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4.3 Die Darstellung des Lateins und seiner Entwicklung in einem varietätenlinguistischen Modell

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Beschäftigt man sich im Rahmen der Klassischen Philologie mit der lateinischen Sprache, so ist der Fokus aller Betrachtung in der Regel auf dem für diese Fachdisziplin namengebenden Klassischen Latein ausgerichtet. Nichtsdestoweniger gab es auch von jeher in bescheidenem Umfang Studien zum nicht normierten Latein. Hierbei wird üblicherweise, wie auch in der aktuellen Einführung von Willms (2013), jegliche Variation im Latein unter zwei Begrifflichkeiten subsumiert, nämlich Vulgärlatein und lateinische Umgangssprache. Zu letzterem Terminus gibt Willms eine in mehrfacher Weise interessante Stellungnahme ab:

Die lat. Umgangssprache ist eine sprachhistorisch-begriffliche Schöpfung Johann Baptist Hofmanns. Er hatte bei der Definition dieses Terminus und seiner Abgrenzung von anderen Varietäten des Lateinischen keine glückliche Hand, doch bleiben beide sachlich sinnvoll und in modifizierter Form praktikabel. Willms (2013:239)

Es ist bezeichnend, daß Willms hier zwar berechtigte Kritik übt, aber andererseits in seiner aktuellen Einführung genau diese Terminologie beibehält. Auch bezüglich des Umfangs der Ausführungen zum lateinischen Substandard, wird dieser ganz traditionell marginalisiert. Vor allem sei hier dezidiert widersprochen, daß der Begriff weiterhin praktikabel sei, denn es handelt sich dabei um einen Terminus zur Bezeichnung sprachlicher Verhältnisse im Deutschen, ob deren Adäquatheit man schon diesbezüglich in Zweifel ziehen kann, eine Übertragung auf die Situation des Lateins der Antike, erscheint dabei problematisch, zumal hierunter die verschiedenster sprachlichen Ebenen gefaßt werden.

Nicht unproblematisch ist auch die Definition der Umgangssprache, die Hofmann zugrundelegt, setzt er diese doch mit dem sermo familiaris gleich und sieht sie als „die lebendige mündliche Redeweise der Gebildeten“ (Leumann/Hofmann 1928:10). Wie bereits dargelegt (v. supra) ist die Zuordnung zu dem vorwiegend bei Cicero gebrauchten Terminus nicht so einfach. Innerhalb der Umgangssprache wiederum erkennt er mehrere Abstufungen wie die gewählte Sprache der Konversation, den familiären Stil und den niedrigen Stil, während die Vulgärsprache einfach mit noch niedriger verankert wird. Trotz fehlender Differenzierung von diatopischer, diastratischer und diaphasischer Ebene hält sich diese Dreiteilung Schriftsprache (bzw. enger gefaßt Literatursprache) vs. Umgangssprache vs. Vulgärlatein hartnäckig, nicht nur in der Klassischen Philologie (cf. Palmer 1990, Meiser 2010, Willms 2013).256

In der Romanistik dagegen wird diese Trichotomie meist zu einer Dichotomie weiter verkürzt, indem eine Opposition Klassisches Latein vs. Vulgärlatein formuliert wird (cf. z.B. Rohlfs 1951, Vossler 1954, Silva Neto 1957, Herman 1967, Väänänen 11963/42002, Coseriu 2008). Exemplarisch sei dabei auf Herman (1996) verwiesen, der relativ klar die diasystematische Vielfalt der lateinischen Sprache erkennt und definiert, in seiner weiteren Beschreibung dann jedoch in alte Muster verfällt:

[…] en effet les Anciens eux-mêmes étaient conscients de l’existence d’usages que nous appellerions dialectaux ou socio-culturels […], et la recherche relative au latin connaît depuis toujours une longue nomenclature de variétés conformes à différents paramètres, sans même parler des étapes chronologiques s’échelonnant au cours de la longue histoire de la langue. (Herman 1996:45)

In seiner folgenden Abhandlung der variationsbedingten Unterschiede im Lateinischen faßt er trotz dieser Erkenntnis jegliche substandardliche Abweichung unter ‚Vulgärlatein‘.

