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2. Forschungsstand

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Der vorliegende Überblick über die aktuelle Forschungsliteratur ist an dieser Stelle bewußt selektiv und knapp gehalten, da eine entsprechende Behandlung pro einzelnem Themenkomplex in den verschiedenen theoretischen Kapiteln bereits erfolgt ist. Ausgeklammert werden sollen hier deshalb insbesondere die Forschungsübersichten zu den Fragen der Sozio- und Varietätenlinguistik, da hierzu einzelne Kapitel folgen, in denen die aktuelle Forschungslage kontrovers diskutiert wird (cf. Kap. 3.1.1, 3.1.2), sowie gleichermaßen zum Phänomen der Rekontextualisierung und Hermeneutik (cf. Kap. 3.2).

Es sei deshalb mit einem kurzen Überblick zum Thema der Architektur des Lateinischen begonnen. Eine Einführung in die Geschichte der lateinischen Sprache bieten die Synopsen von Schmidt (1996) im Lexikon der Romanistischen Linguistik (LRL) mit der Genese aus dem Indogermanischen, von Steinbauer (2003) in den Handbüchern zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK) zur Romanischen Sprachgeschichte sowie von Herman (1996) im LRL und von Seidl (2003) im HSK, beide mit einer Aufschlüsselung der Varietäten. Als Handbücher bzw. umfangreiche Darstellung sind Clackson (2011) und Willms (2013) zu nennen, letztere mit expliziter Ausrichtung an Studierende. Hervorzuheben ist das außerordentlich fundierte Werk von Poccetti/Poli/Santini (2005) zur Geschichte und den Varietäten des Lateinischen mit vielen ausführlich diskutierten Einzelaspekten. Ebenfalls in ihrer Materialfülle unverzichtbare Werke sind die von Adams (2003, 2007), der wohl erstmals systematisch die Diatopik des Lateins untersucht sowie die Mehrsprachigkeit der römischen Gesellschaft.

Zu den Ursprüngen des Lateinischen liegt eine Monographie von Baldi (2002) vor, eine wichtige Studie zum Sprachbewußtsein und der (stilistischen) Variation des Lateinischen ist die sehr detaillierte und mit viel Belegmaterial angereicherte Arbeit von Müller (2003). Aus romanistischer Perspektive arbeitet Müller-Lancé (2006), der sowohl die lateinische Sprachgeschichte als auch varietätenlinguistische Differenzierungen berücksichtig. In der Latinistik gilt das Werk von Hofmann (³1951, [11926]) zur Umgangssprache als ein früher Blick auf die Variation des Lateinischen. Diese Perspektive ist zum Teil bis heute prägend und nur langsam finden moderne varietätenlinguistische Einflüsse ihren Weg in die philologisch geprägten Traditionen (cf. Handbücher supra).

Einen Überblick zum mittelalterlichen Latein liefert Stötz (2002) mit seinem fünfbändigen Handbuch zu Wortschatz, Bedeutungswandel, Lautlehre sowie Syntax und Formenlehre, außerdem Berschin (2012), das hingegen gesamtphilologisch konzipiert ist. Eine verdichtete aber komplette Geschichte des Lateinischen liegt mit Kramer (1997) vor, der auch varietätenlinguistische Aspekte miteinfließen läßt. An Grammatiken mit Kapiteln zur Sprachgeschichte und Variation des Lateinischen sind Leumann/Hofmann (1928), Palmer (1990) und Meiser (2010) zu nennen.

Das Vulgärlateinische wird in der Forschung erstmals von Schuchardt (1866–1868) in Bezug auf den Lautwandel thematisiert, im weiteren liegen wichtige Arbeiten von Silva Neto (1957), Vossler (1953), Väänänen (11963, 42002) und Herman (1967) vor, der zahlreiche weitere Tagungen zu diesem Thema initiiert hat.12 In neuerer Zeit sind Forschungskompilationen von Euler (2005) aus indogermanistischer Perspektive und Kiesler (2006) aus romanistischer Perspektive entstanden. Den Übergang zum Romanischen behandeln vor allem Coseriu (1978, 2008), Wright (1982), Iliescu/Slusanski (1991) und ganz aktuell der Beitrag von Reutner (2014) in der Reihe der Manuals of Romance Linguistics (MRL).

