Читать книгу Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua - Roger Schöntag - Страница 20

4.1.1.3 Klassisches und Nachklassisches Latein

Оглавление

In der Literaturgeschichte wird nicht selten der Beginn der Epoche des Klassischen Lateins mit der ersten Rede Cicero präzise im Jahre 81/80 v. Chr. verortet und man folgt dann der stark wertenden Feingliederung in „goldene“ (80 v. Chr.-14 n. Chr.) und „silberne“ (14–117 n. Chr.) Latinität (cf. Meiser 2010:2, § 2) nach Maßgabe einer traditionell verankerten Beurteilung der Qualität der literarischen Produktion. Sprachwissenschaftlich gesehen ist es eher sinnvoll, den Beginn dieser Periode, die auch sprachliche Neuerungen zeitigt, gröber ins 1. Jh. v. Chr. zu datieren.

Müller-Lancé (2006:32) datiert die Epoche des „nachklassischen Lateins“ analog zu Meiser (2010:2; § 2), der diese Zeit jedoch „archaisierende Periode“ nennt und ebenso exakt vom Tode Trajans (117 n. Chr.) bis zum Tode Marc Aurels (180 n. Chr.) andauern läßt. In Anlehnung an die Datierung von Steinbauer (2003:513), der diese Zeit durch eine an vorciceronianische Vorbilder anknüpfende Literatur zwischen 120–200 n. Chr. verortet, sei hier diesem folgend, gröber ein Ende an der Wende vom 2. zum 3. Jh. n. Chr. postuliert. Klassisches und Nachklassisches Latein seien hier zusammengefaßt, da es einerseits in der nachklassischen Zeit keine signifikanten sprachlichen Änderungen im Vergleich zur klassischen Epoche gab und andererseits aus der hier fokussierten Perspektive von Ausbau, Diskurstraditionen und Sprachkonstellationen kein wirklicher Paradigmenwechsel zu verzeichnen ist.

Es ist in diesem Rahmen weder möglich, noch notwendig den Umfang und die Breite der Literatur dieser Periode zu behandeln, sondern es soll sinnvollerweise auf die wesentlichen Neuerungen in Bezug auf die diskurstraditionelle Perspektive eingegangen werden sowie den damit einhergehenden sprachlichen Ausbau, der zu dieser Zeit weitestgehend vollendet wird. Das bereits in altlateinischer Zeit wichtige Modell der griechischen Textgattungen und Diskurstraditionen erfüllt diese Funktion auch weiterhin und zeitigt in der römischen Literatur neue Formen. Dabei sind die Griechen nicht nur Vorbild, sondern gleichzeitig Maßstab des zu Erreichenden, an dem sich die Römer in einer Art kulturellen ἀγών abarbeiten und dies ist nicht nur objektiv als Prozeß zu konstatieren, sondern durchaus Teil der römischen Selbstreflexion wie bei Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus, ca. 35–96 n. Chr.) dokumentiert:

Elegia quoque Graecos prorocamus, cuius mihi tersus atque elegans maxime videtur auctor Tibullus. Sunt qui Propertium malint. Ovidius utroque lascivior, sicut durior Gallus. (Quintilian, Inst. orat., X, 1, 93; 2001 IV:302)

Tatsächlich wird erst in klassischer Zeit der ganze Bereich der Lyrik vom Lateinischen erschlossen, der zuvor nur ansatzweise in religiösen carmina vertreten war.195