Aus Sicht der Romanistik, die in einer diachronen Perspektive bestrebt ist die Ursprünge der romanischen Sprachen zu ergründen, ist diese Arbeitshypothese, auch im Sinne der im 19. Jh. formulierten genetischen Verwandtschaft der Sprachen, bei der eine Sprachfamilie durch eine gemeinsame Ursprache definiert wurde, durchaus legitim und praxisnah. In dieser Hinsicht ist es ausreichend jegliche Abweichung vom standardisierten Latein unter einen Begriff zu fassen, welche Sprachrealität auch immer damit verbunden ist (zur Diskussion v. infra).

Soll hingegen die lateinische Sprache als lebendige, sich wandelnde Sprache beschrieben und möglichst präzise in ihrer Vielfalt erfaßt werden, so ist diese Unterscheidung zu grobkörnig. Aus diesem Grund sei hier der Versuch unternommen, auf Basis der analysierten Begrifflichkeiten und der bisherigen Systematisierung der variationsbedingten Heterogenität des Lateins (siehe dazu das Modell zur Sprachen- bzw. Varietätenwahl in Kap. 3.1.3) eine diasystematische Auffächerung darzustellen.257 Soweit möglich sei dabei auf die antiken Termini rekurriert, diese aber, wenn nötig, um weitere ergänzt.258

Diasystem des Lateinischen
diatopische Ebene Dialekte Regiolekte (tertiäre Dialekte) Urbanolekte
primäre Dialekte: (sermo rusticus/agrestis) Römisch Praenestinisch Lanuvinisch Tiburinisch Tusculanisch Satricanisch Aricianisch etc. Varietäten der Provinzen: (sermo rusticus/agrestis) Italia Belgica Lugdunensis Narbonensis Aquitania Tarraconensis Lusitania Baetica Britannia Raetia Noricum Mauretania Africa etc. Varietäten der Städte: (sermo urbanus) Roma Mediolanum Mogontiacum Lugdunum Tarraco Augusta Treverorum Nemausus Narbo Olisipo etc.
sekundäre Dialekte: (sermo rusticus/agrestis) in Italien: mit oskischem mit umbrischem mit griechischem mit keltischem, etc. Einfluß außerhalb Italiens: mit iberischem mit germanischem mit lusitanischem etc. Einfluß
Soziolekte
diastratische Ebene schichtenspezifisch sermo urbanus sermo usitatus/sermo communis sermo plebeius/sermo vulgaris
Situolekte
diaphasische Ebene Superstandard Standard Substandard sermo urbanus/sermo latinus sermo usitatus/sermo communis sermo familiaris/sermo cotidianus sermo humilis/sermo vulgaris
Technolekte
diatechnisch gruppenspezifisch (sermo technicus) sermo philosphicus sermo medicus sermo religiosus sermo architectonicus sermo argrarius etc.
Helikialekte
diagenerationell altersspezifisch Gerontolekt (Sprache der Senioren) Neotolekt (Sprache der Kinder und Jugendlichen)
Sexolekte
diasexuell geschlechtsspezifisch Androlekt (Sprache der Männer) Gynaikolekt (Sprache der Frauen)

Abb. 3: Das Diasystem des Lateinischen

Diese hier präsentierte Idee einer Architektur des Lateinischen als lebende Sprache in der Antike ist natürlich insofern defizitär, als die diachronische Entwicklung und die sich daraus ergebenden Verschiebungen bzw. Nuancierungen – wie oben beschrieben – nicht abgebildet sind. Es bleibt weiterhin in vielerlei Hinsicht hypothetisch, da wir aus der historischen Konstellation heraus rein auf schriftsprachliche Zeugnisse angewiesen sind, die nicht nur die Frage nach der Mündlichkeit schwer beantwortbar machen, sondern jede Art der diasystematischen Variation nur fragmentarisch hinter der weitgehend standardisierte Schriftlichkeit sichtbar werden lassen. Insofern beruht das obige Schema zwar durchaus auf Studien und Belegmaterial, welches vorsichtige Rückschlüsse auf eine bestimmte Varietät zulassen, sie vollständig zu erfassen ist jedoch nicht möglich. Es sollte dabei jedoch im Anschluß an die neuere Forschung deutlich werden, daß das Lateinische der Antike eine vollausdifferenzierte Sprache war, deren Heterogenität sich eben nicht wie bisher üblich auf zwei oder drei Begriffe reduzieren läßt.

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