch fehlt eine gewisse Systematik.120

Auf der Ebene der Diatopik, gibt es nun neben dem traditionellen Dialekt-Begriff, der im Verständnis Coserius zunächst vor allem primäre Dialekte bezeichnet und terminologischer Ausgangspunkt aller weiteren Lekte ist, den sehr nützlichen Begriff des Regiolektes. Hiermit wird üblicherweise auf die bei Coseriu als tertiärer Dialekt bezeichnete Varietät referiert, die zwischen Standardvarietät und primärem Dialekt angesiedelt ist. Dabei ist der Begriff des Regiolektes hier sehr viel eindeutiger und transparenter als die Coseriu’sche Denomination. Was die Abgrenzung groß- vs. kleinräumig angeht, kann man entsprechend dem in der strukturellen Areallinguistik üblichen bottom-to-top-Konzept zwischen den Gradationsstufen StandardlektDialekt – Regiolekt – Lokolekt unterscheiden (cf. Ebneter 1989:872).121 Mit Urbanolekt (cf. Dittmar 1997:193) wird hingegen eher eine spezifische diatopische Situation von Metropolen oder größeren städtischen Zentren beschrieben.122

Was die Ebene der Diaphasik angeht, so ist festzustellen, daß die bisherigen Begrifflichkeiten eher schwankend sind, und zwar insofern als hier von Stilregistern, Stilen, Registern oder Sprachregistern gesprochen wird, so daß mit Situolekt (cf. Dittmar 1997:206) eine gewisse Einheitlichkeit möglich wäre, zumal auch dieser Begriff relativ transparent ist.

Die inzwischen recht übliche Bezeichnung Soziolekt (cf. Dittmar 1997:189) im Bereich der diastratischen Ebene, erscheint eine recht gute Lösung, um gleichermaßen neutral sowohl gruppenspezifisches als auch schichtenspezifisches Sprechen zu umreißen.123 Hinzu kommt, daß man hier eine sehr transparente begriffliche Parallele zu diasozial ziehen kann. Das gleiche Argument wäre bezüglich des Technolekts vorzubringen, mit der Ergänzung und Präzisierung, daß hierbei nicht allein auf Sprachvariation im Bereich der Technik abgehoben wird, sondern jegliches berufs- und wissenschaftsspezifisches Sprechen miteinbezogen werden soll.

Bei dem noch neueren Feld der diagenerationellen Differenzierung sind auch die Begrifflichkeiten noch recht schwankend und zum Teil wenig etabliert. Am ehesten untersucht ist in der Regel die Jugendsprache, die beispielsweise bei Michel (2011:194) als Juventulekt bezeichnet wird; eher selten zum Tragen kommt die Sprache der älteren Generation, die mitunter als Gerontolekt (cf. Dittmar 1997:229–231) oder Gerolekt (Veith 2005:173) benannt wird. Diesbezüglich sollte man eine gewisse Konsequenz und Kohärenz in Bezug auf die Bezeichnungen einführen, weshalb hier der Vorschlag sowohl eines neutralen Hyperonyms notwendig erscheint, als auch einer homogenen griechischen Denomination. Aus diesem Grund sollte man sinnvollerweise von Helikialekten (zu griech. ʿηλικία ‚Lebensalter‘), also altersbedingten Sprachunterschieden sprechen, die man in Gerontolekte (griech. γέρων ‚alter Mann‘, ‚alt‘) und Neotolekte (zu griech. νεότης ‚Jugend‘) differenzieren könnte.124

Analog zu diesem Vorschlag wären auch die Begrifflichkeiten im Bereich der diasexuellen Ebene zu gestalten, so daß hier neben dem bereits etablierten, neutralen Sexolekt (cf. Dittmar 1997:228–229) zwischen Androlekt (zu griech. ʾανδρός ‚Mann‘) und Gynaikolekt (zu griech. γυναικός ‚Frau‘) unterschieden werden sollte.125

Unabhängig von den einzelnen Begrifflichkeiten und ihrer etymologischen Transparenz und Adäquatheit, geht es vor allem darum, mit der Koppelung des Spektrums der Lekte-Denominationen den Termini, die mit der Konzeption des Diasystems einhergehen, ein Begriffsinventar zur Seite zu stellen, das die Variation im Varietätenraum einer Sprache so präzise wie möglich zu erfassen hilft.126 Ziel ist es ja letztlich, die Architektur einer Sprache so exakt wie möglich in der gesamten Bandbreiten ihrer Heterogenität beschreiben zu können, dabei die Kategorisierung aber nur so weit zu treiben, als den einzelnen Kategorien dann auch ihnen attribuierbare sprachliche Realitäten gegenüberstehen, die – soweit möglich – klar voneinander abgrenzbar sind.

Mit vorliegendem Modell soll also versucht werden, die Gesamtheit des Varietätenraumes zu erfassen, um auf diese Weise das Verständnis für die sprachliche Realität zu schärfen. Ein Anliegen des Modells war es dabei, deutlich zu machen, daß auch bei einer Darstellung mit dem Fokus auf den Varietäten, die Sprechsituation, d.h. die konstitutiven Faktoren bei der Wahl einer Varietät mehr Raum einnehmen müßten bzw. vielmehr ohne diese zusätzliche Perspektive die Beschreibung defizitär bleibt. Dies bedeutet auch, daß sowohl dem Sprecher als auch dem Hörer sowie der sozialen Gruppe mehr Gewicht in der Betrachtung einer varietätenlinguistischen Untersuchung zukommen müßte.

Diese Überlegungen zu Sprechsituation gelten in erster Linie für zeitgenössische synchrone Kommunikationssituationen, da nur in diesen die Determiniertheit des Sprechers (und Hörers) adäquat eingeschätzt werden kann. Für eine historische Kommunikationssituation, bei der man auf rein schriftliche Dokumente angewiesen ist, fällt der erste Bereich (‚schriftlich/mündlich‘) der Selektion in obigem Modell weg. Es bleiben dennoch determinierende Faktoren bei der Sprach- und Varietätenwahl, vor allem die Diskurstraditionen, allerdings sind manche Faktoren ungleich schwerer zu ermitteln. Die vorgeschlagene Erweiterung bzw. Präzisierung des Varietätenraumes mit Rückgriff auf die verschiedenen Terminologien der dia- und der lekte-Begriffe ist hingegen prinzipiell auch in einem historischen Kontext anwendbar. In der vorliegenden Untersuchung soll daher dieses Begriffssystem auch bei der Beschreibung des Lateinischen verwendet werden (cf. Kap. 4).127 Wie ausdifferenziert dies dabei möglich ist, hängt grundsätzlich von der Dokumentationslage bezüglich der einzelnen sprachlichen Phänomene ab.

Was den metasprachlichen Diskurs des 15. und 16. Jh. anbelangt (cf. Kap. 6), so wird diese hier vorgestellte Begriffssystem nicht vollständig zum Tragen kommen können. Dies liegt vor allem darin begründet, daß die Beschreibung des antiken Lateins durch die Humanisten nicht mit gleicher Präzision geleistet werden konnte, wie das heutzutage möglich ist. Die Möglichkeiten, die von den damaligen Gelehrten beschriebenen Phänomene des antiken Lateins im Sinne einer modernen Interpretation in einer sozio- und varietätenlinguistische Terminologie darzustellen, sind daher begrenzt und nur vereinzelt wird es sich anbieten, begrifflich weiter zu differenzieren. In diesem Teil wird deshalb im Wesentlichen auf „traditionelle“ Begrifflichkeiten wie ‚diatopisch‘, ‚diastratisch‘, ‚diaphasisch‘ etc. rekurriert.

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