Eine Textgattung, die bei den Griechen schon im 7. v. Chr. mit Mimnermos von Kolophon bzw. Smyrna (Μίμνερμος, 6. Jh. v. Chr.) den ersten Vertreter zeitigte und bis in den Hellenismus gepflegt wurde, in der Kallimachos von Kyrene (Καλλίμαχος ὁ Κυρηναῖος, ca. 310–249 v. Chr.) mit seinen mythologischen Ursprungsgedichten, den αἰτία, hervorsticht, ist die der Elegie, die sich formal durch das elegische Distichon (alternierende Hexameter und Pentameter) abgrenzt und inhaltlich durch mythologische Themen, allgemeine Reflexionen, Spott, Klage, Erotik oder persönliche Anliegen charakterisiert ist (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:183–184). Im römischen Bereich wird die Form übernommen und inhaltlich oft Mythologisches mit Autobiographischem kombiniert, wie es uns in dem ersten elegischen Gedicht des Neoterikers Catull (Gaius Valerius Catullus, 84–54 v. Chr.), der Allius-Elegie (carmen, Nr. 68) entgegentritt. Neben Catull bedienen sich dieser Gedichtform mit thematischer Variation vor allem Gallus (Gaius Cornelius Gallus, 70/69–27/26 v. Chr.), Tibull (Albius Tibullus, ca. 50–19 v. Chr., Corpus Tibullianum), Properz (Sextus Propertius ca. 47–15 v. Chr., Monóbiblos) und Ovid (Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr.-17 n. Chr., Ars amatoria,196 Remedia amoris, Tristia, Epistulae ex Ponto), die auch insgesamt zu den maßgeblichen Vertretern der römischen Lyrik gehören (cf. Baier 2010:59–77).

Indem er in seinen Heroides die literarische Gattung des Briefes und die lyrische Form der Elegie miteinander verschmilzt sowie zusätzlich Elemente der Rhetorik miteinfließen läßt (Ethopoiie bzw. sermocinatio), beschreitet Ovid ganz selbstbewußt (ars 3, 346) neue Pfade in seinem Schaffen und der römischen Literatur (cf. Baier 2010:71).

Weitere Arten der Lyrik in lateinischer Sprache sind dem wie Ovid und Properz zum Kreis des Maecenas (Gaius Cilnius Maecenas, ca. 70–8 v. Chr.) gehörenden Horaz (Quintus Horatius Flaccus, 65–8 v. Chr.) zu verdanken, einem der wichtigsten Dichter der augusteischen Ära.197 Nach dem Vorbild der griechischen Dichtung des Archilochos (Ἀρχίλοχος, ca. 680–645 v. Chr.) führt er durch seine Iambi die Textgattung der Epoden198 – Distichon mit einem langen und einem kurzen Vers – erstmals in die lateinische Literatur ein. Seine Innovation ist ihm dabei durchaus bewußt (epist. I, 9, 19–25), genauso wie die erstmalige interpretatio Romana der Ode in den carmina, bei der er sich an berühmte Vorläufer wie Pindar (Πίνδαρος, 518–440 v. Chr.) oder Alkaios (Ἀλκαῖος, ca. 630–580 v. Chr.) anlehnt (cf. alkäische Dichtung) (cf. Baier 2010:72–77).199

Eine andere lyrische Textgattung, die in dieser Epoche Eingang in die römische Literatur findet, ist das Epigramm, welches seinen Ursprung in Inschriften hat (v. supra. z.B. Grabinschrift der Scipionen), literarisch jedoch traditionell auf Simonides von Keos (Σιμωνίδης, 557/556–468/467 v. Chr.) zurückgeführt wird und auf Latein erstmals von Catull gepflegt wird, dann aber vor allem bei Martial in seinem Epigrámmaton liber (Liber spectaculorum) variantenreich zur Geltung gebracht wird. In dieser Kurzform, die ursprünglich als elegisches Distichon realisiert wird, bei Martial aber auch metrisch variieren kann,200 wird auf eine Pointe abgezielt, die alle Bereiche der conditio humana mal spöttisch, mal kritisch geistreich auf den Punkt bringt (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:194–195; Albrecht 2012 I:281–282).

Nach dem Vorbild der eidýllia (aus dem Corpus Theocriteum) des sizilianischen Dichters Theokrit (Θεόκριτος, 1. Hälfte 3. Jh. v. Chr.) bringt der in Bezug auf seine Nachwirkung womöglich bedeutendste Dichter der römischen Antike, Vergil (Publius Vergilius Maro, 70–19 v. Chr.), in seinen in Hexameter gedichteten Bucolica (Eclogae) die bukolische Lyrik in die römische Literatur. Ein Epigone Vergils in späterer Zeit ist beispielsweise Calpurnius Siculus (Titus Calpurnius Siculus, 1. Jh. n. Chr.) mit den von ihm verfaßten Eklogen, wobei bei ihm teilweise Hirtenpoesie und Herrscherpanegyrik vermischt werden (cf. Kleine Pauly 1964 I:1026).

