Читать книгу Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua - Roger Schöntag - Страница 5

1 Einleitung: Thematische Abgrenzung und Untersuchungsziel 1.1 Thematik

Оглавление

Das im Titel angezeigte Thema vorliegender Arbeit, nämlich die Untersuchung des Verständnisses von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit, ist dahingehend zu präzisieren, daß bei einer Analyse mit dem Fokus ‚Vulgärlatein‘ insofern immer auch die gesamte Sprache Latein in die Betrachtung miteinbezogen werden muß, als Vulgärlatein aus aktueller linguistischer Perspektive ganz prinzipiell einen Teilaspekt der lateinischen Sprache darstellt. Das bis heute bestehende Problem einer einheitlichen Definition von ‚Vulgärlatein‘ gilt erst recht für die hier untersuchte Epoche sprachtheoretischer Reflexion, in der das Konzept dessen, was man ab dem 19. Jh. in der Sprachwissenschaft unter ‚Vulgärlatein‘ versteht (cf. Kap. 5), erst nach und nach an Kontur gewinnt, es also um die Vorgeschichte dieses Konzeptes und linguistischen Begriffes geht. Für diese Zwecke wird ein Begriff von Vulgärlatein zugrundegelegt, der unabhängig von den heutigen zahlreichen Einzeldefinitionen einen Minimalkonsens beinhaltet, und zwar im Sinne einer weitgehend zu rekonstruierenden Basis bzw. Ursprache der romanischen Sprachen, die im Gegensatz zum klassischen Latein auf der gesprochenen Sprache Roms bzw. des römischen Reiches (Westteil) beruht und die in einzelnen schriftlichen Texten zutage tritt (cf. Quellen des Vulgärlateins).

Gegenstand der Untersuchung bilden ausgewählte Texte (v. infra) verschiedener Autoren zur Sprachreflexion im Italien der Frühen Neuzeit. Diese Schriften, die je nach Präferenz des Verfassers auf Italienisch oder Latein abgefaßt wurden, dienen als Basis, um die einzelnen Vorstellungen jener Autoren von dem in der Antike gesprochenen (und geschriebenen) Latein zu rekonstruieren. Im Weiteren soll dann, anhand dieser unterschiedlichen Auffassungen, die Entwicklung bzw. der Wandel des Verständnisses des antiken Lateins und seines Varietätenraumes nachgezeichnet werden. Es handelt sich demnach um den Versuch einer Rekonstruktion eines metasprachlichen Diskurses. Ein wichtiger Aspekt dabei ist ebenfalls der im Untertitel der Arbeit angesprochene begriffsgeschichtliche Teil der Untersuchung, denn im Zuge der Aufarbeitung der eben erläuterten frühneuzeitlichen Diskussion ist es auch möglich und zugleich notwendig, die Entstehung des Begriffes und Konzeptes ‚Vulgärlatein‘ zu skizzieren. Dabei wird auch der antike Ursprung (cf. sermo vulgaris) mitberücksichtigt. Nichtsdestoweniger liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Nachzeichnung der angesprochenen humanistischen Debatte, in deren einzelnen Positionen sich diejenigen Vorstellungen zur Sprachkonstellation der Antike, d.h. vor allem bezüglich des schriftlichen Lateins und seiner mündlichen Varietät(en), abzeichnen, die letztlich Vorboten einer späteren sprachwissenschaftlichen Differenzierung von Latein und Vulgärlatein darstellen.

Den Rahmen für die vorliegende Untersuchung bildet die sogenannte questione della lingua, die Sprachenfrage in Italien, eine Diskussion um die adäquate Literatursprache (d.h. um einen schriftlichen Standard) des Italienischen, die von zahlreichen Gelehrten mit unterschiedlichen Positionen über mehrere Jahrhunderte hinweg intensiv geführt wurde (cf. Kap. 6.1).