Der zweite Teil des Forschungsüberblicks soll nun dem zentralen Untersuchungsgegenstand der humanistischen Debatte im 15. und 16. Jh. gewidmet sein. Die Zahl der Publikationen zu den allgemeinen Themenbereiche ‚Renaissance‘ und ‚Humanismus‘ ist entsprechend der Vielfalt des Spektrums an Fachwissenschaften, die sich damit auseinandersetzen, geradezu unüberschaubar. Für eine Synopse zur hier relevanten begrifflichen und inhaltlichen Abgrenzung sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen (cf. 6.1.1) und vorab nur selektiv auf ein paar Grundlagen-Werke. Nach wie vor unverzichtbar und nicht nur wissenschaftsgeschichtlich von Relevanz sind die Darlegungen von Burckhardt (2009, [1860]), dessen Kultur der Renaissance in Italien bis heute immer wieder aufgelegt wird. Wichtige Werke, die ebenfalls dazu beigetragen haben, diesen Untersuchungsbereich, vor allem im Rahmen der Geschichtswissenschaft und Philologie zu konstituieren, liegen mit der zweibändigen Arbeit von Kristeller (1973/1975) sowie mit dem Sammelband und der Monographie von Buck (1969, 1987) vor, des Weiteren zählt dazu auch Baron (1966, 1968) und Burke (1998), der ebenfalls einen umfassenden Blick auf diese europäische Epoche wirft. Als Exempel einer ausgewählten neueren Übersicht seien die Aufsatzsammlung von Wyatt (2014) in der Reihe der Cambridge Companions to Culture genannt sowie die Monographien von Fubini (2003) und von Baker (2015). Erwähnenswert ist auch das aktuelle zweibändige Monumentalwerk zu Philosophie der Epoche von Leinkauf (2017). An spezifischen Lexika seien zum einen die mehrbändige englische Encyclopedia of the Renaissance von Grendler (1999a) genannt, das Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit von Jaumann (2004), der 9. Supplementband (Renaissance-Humanismus) des Neuen Pauly von Landfester (2014a) und schließlich, eher kompakt, das Lexikon der Renaissance von Münkler/Münkler (2005).

In Bezug auf das speziellere aber dennoch bereits recht gut untersuchte Thema der questione della lingua in Italien sind neben älteren Werken von Luzzato (1893), Vivaldi (1894–1898), Furnari (1900), Belardinelli (1904), Labande-Jeanroy (1925) und Hall (1942), Mazzacurati (1965) und vor allem Vitale (1984 [11960]) als Referenz zu nennen. Neuere monographische Übersichtsarbeiten wären beispielsweise Bagola (1991) sowie Marazzini (2013, 2018) und Vitale (2006) sowie die Sammelbände von Pozzi (1988) und Belardi (1995) und schließlich die Aufsätze von Grayson (1982), Baldelli (1982) und Marazzini (2016).13 Ebenfalls zu nennen ist zudem die Anthologie mit den wichtigsten Schlüsseltexten von Pozzi (1988) und Scarpa (2012), wobei vor allem die neueren Arbeiten wie die von Marazzini und Scarpa den Begriff der questione sehr weit fassen und bis in die aktuelle Sprachdiskussion ausdehnen.14 Ausgewählte Aspekte der Sprachendiskussion beleuchten zum Beispiel die Arbeiten von Schunck (2003), die den metasprachlichen Diskurs des Sprachwandels diskutiert und hierzu wertvolle Einblicke liefert, sowie Ellena (2011), die insbesondere die Rolle der norditalienischen Varietäten in den Blick nimmt, aber darüberhinaus auch einen wertvollen Leitfaden für diese Epoche mit einem umfangreichen Quelleninventar bietet, oder aber Sabbatino (1995), der speziell die Kontroverse in Neapel beleuchtet. Einen wichtigen Überblick zur Periodisierung der Epoche liefert Koch (1988b), dessen Grundgerüst auch im Vorliegenden als Bezugsrahmen aufgegriffen wird.

Als die wichtigsten Forschungsarbeiten für den Kernbereich vorliegender Arbeit, also die Debatte um die Sprachkonstellation der Antike vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung von Latein- und Vulgärhumanismus, seien folgende angeführt: An chronologisch erster Stelle sei Strauss (1938) genannt, der bereits früh den Zusammenhang zwischen der Frage nach dem Ursprung des Konzeptes Vulgärlatein und der humanistischen Auseinandersetzung herstellt und nach wie vor zu konsultieren ist. Ebenfalls wertvolle Hinweise finden sich bei Klein (1957), der zahlreiche Aspekte der Gelehrten-Diskussion um das aufkommende volgare in der lateindominierten Literatur auf den Punkt bringt und in seiner Präzision in Bezug auf die sprachhistorischen Zusammenhänge unverzichtbar bleibt. Als Übersichtsstudien mit je unterschiedlichen Schwerpunkten in Form von Aufsätzen seien exemplarisch Migliorini (1949), Fubini (1961), Bahner (1983) und Kristeller (1973/1975; 1984) genannt sowie Faithfull (1953) zum spezifischen Aspekt der lingua viva. Einige ausgewählte Humanisten des 15. und 16. Jhs. werden in der knappen Zusammenstellung bei Dionisotti (1968) diskutiert, allerdings im Wesentlichen unter dem Aspekt der questione della lingua.