Eine lyrische Sammlung mit Gedichten zu verschiedenen Anlässen und in unterschiedlicher Form stellen die Silvae des Statius (Publius Papinius Statius, 40/50–95 n. Chr.) dar. Die auch als „Gelegenheitsgedichte“ apostrophierten Verse thematisieren öffentliche (Panegyrikon) wie private Anlässe (Hochzeit, Trauer, Trost, Geburtstag) oder enthalten Kunst- und Baubeschreibungen (Ekphrasis) (cf. Baier 2010:77–78).

An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Poesie ist das Lehrgedicht anzusiedeln, welches zwar mit den Ἒργα καὶ Ἡμέραι Hesiods (Ἡσίοδος, ca. *700 v. Chr.) einen fernen Vorläufer hat, aber erst im Hellenismus seine eigentliche Form findet, die dann vor allem durch Lukrez (Titus Lucretius Carus, 96–53 v. Chr.) in seinem sechs Bücher umfassenden Werk De rerum natura erstmals in lateinischer Sprache ausgearbeitet wurde (in Hexametern). Ähnlich wie Horaz ist sich Lukrez bewußt, daß er mit seinem physikalischen Lehrgedicht, in dem er auch zum Vermittler epikureischer Philosophie in Rom wird, neue Wege beschreitet, ganz im Sinne der neoterischen Bewegung (I, 926–927). Dabei weist er explizit auf die sprachliche Armut des Lateins hin, welches im Vergleich zum Griechischen eigentlich noch nicht ausgebaut genug ist, um ein derartiges Unterfangen möglich zu machen – insofern ist es also eine Pionierleistung. Unzweifelhaft an Hesiod knüpft die Georgica Vergils an, in der der Dichter seine Sicht des idealen Lebens in moralischer Hinsicht (labor improbus) und ganz konkret in Bezug auf das gelobte Landleben (Ackerbau, Baum- und Weinkultur, Viehzucht, Bienenhaltung) in hexametrischer Form ausbreitet (cf. Baier 2010:27–36).

Eine Mischung aus klassischem griechischem Epos, der Kurzform des Epyllion und der des Lehrgedichtes sind die Werke Ovids. In seinen Metamorphoses greift er sowohl auf die Tradition der ätiologischen Dichtung zurück (v. supra) als auch auf die der Verwandlungssagen wie in den Ἑτεροιούμενα Nikanders von Kolophon (Νίκανδρος ὁ Κολοφώνιος, 3./2. Jh. v. Chr.), während er in den Fasti die Ereignisse des römischen Festtagkalenders literarisch überhöht (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:194–195; Baier 2010:34–35).

Neu in der Klassischen Periode ist außer dem Aufkommen der verschiedenen Formen der Lyrik auch die Textgattung des Romans201 bzw. der längeren, komplexen Prosaerzählung, die in dieser Zeit erstmals in lateinischer Sprache auftritt. Romanhafte Vorstufen sind in der Ἀνάβασις Xenophons (Ξενοφῶν, ca. 430–350 v. Chr.) oder den Berichten des Ktesias (Κτησίας, ca. um 400 v. Chr.), der Περσικά oder der Ἰνδικά, zu sehen, doch erst in hellenistischer Zeit bildet sich diese Erzählgattung im griechischen Raum vollständig heraus, so beispielsweise bei Iambulos (Ἰαμβοῦλος, 3. Jh. v. Chr.) oder Chariton von Aphrodisias (Χαρίτων Ἀφροδισεύς, 1./2. Jh. n. Chr.). Römische Adaptionen gibt es nur wenige, doch haben sie allesamt eine nicht unbedeutende Nachwirkung entfaltet. Dabei sind vor allem aus sprachlicher Sicht als wichtige Quelle substandardlichen Lateins die Satyricon libri des Petron (Gaius/Titus Petronius Arbiter, †66 n. Chr.) zu nennen, und zwar insbesondere der dort enthaltene Part des Gastmahl des Trimalchio (cena Trimalchionis). Hier knüpft der Autor explizit an seine hellenistischen Vorläufer an, insofern er einerseits griechische Reiseromane parodiert und andererseits formal an die Menippeische Satire anknüpft, indem er sowohl Vers als auch Prosapassagen verwendet (prosimetrum). Ebenfalls in die Reihe der romanhaften Darstellungen gehört der Eselsroman (Metamorphoseon libri XI) des Apuleius (ca. 125–170 n. Chr.), der in sich wiederum verschiedene Elemente anderer Gattungen wie die des Märchens (Amor und Psyche) oder der Milesischen Novelle enthält sowie Aspekte der platonischen Philosophie. Anknüpfend an den populären Stoff der Eroberungsfeldzüge Alexander d. Großen (336–323 v. Chr.) verfaßte Curtius Rufus (Quintus Curtius Rufus, 1. Jh. v. Chr.) eine Alexandergeschichte (Historiae Alexandri Magni Macedonis), basierend u.a. auf den sogenannten Alexanderhistorikern Ptolemaios (Πτολεμαῖος, 366–283 v. Chr.) und Kleitarch (Κλείταρχος, 4. Jh. v. Chr.), mit teilweise moralisierendem Unterton – Alexander als Gegenbild römischer Tugenden, der getrieben von Affekten und mit Maßlosigkeit agiert (cf. Baier 2010:96–101).