Den Höhepunkt dieser intellektuellen Auseinandersetzung kann man im Wesentlichen im 16. Jahrhundert ansetzen, doch reichen einerseits ihre Wurzeln weiter zurück, nämlich in letzter Konsequenz zum Beginn einer umfassenderen literarischen Produktion auf Italienisch (cf. Tre corone) und damit zum potentiellen Konflikt mit der bis dahin dominierenden Schriftsprache Italiens und ganz Europas,1 dem Lateinischen. Ihren Abschluß findet die questione bekanntlich erst im 19. Jahrhundert, als sich schließlich, nicht nur auf der Ebene der theoretischen Diskussion, das in seinen Grundzügen bis heute gültige Modell durchsetzt, sondern mit der Schaffung des italienischen Nationalstaates auch die Voraussetzungen zu einer praktischen Umsetzung gegeben sind, wobei die Herausbildung und schließlich eine weitgehend flächendeckende Verbreitung eines Standarditalienischen im Bereich der mündlichen Kommunikation bis weit ins 20. Jahrhundert dauerte.

Die Sprachenfrage in Italien hat im Laufe der jahrhundertelangen Diskussion zahlreiche Facetten gezeitigt,2 wobei man zwei Kernfragestellungen ausmachen kann: Zum einen gab es zunächst den Konflikt unter den Zeitgenossen, ob es prinzipiell überhaupt möglich ist, im volgare, also der Volkssprache, literarische Werke hervorzubringen, die den gleichen sprachlich-stilistischen, intellektuellen und künstlerischen Stellenwert und Anspruch haben konnten wie die auf Latein abgefaßten. Zum anderen stellte sich gerade in Italien daran anschließend die Frage, welche Varietät des Italienischen man gebrauchen sollte, wenn man denn das Italienische dem Lateinischen als Schriftsprache vorzog.3 Im politisch zersplitterten Italien standen sich einerseits verschiedene diatopische Varietäten und deren scriptae gegenüber, die an verschiedene Machtzentren gekoppelt waren, andererseits gab es mit dem Werk der Tre corone ein übermächtiges literarisches Vorbild, welches in sich wiederum sehr vielfältig war und im 15./16. Jh. bereits archaisch anmutete. Nachdem nach und nach das Italienische als adäquate Sprache für einige literarische Gattungen weitgehend akzeptiert worden war, konzentrierte sich die Diskussion der weiteren Jahrhunderte auf die Frage nach der diatopischen und zeitlichen Verortung einer idealen italienischen Literatursprache.

Für die vorliegende Arbeit ist vor allem der erste Teil der italienischen Sprachenfrage von Relevanz, insofern im Schnittpunkt zwischen Lateinhumanismus und Vulgärhumanismus ein Diskussionsfeld eröffnet wurde, an dem sowohl die Parteigänger des Lateinischen partizipierten, als auch die Befürworter der italienischen Volksprache in der Literatur Anteil hatten: Es handelt sich dabei um die Frage, welche Art von Latein im antiken Rom bzw. im Imperium Romanum gesprochen wurde.

Die Beschäftigung mit dem Latein wurde nicht zuletzt durch den Geist der Renaissance, d.h. das wiedererwachte, verstärkte Interesse an der Antike angeregt. Seit dem 14. Jh. und vor allem im 15. Jh. begann man, zahlreiche Werke lateinischer und griechischer Autoren wiederzuentdecken, indem man sich in den Bibliotheken auf die Suche nach antiken Kodizes machte.4 Schon 1345 entdeckte Francesco Petrarca (1304–1374) in der Bibliothek der Kathedrale von Verona Briefe Ciceros,5 1392 stieß Coluccio Salutati (1331–1406) auf weitere Cicero-Briefe (Epistolae ad familiares) in derselben Stadt und Poggio Bracciolini (1380–1459), einer der Erfolgreichsten bei der Manuskriptsuche, entdeckte auf Reisen durch Deutschland und Frankreich während seiner Zeit als päpstlicher Sekretär auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418) nicht nur Cicero-Schriften, sondern in St. Gallen auch eine komplette Fassung von Quintilians Institutio oratoria sowie zahlreiche weitere Texte antiker Autoren (cf. Burckhardt [1860] 2009:150–157; Sandys 1915:166–168). So konnte nicht nur der Kanon der lateinischen (und griechischen) Schriften erweitert werden, sondern durch diese intensive Recherchetätigkeit erfuhr auch die Rezeption klassischer Texte einen nachhaltigen Aufschwung. Insbesondere die in diesem Kontext verstärkte Auseinandersetzung mit Cicero hängt eng mit der ersten Phase der questione della lingua zusammen, in der die Frage nach der idealen lateinischen Literatursprache gestellt wird.