Die wichtigsten Protagonisten des 15. Jh. in dieser Debatte werden in der fundierten Darstellung von Tavoni (1984) behandelt, der zahlreiche Einzelfragen behandelt sowie wichtige Zusammenhänge zwischen den Konzepten der Humanisten herausarbeitet; zudem finden sich dort Auszüge der jeweils relevanten Primärtexte. Auf Tavoni basiert im Wesentlichen auch das Buch von Marchiò (2008), allerdings mit einem leicht veränderten und erweiterten Inventar der an der Debatte beteiligten Humanisten. Auch hier werden Primärtexte in Auszügen präsentiert, die dann im Wesentlichen inhaltlich zusammengefasst und partiell kommentiert werden, allerdings deutlich weniger tief als bei Tavoni. Äußerst wertvoll und kondensiert erweist sich die Monographie von Mazzocco (1993), der ebenfalls die wichtigsten Teilnehmer und den historischen Kontext behandelt, allerdings ohne Textauszüge wie Tavoni und Marchiò, dafür mit reichlich Zitaten und zahlreichen Belegen, die die Zusammenhänge zwischen den humanistischen Autoren verdeutlichen. Eine kürzere aber dennoch aufs Wesentliche reduzierte Darstellung findet sich in einigen Kapiteln bei Coseriu/Meisterfeld (2003). Hier werden ebenfalls keine vollständigen Primärtexte abgedruckt, sondern es finden sich nur einzelnen Schlüsselzitate, die dann kommentiert und in den sprachhistorischen Zusammenhang gestellt werden. Eine kommentierte Auswahl von Textauszügen allein mit Biondo, Bruni, Poggio und Valla wurde kürzlich auf Französisch von Raffarin (2015) herausgegeben, was eine nützliche Quelle in Bezug auf die Texte darstellt, jedoch als Sekundärliteratur wenig ergiebig ist. Eine sehr umfangreiche Einleitung und ausführliche Anmerkungen zu den abgedruckten Primärtexten samt italienischer Übersetzung bieten schließlich aktuell Marcellino/Ammannati (2015), allerdings rein für die Schlüsseltraktate von Bruni und Biondo. Für das 16. Jahrhundert kann außer auf die allgemeinen Darstellungen zur questione della lingua und zur italienischen Sprachgeschichte15 nur auf Schlemmer (1983a) zurückgegriffen werden, der in seiner Untersuchung allerdings den Fokus auf das Superstrat hat,16 sowie partiell auf Marazzini (1989), der das Sprachbewußtsein vom Humanismus bis zur Romantik untersucht. Vereinzelte Hinweise finden sich auch in der auf Vorlesungen der 1970er Jahre zurückgehenden und erst kürzlich herausgegebenen Sprachwissenschaftsgeschichte von Coseriu (2020). Neuere Aufsätze, die vorliegende Debatte mitberücksichtigen und das 15. und 16. Jh. behandeln, wären Schöntag (2017b) und Eskhult (2018).

Gerade die von italienischen Wissenschaftlern verfassten Arbeiten zu dieser Thematik haben oft eher eine gesamtphilologische Ausrichtung, in dem der hier im Fokus stehende linguistische Aspekt eher beiläufig behandelt wird, d.h. auch, daß Begiffe wie Diglossie oder diastratisch wenn, dann nur beiläufig auftreten und keine durchgehende sozio- oder varietätenlinguistische Verortung der einzelnen Traktate vorgenommen wird. So verwenden beispielsweise Tavoni (1984:XII, XV) und Mazzocco (1993:192, 195, 199) allein den Terminus diglossia, aber keine Begriffe des Diasystems; Marcellino/Ammanati (2015) immerhin neben diglossia (id. 2015:23) auch diastratico (id. 2015:25), während bei Marchiò (2008) mit diesen Begriffen gar nicht operiert wird. Letztlich bieten allerdings auch Schlemmer (1983a) oder Coseriu/Meisterfeld (2003), die sehr wohl einzelne Phänomene diasystematisch benennen, keine systematische varietätenlinguistische Analyse.

Die in der Forschung nachgezeichnete Debatte wird zudem meist auf die Anfangsjahre bzw. maximal auf das 15. Jh. beschränkt (v. supra),17 während hier, aus genannten Gründen (cf. Kap. 1.2) explizit der Zeitraum auf das 16. Jh. bzw. bis Anfang des 17. Jh. ausgedehnt wird (1435–1601) und somit auch mehr Humanisten und ihre Positionen berücksichtigt werden können.

Die Spezialliteratur zu den einzelnen Protagonisten der vorliegend nachgezeichneten Debatte sind den entsprechenden Kapiteln zu entnehmen, ebenso die zahlreichen Einzelstudien zu diversen Teilaspekten des abgehandelten Themas.

Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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