Eine andere neue Textgattung, die in der klassischen Zeit erstmals für das Lateinische erschlossen wird und damit das Spektrum des diskurstraditionellen Ausbaus vergrößert, ist der Brief, nicht so sehr als Gebrauchstext, sondern vielmehr als literarische, für die öffentliche Rezeption bestimmte Form.202 Auch hier gibt es griechische Vorbilder wie die Lehrbriefe Epikurs (Ἐπίκουρος, 342/341–271/270 v. Chr.) als spezifische Ausformung der Gattung, an die Seneca (Lucius Annaeus Seneca, ca. 1–65 n. Chr.) mit seinen Epistulae morales ad Lucilium anknüpft. Frühester römischer Gebrauch ist jedoch bei Cornelia, der Mutter der berühmten Volksstribunen Tiberius und Gaius Gracchus bezeugt (Quint. I, 1, 6). Die wichtigsten Korpora von Briefen, die literarisch über die Antike hinausgewirkt haben, sind diejenigen von Cicero (Ad familiares, Ad Atticum, Ad Quintum fratrem) und von Plinius d.J. (Gaius Plinius Secundus, 61/62–112/113 n. Chr.), die auch sprachlich insofern bemerkenswert sind, als die ciceronischen mitunter stilistisch stark von seinem sonstigen elaborierten Duktus abweichen und als Quelle für vulgärlateinische Phänomene gelten, während die Episteln des Plinius eine elaborierte Kunstform in verschiedenster Ausprägung darstellen (Ekphrasis, Essay, Panegyrikon) und als einzige die Forderungen nach der brevitas und der Monothematizität weitgehend einlösen. Während diese beiden Autoren die Briefe in Prosa abfaßten, waren die Epistulae des Horaz, in denen auch die Ars poetica enthalten ist, in hexametrischen Versen abgefaßt und demnach ab ovo für die Publikation bestimmt (cf. Baier 2010:101–104; Albrecht 2012 I:430–435).

Die römische Literatur wird hierbei um eine neue Gattung bereichert, indem auf verschiedene Spielarten einer Textsorte zurückgegriffen wird (Privatbrief, Lehrbrief, öffentlicher Brief, essayistischer Brief etc.), der partiell zwar in der griechischen Literatur (und auch in anderen Kulturkreisen) bereits vorgegeben ist. Von den Römern wurde sie aber weiter ausdifferenziert und zu einem festen neu interpretierten Bestandteil der literarischen Ausdrucksmöglichkeiten wurde, wobei aus diskurstraditioneller Perspektive das Lateinische in einen weiteren Bereich vorrückt, der Ausbau der Sprache durch die neuen Arten der Versprachlichung vorangetrieben wird.

