Читать книгу Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua - Roger Schöntag - Страница 26
4.2 Lingua morta (viva): Latein vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit
ОглавлениеDie Frage wann die Epoche des Mittellateins beginnt und damit auch die Phase, in der Latein – zumindest aus heutiger Sicht – nicht mehr als lebende Sprache wahrgenommen wird, ist untrennbar mit der Entstehungsgeschichte der romanischen Sprachen verbunden. Dabei ist die Frage nach einem mehr oder weniger präzise datierbaren Ablösezeitpunkt prinzipiell nicht wirklich sinnvoll gestellt, wie Kramer (1997) unmißverständlich deutlich macht:
Eine scharfe Grenze zwischen spätantikem und frühmittelalterlichem Latein läßt sich natürlich nicht ziehen. Die Frage, wann die spätlateinische zur frühromanischen Umgangssprache wurde, mit anderen Worten, wann man aufhörte lateinisch, und wann man anfing, romanisch zu sprechen, ist in dieser Form falsch gestellt. Beide Sprachformen folgen bruchlos aufeinander, und man kann nur sagen, daß die romanischen Charakteristika in dem Maße zunehmen, wie die lateinischen Wesensmerkmale abnehmen […]. (Kramer 1997:151–152)
Steinbauer (2003:514) benennt als Richtwert die Zeit um 600 n. Chr., in der die gesprochene Sprache sich so weit von der Schrift- und Literatursprache entfernt habe, daß man von einer Diglossiesituation ausgehen muß, die schließlich im 9. Jh. in eine Verschriftung und Verschriftlichung einzelner Volkssprachen auf dem Boden des ehemaligen römischen Reiches mündet. Auch Müller-Lancé (2006:40), der den Zeitraum ähnlich faßt (650 n. Chr. bzw. 6./7. Jh.), sieht aus linguistischer Sicht gravierende Veränderungen, die eine neue Epoche in der Sprachgeschichte rechtfertigen. Reutner (2014:200) folgt ihm in dieser Datierung, genauso wie in der Gesamtperiodisierung. Meiser (1998:2) hingegen datiert das Ende der spätlateinischen Phase auf Ende des 7. Jh. n. Chr. Paradigmatische Autoren an dieser Epochenschwelle wie Gregor v. Tours (540–594 n. Chr.) oder Isidor v. Sevilla (560–636 n. Chr.) ordnet Müller-Lancé (2006:37) aus linguistischer Sicht noch dem Spätlatein zu, wobei er doch bereits recht deutliche Abweichungen von der klassischen Morphologie und Syntax konzediert. Berschin (2012:106) hingegen sieht die Sprache von Gregor nur noch in euphemistischem Sinne dem niedrigen Stil zugehörig, da sie in Wahrheit voller Barbarismen und Solözismen sei. Wichtiger aber ist seine Beobachtung, daß im Spätlatein der sprachgeographische Schwerpunkt der Literaturproduktion in Nordafrika lag (christl. Autoren 2.–6. Jh.), während er sich dann nach Norden und spezieller nach England und vor allem nach Irland verschob, also in wenig bzw. gar nicht romanisierte Regionen Europas, wo eine insular-lateinische Literatur entstand (cf. Berschin 2012:105).
Unabhängig von der jeweiligen Einschätzung des sprachlichen Befundes scheint es jedoch aus kultureller Perspektive in jedem Fall sinnvoller die genannten Autoren, auch wenn sie partiell noch im Bildungshorizont der Antike verankert sind, doch der neuen Epoche zuzuweisen.
Im Zuge vorliegender Zielsetzung und des anvisierten Schwerpunktes, die Architektur des Lateins zu untersuchen, soll hier im weiteren nicht auf umfangreiche mittellateinische Literatur und die in diesem Kontext neu erschlossenen Diskurstraditionen eingegangen werden, genausowenig wie auf die innerlateinischen Sprachentwicklungen. Von zentralem Interesse ist vielmehr die Frage nach der Erstarrung des Lateins, dem metaphorischen Tod und der Diversifikation innerhalb dieser „toten“ Sprache.251
Es gibt allerdings Phasen und Strömungen in der Geschichte der lateinischen Sprache, die dazu beitrugen, daß sich das Latein als „Kunstsprache“ etablierte und nach und nach von seiner volkssprachlichen Basis entfernte. Dies beginnt aber bereits in der Antike mit der engen Verknüpfung von Grammatik, Rhetorik und literarischer Schriftproduktion. Es hängt auch mit dem literarischen Ideal der imitatio zusammen, den stilistischen Vorgaben, die eine lexikalische und syntaktische Selektion zur Folge hatten, und vor allem mit der Reduktion des Lateins auf eine einzelne Varietät, die auf ihre Funktion als Logik-, Rhetorik- und Literatursprache reduziert wurde und in der schulischen Tradition kanonisiert und isoliert wurde.252 Dazu trugen sicherlich auch die Strömungen bei, die die lateinische Sprache auf genau diesen Aspekt reduzieren wollten und eine Bewahrung eines normativen Modells anstrebten, wie innerhalb der Karolingischen Renaissance, der ottonischen Renaissance, der Renaissance des 12. Jahrhunderts und der humanistischen Renaissance (cf. Berschin/Berschin 1987:18; Graphik).253 Andererseits blieb das Lateinische während des gesamten Mittelalters und auch noch in der Frühen Neuzeit insofern eine sehr lebendige Sprache, als sie in vielen Bereichen die alternativlose Schriftsprache blieb, damit unweigerlich flexibel sein mußte, sich neuen Themen und Gegebenheiten anzupassen hatte, aber auch in der Mündlichkeit als Sprache der Diplomaten, Gelehrten und der Kirche ungebrochene Vitalität erlebte. Dabei stand sie auch immer im Austausch und im Spannungsfeld der jeweiligen Volkssprachen, auch der nicht-romanischen:
Die geschichtlichen Phasen, in denen das Latein steril zu werden scheint, sind gerade diejenigen, in denen sich Spannungen zwischen den beiden Ebenen und vielseitige Aspekte am deutlichsten zeigen. Vitalität und Autonomie des mittelalterlichen Lateins und des Lateins der Humanisten (oder vielmehr der Varietäten des Lateins des Mittelalters und des Humanismus) sind gerade in der Dualität einer Sprache des Geistes, der Schule und der Kirche, aber auch der internationalen Kommunikation, in der sich klassische Modelle und christliche Vorbilder […] vermischen, und einer breiten Skala von Ausprägungen im Raum, in der Zeit und in den persönlichen Erfahrungen zu finden. (Poccetti/Santini/Poli 2005:13)
Die Zeitgenossen jedenfalls erlebten das Lateinische jedenfalls nicht als tote Sprache, sondern als gelebte Sprache, die in ihrer Vielfalt wesentlich zur Herausbildung der europäischen Literatur beitrug (cf. Curtius 1993:34–40) bzw. zu Beginn zur Genese der volkssprachlichen Schriftlichkeit an sich, die ohne die lateinische Vorlage kaum denkbar gewesen wäre.
Die [mittelalterlichen] Menschen selber nahmen die große Zäsur zwischen der Antike und ihrer eigenen Zeit, die unser von der Renaissance vermitteltes Geschichtsbild so entschieden prägt, vermutlich nicht in gleich starkem Maße wahr. (Stotz 2002:23)
Einen Bruch zur Spätantike gibt es insofern, als nach Lüdtke (2005:22) irgendwann die „Staffettenkontinuität“ verloren geht, d.h. die mündliche Tradierung von Generation zu Generation abbricht. Dies ist insofern zu präzisieren, als dies ja nur auf eine bestimmte Varietät des Lateins zutrifft, die meisten Varietäten münden in die romanischen Sprachen, bleiben also erhalten. Stotz (2002:25) beschreibt treffend die Rückbindung, die die Bildungsschicht der Antike viva voce an den Rest der Bevölkerung hatte und wie das von ihnen produzierte Schrifttum entsprechende Verbreitung fand. Dabei handelte es sich selbst noch in der Spätantike um einen „Kreis rhetorisch-literarisch Gebildeter“, während im frühen Mittelalter nur noch eine „kastenartige Trägerschicht der Sprache“ (ibid.:25) bestand.254 Diese konnte zwar noch Sprachelemente der normierten Schriftsprache mehr oder weniger beurteilen, aber nicht mehr spontan aufgrund ihrer muttersprachlichen Sprachkompetenz, sondern nur noch durch angelerntes Sprachwissen und den Vergleich der literarischen Autoritäten. Lüdtke (2005:23) bringt zusätzlich den Aspekt der Institutionalisierung ins Spiel, d.h. der bewußten Festlegung und kanonisierten Tradierung dieser selegierten Varietät und schlußendlich die mehr oder weniger willkürliche Setzung einer bestimmten Aussprache, die eine ältere Sprachstufe widerspiegelt.
Nichtsdestoweniger bewahrte sich die lateinische Sprache gerade durch ihre Wechselwirkung mit den einzelnen Volkssprachen, auf die sie zum Teil maßgeblichen Einfluß hatte, auch eine Variationsbreite in vielerlei Hinsicht. In ihrer mündlichen Ausprägung unterlag sie zweifelsohne einer diatopischen Variation, regionale Unterschiede waren aber auch in der Schriftlichkeit nicht auszuschließen (Schreibschulen) und diaphasisch deckte sie zahlreiche Stilregister ab, entsprechend des allumfassenden Gebrauchs, der nur langsam durch die nach und nach in einzelne Domänen vordringenden jeweiligen Volkssprachen beschnitten wurde.
Bei den durchaus gegebenen regionalen Unterschieden handelt es sich, wie Stotz (2002:87) anmerkt, nicht um Dialekte im eigentlichen Sinn, sondern um Unterschiede, die zwar durchaus auch von sprachlichen Elementen bestimmt wurden, aber letztlich vor allem in einem kulturellen und sprachsoziologischem Rahmen zu beschreiben sind.
Poccetti/Santini/Poli (2005:13–14) zeigen auf, wie erst in der nachhumanistischen Ära das Lateinische soweit erstarrte, daß die Metapher von der „toten“ Sprache zumindest ein Stück weit zutreffend ist. Das Gefühl der mangelnden Lebendigkeit des Lateins erkannten zwar bereits die Gelehrten der Renaissance, doch waren es gerade diese eruditi, die eine ungeheure Produktivität und Innovation in der von ihnen totgesagten Sprache an den Tag legten.255