Dabei ist ebenfalls zu berücksichtigen, daß im Zuge der oben genannten verstärkten Rezeption der römischen Texte, insbesondere Ciceros, man auch gleichzeitig die zu dieser Zeit bereits vorliegende Sprachreflexion mitrezipierte.6

Diese intensive Beschäftigung mit den klassischen lateinischen Texten, dem generellen Interesse an der Antike sowie der zentralen Fragestellung des Lateinhumanismus um ein adäquates, zeitgenössisches Latein sind – wie die Untersuchung zeigen wird – die zentralen Voraussetzungen, daß sich bei einigen Gelehrten nach und nach ein Bewußtsein für die Diglossiesituation der eigenen Epoche herausbildete, mit einem Schriftlatein als high variety7 und der italienischen Umgangssprache (meist in starker diatopischer Ausprägung) als low variety. Somit ergab sich parallel und in Verknüpfung mit der lateinischen questione dieses spezifische Interesse und damit auch die daran anknüpfende Auseinandersetzung mit der antiken Sprachsituation.

Die Teilnehmer an dieser Diskussion setzten sich also mit der konkreten Frage auseinander, welche Sprache die Römer wohl einst in ihrem täglichen Umgang sprachen – eben im Gegensatz zu jener, die durch die bekannte Literatur tradiert wurde – und wie diese Sprache des antiken römischen Volkes mit der Volkssprache des zeitgenössischen Italiens zusammenhing. Dadurch eröffnete sich eine Problematik, die wir heute gängigerweise mit der begrifflichen Dichtomie ‚Vulgärlatein‘ vs. ‚klassisches Latein‘ zu erfassen und abzugrenzen suchen. Die humanistischen Gelehrten versuchten, sich nach und nach eine immer präzisere Vorstellung von den sprachlichen Verhältnissen der Antike zu machen, wobei sie prinzipiell auf zwei Methoden zurückgriffen: zum einen auf den Vergleich mit ihrer eigenen Sprachsituation und zum anderen auf die Informationen, die ihnen die antiken Autoren lieferten. Die Argumentationen in dieser Diskussion waren jedoch nicht von einem originären Interesse an der Erforschung dieses Sachverhaltes geprägt, sondern müssen vor dem Hintergrund der Sprachenfrage und den dort vertretenen Positionen in Bezug auf das Verhältnis ’Latein vs. Volkssprache’ bzw. der Streitfrage um die Adäquatheit des Italienischen als Literatursprache gesehen werden.

Thema der vorliegenden Arbeit ist demgemäß ein metasprachlicher Diskurs im Italien der Frühen Neuzeit, der einerseits eng mit der questione della lingua verknüpft ist, andererseits aber seine eigene Dynamik entwickelt. Damit ist das Interesse an der Rekonstruktion dieses frühneuzeitlichen Disputes hier als ein genuin romanistisches zu verstehen, welches jedoch unzweifelhaft im Schnittpunkt auch mit anderen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Latinistik oder ganz allgemein der Philologie im traditionellen Sinne steht.

Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

Подняться наверх