Die bereits in altlateinischer Zeit sich herausbildende Tradition der Rhetorik bzw. der öffentlichen Rede bei den Römern wurde in der klassischen Periode nun auch schriftlich fixiert, und zwar sowohl in Form von Lehrbüchern bzw. Anleitungen zur richtigen Anwendung rhetorischer Ausdrucksmittel und Verhaltensweisen als auch durch konkret gehaltene oder zu haltende Reden. Diesbezüglich ist vor allem Cicero zu nennen, der nach der ersten – ihm nur zugeschriebenen – Rhetorik Auctor ad Herennium die Werke De oratore, Brutus und Orator verfaßte. An konkreten Reden seien auswahlweise nur Pro Sexto Roscio Amerino, Divinatio in Q. Caecilium, Pro Marcello, Pro Ligario und Pro rege Deiotaro, genannt. Wegweisend im Bereich der Rhetorik ist außerdem Quintilian, der mit seiner Institutio oratoria ebenfalls einen erheblichen Einfluß auf spätere Grammatikwerke ausübte (v. infra Varro et al.). (cf. Baier 2010:107–114).

Eine Textgattung, die bei den Römern nicht zur Literatur sensu strictu gehörte, die Fabel, wurde von Phaedrus (Φαῖδρος, 1. Jh. n. Chr.), einem Freigelassenen griechischer Herkunft, erstmals in lateinischer Sprache etabliert. Vorbild für die von Phaedrus im der Komödie nahestehenden altertümlichen Versmaß des Senaren nachgedichteten, sich durch ihre brevitas auszeichnenden Tierparabeln mit gesellschaftskritischen Unterton und bisweilen moralisierender Tendenz (cf. Promythien, Epimythien) sind die Fabeln von Äsop (Αἴσωπος, 6. Jh. v. Chr.) (cf. Baier 2010:79–80). Im Zuge der aemulatio entfernt sich Phaedrus dabei zunehmend von seinem Modellautor und übernimmt nach und nach weniger Motive und programmatische Schlußfolgerungen (cf. Kleine Pauly 1964 I:199). Auch wenn innerhalb der römischen Literatur die Rezeption eher verhalten ist und eine Nachwirkung erst in neuzeitlichem europäischen Kontext einsetzt (La Fontaine, Lessing), ist die Erweiterung der lateinischen Prosa um ein weiteres Genre sprachwissenschaftlich insofern von Bedeutung, als hier neue diskurstraditionelle Bereiche mit bestimmten Versprachlichungsstrategien (d.h. unterschiedlichen stilistischen Mitteln) erschlossen werden (cf. Baier 2010:79–80).

Es sei an dieser Stelle dezidiert darauf verwiesen, daß alle bisher aufgezählten Textgattungen in der römischen Literatur bisher nicht zum Tragen kamen, also neue Formen und Inhalte mit der lateinischen Sprache ausgedrückt wurden.

In der Periode des klassischen Lateins wurden aber auch in Ansätzen bereits existierende Textgattungen weiter ausgebaut. Dies gilt beispielsweise für das Epos als die literarische Form mit dem größten Prestige, welches durch die Aeneis von Vergil ihren unbestreitbaren Höhepunkt erfuhr. Aus einer ex post Perspektive läßt sich konstatieren, daß der größte römische Dichter den größten griechischen zum Vorbild nahm. Ganz im Sinne der interpretatio Romana gibt Vergil den Römern ein Identifikationswerk in geschliffenen Hexametern mit Elementen der Ilias (Ἰλιάς) und Odysee (Ὀδύσσεια) von Homer ( Ὅμηρος, ca. 7./8. Jh. v. Chr.). In der Nachfolge von Vergil dichten Lukan (Marcus Annaeus Lucanus, 39–65 n. Chr.), der neben kleineren Dichtungen (Iliaca, Orpheus, Silvae), das Epos Pharsalia (bellum civile) über den Bürgerkrieg schreibt, unter anderem Silius Italicus (Tiberius Catius Asconius Silius Italicus, ca. 25–100 n. Chr., Punica) und Statius, der mit seiner Thebais antithetisch an die Aeneis anknüpft (cf. Baier 2010:17–27).

Die Satire, die bereits in altlateinischer Zeit von Lucilius gepflegt wurde (v. supra), erfährt mit den saturae des Horaz ihre sprachliche und literarische Vollendung. Auch wenn er auf ein römisches Vorbild zurückgreifen kann, bleibt der Rekurs auf die griechische Tradition bestehen – so knüpft er beispielsweise an die kynische Diatribe im Stile des Bion von Borythenes (Βίων Βορυσθενίτης, ca. 335–252 v. Chr.) an. Satirendichtung betreiben im Folgenden auch Persius Flaccus (Aulus Persius Flaccus, 34–62 n. Chr.) und Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis, ca. 67–127 n. Chr.), wobei insbesondere letzterem nicht zuletzt durch einige bonmots (z.B. panem et circenses, 10, 81; mens sana in corpore sano, 10, 356; difficile est satiram non scribere, I, 30) eine nicht unerhebliche Nachwirkung beschieden war. Eine dezidierte Anknüpfung an die Menippeische Satire, mit der sich schon Varro (Marcus Terentius Varro, 116–27 v. Chr.) beschäftigt hat (De compositione saturarum), findet sich dann bei Seneca (d.J.) in seiner Apocolocyntosis Divi Claudii. Auch wenn die Textgattung der Satire keine „Erfindung“ der Römer war, bekam sie in der lateinischen Sprache und Literaturtradition doch eine ganz eigene Ausformung und Prägung, so daß Quintilian sie schließlich pointiert ganz vereinnahmen kann: „Satura quidem tota nostra est […]“ (Inst. orat. X, 1, 93; 2001 IV:302) (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:677–679; Baier 2010:56–58).

In den Bereichen, die man im weiten Sinne der Wissenschaft zuordnen kann und die in der Periode des Altalteins bereits Werke in lateinischer Sprache gezeitigt haben, ist für die Epoche des Klassischen Lateins ein weiterer intensiver Ausbau dieser Diskurstraditionen zu konstatieren.

So erlebt die Geschichtsschreibung eine Blüte mit zentralen Autoren wie Sallust (Gaius Sallustius Crispus, 86–35 v. Chr., Bellum Catilinae, Bellum Iugurthinum, Historiae) Livius (Titus Livius, 64/59 v. Chr.-12/17 n. Chr., Ab urbe condita libri), Tacitus (Publius Cornelius Tacitus, ca. 56–120 n. Chr., Annales, Historiae) und Sueton (Cornelius Suetonius Tranquillus, ca. 70–140 n. Chr., De vita Caesarum, De viris illustribus). Letzterer steht hierbei zwischen Historiographie und biographischer Literatur.203 Neue, sozusagen römische Wege beschreitet hierbei Caesar (Gaius Iulius Caesar, 100–44 v. Chr.), der mit seinen commentarii eine ganz eigene Art von Hybridwerk zwischen militärischem Bericht, historischer Darstellung und autobiographischer204 Rechtfertigung schafft, auch mit einem sehr eigenen spezifischen sprachlichen Duktus (cf. Baier 2010:93–94).

Die Rechtsprechung zeitigt wichtige Werke von Autoren wie Gaius (ca. 120–180 n. Chr.) mit seinen Institutiones oder Papinian (Aemilius Papinianus, 142–212 n. Chr.) mit den Quaestiones, um nur eine Auswahl zu nennen (cf. Albrecht 2012 II:1294). Gerade in diesem Wissenschaftsbereich, der eng an eine Praxis geknüpft ist, beginnt in der Kaiserzeit eine Diskurstradition sich vollständig zu konstituieren, die dann über die Spätantike eine enorme Nachwirkung in Europa erlebt.

Im Bereich der Philosophie sind vor allem Cicero mit zahlreichen Schriften (Hortensius, Academici libri, De finibus bonorum et malorum, De officiis, Tusculanae Disputationes), auch zur Religion (De natura deorum, De divinatione), und Seneca (Dialogi, Ad Marciam de consolatione, De vita beata, De providentia, De beneficiis) zu nennen (cf. Baier 2010:85–92, 111–116). Ein Universalgelehrter war Varro, der als Diskurstradition die Grammatikographie neu für die lateinische Sprache erschloß (De lingua latina). In den von ihm postulierten Kategorien blieb er eng angelehnt an die erste Grammatik des europäischen Kulturkreises von Dionysios Thrax (Διονύσιος ὁ Θρᾷξ, ca. 180/170–90 v. Chr., Τέχνη γραμματική). Einen neuen Wissenschaftsbereich erschloß Vitruv (Marcus Vitrvius Pollio, 1. Jh. v. Chr.) mit seinem Opus De architectura, welches vor allem in der Renaissance ein breite Rezeption (und Umsetzung) erfuhr. Die Naturwissenschaft erlebt in der Naturalis historia des älteren Plinius (Gaius Plinius Secundus, 23/24–79 n. Chr.) eine umfangreiche Darstellung zahlreicher Subdisziplinen in lateinischer Sprache (cf. Baier 2010:120–122).205

Aus soziolinguistischem Blickwinkel ist die Frage nach dem Ausbau der Sprache hier zentral und damit eng zusammenhängend nach dem Vorrücken in verschiedene diskurstraditionelle Bereiche. Literarische Textgattungen sind wie andere Textsorten auch (z.B. Gebrauchstexte), Teil des Spektrums der schriftlichen Diskurstraditionen und damit ein Indikator für den sprachlichen Ausbau. In diesem Sinne ist das Erschließen von neuen diskurstraditionellen Bereichen für das Lateinische (cf. zahlreiche lyrische Formen, fachwissenschaftliche Teilgebiete), indem vor allem auf bereits existierende griechische Modelle rekurriert wurde, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer vollausgebauten Sprache. Dieser Status ist am Ende der klassischen bzw. nachklassischen Zeit für das Lateinische erreicht.

Die Unterscheidung „klassische Phase“ und „nachklassische Phase“ wird aus sprachwissenschaftlicher Perspektive hier fallengelassen und – wie bereits eingangs festgelegt (v. supra) – unter dem Aspekt des Ausbaus insgesamt sozusagen als „Hochphase der literarischen Produktion“ klassifiziert.

Rekapituliert man die in dieser wohl produktivsten und innovativsten Epoche entstandene Literatur – und dies ist hier der wichtigste Indikator, da der mündliche Bereich genauso wie der der Gebrauchstexte nur schwer erschließbar bzw. wenig dokumentiert ist –, so zeigt sich, daß für das Lateinische zahlreiche neue Textgattungen erschlossen wurden, diese innovativ verändert und ausgebaut wurden sowie auch neue entstanden. Unabhängig von dem literarischen Gewinn steht hier in erster Linie der sprachliche im Vordergrund, denn durch die Auseinandersetzung mit neuen Formen und Inhalten ergeben sich fast zwangsläufig Innovationen auf den verschiedensten sprachlichen Ebenen (Lexikon, Semantik, Syntax, Stilistik). Die Sprache durchläuft einen Ausbauprozeß durch die Herausforderung, die durch literarische Gattungen gestellt werden, aber auch bei der Versprachlichung von Inhalten, die an bestimmte Textsorten geknüpft sind (z.B. fachwissenschaftliche) steigt der Grad der Elaboriertheit und der Grad des Ausbaus mit der dadurch „erzwungenen“ Erweiterung der Ausdrucksmittel.206

Was nun die sprachliche Situation im römischen Reich vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. anbelangt, so ist diese wiederum in enger Abhängigkeit zur Expansion des Imperiums einerseits und zum Grad der Romanisierung andererseits zu sehen.

Auch diese Tatsache hat wiederum Rückwirkung auf den Ausbaugrad, da das Lateinische in zahlreiche Domänen vorrückt: „Das einheitliche Recht, der Handel, die politisch-militärische Organisation der römischen Herrschaft, die fortgeschrittene Kultur, die einheitliche Literatur: all das führte zur Erweiterung der gesellschaftlichen Funktionen des Lateinischen“ (Irmscher 1986:84).

Mit den zunehmenden Eroberungen, durch die ausgetragenen Konflikte mit den im Mittelmeerraum noch verbliebenen Staatengefüge (Seleukidenreich, Ptomeläerreich etc.) sowie mit verschiedenen Ethnien am Rande des Reiches, wächst das römische Reich ab dem 1. Jh. v. Chr., insbesondere ab Augustus und der frühen Kaiserzeit stetig und geradezu exponentiell, so daß bald seine größte Ausdehnung erreicht wird (115–117 n. Chr., v. supra). Durch die Einrichtung von immer neuen Provinzen und der Stationierung von Truppenkontingenten (legiones) sowie der gezielten Kolonialisierung soll eine Konsolidierung der eroberten Regionen erreicht werden. Die systematische Erschließung durch Neugründung von Städten (civitates, municipia, coloniae), dem Anlegen eines ausgedehnten Straßennetzes und damit der Schaffung von Handels- und Verkehrsverbindungen (cf. itineraria) sowie die Errichtung einer einheitlichen zivilen und militärischen Verwaltungsstruktur (cf. mil.: proconsules, propraetores; ziv.: decuriones) fördert im Folgenden die Romanisierung.

Die lateinische Sprache setzt sich dabei in den meisten eroberten Provinzen nach und nach durch, nicht gleichmäßig und zeitlich abhängig zum einen vom Eroberungszeitpunkt und vom womöglich fortgesetzten Widerstand der Bevölkerung, zum anderen von der vorgefundenen Infrastruktur und Art der Zivilisation. Generell gilt, daß die Latinisierung zuerst in den städtischen Zentren griff und sich von dort auf das Land ausbreitete und ganz prinzipiell urban geprägte Kulturkreise sich schneller akkulturierten und sprachlich assimilierten (cf. z.B. Iberer) als solche, die zur Migration neigen oder zumindest wenig feste Infrastruktur aufweisen. Wie bereits erwähnt (v. supra) dürfte die Latinisierung der italienischen Halbinsel im 1. Jh. v. Chr. im Wesentlich abgeschlossen sein – bis auf einige griechische Sprachinseln in Süditalien und Sizilien. Fuhrmann (1999:19–20) datiert die Latinisierung der Iberischen Halbinsel auf das 1. Jh. n. Chr. und begründet die tiefgreifende sprachliche Assimilation mit dem Auftreten von lateinischen Schriftstellern wie Seneca oder Lukan. Hierbei ist allerdings einzuwenden, daß dies nicht ausschließt, daß die nördlichen Regionen wie das Baskenland oder Kantabrien zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht vollständig romanisiert und latinisiert waren bzw. nie wurden. Für Gallien und Nordafrika setzt er das 2. Jh. als Richtwert für eine weitgehend vollständige Latinisierung an, während für Britannien und den Donauraum die Durchdringung mit der lateinischen Sprache auch in den folgenden Jahrhunderten nicht in gleichem Maße flächendeckend und tiefgreifend war.

Der Osten blieb weiterhin griechischsprachig und das Lateinische tat sich als Amtssprache schwer, auch wenn es durchaus bezeugte Bemühungen von Seiten der Griechen gab, das Lateinische zu erlernen (cf. Adams 2003:15).

Durch die massive Expansionspolitik in dieser Epoche wurde das Latein als Sprache der Eroberer in zahlreiche neue Regionen getragen, wirkte aber auch über die politischen Grenzen hinaus und wurde so zur Weltsprache in Rahmen der damaligen Welt (cf. röm. Anspruch der Herrschaft über den orbis terrarum).

Für die Bevölkerung in den neu eroberten Gebieten ergab sich somit entweder ein zum Teil dauerhafter Bilingualismus bzw. eine Diglossie-Situation in den Regionen, die weniger latinisiert waren oder es vollzog sich über eine mehr oder weniger lange Phase der Mehrsprachigkeit ein Sprachwechsel hin zum Lateinischen.

Fuhrmann (1999:19) postuliert dabei einen eher abrupten, schnellen Sprachwechsel ohne eine größere Übergangsphase. Dies wäre aber womöglich en detail zu betrachten, da auch hier die Frage nach sozialer Stratifikation, urbaner oder ruraler Struktur u.ä. Kriterien eine Rolle spielen könnten.

Für die Elite Roms und des römischen Reiches ist prinzipiell weiterhin eine Diglossie-Situation mit dem Griechischen anzusetzen. Während Fuhrmann (1999:345) allerdings mit einem gewissen Rückgang des Philhellenismus in der nachklassischen Phase des Archaismus rechnet, sieht Kramer (1997:146) eine „ausgeprägte Zweisprachigkeit“ gebildeter Kreise bis ca. 250 n. Chr., was auch an der Übernahme fremder Strukturen, d.h. vor allem im Bereich der Syntax, aber auch auf lautlicher, morphologischer und semantischer Ebene ersichtlich sei.

Insgesamt ist dennoch zu konstatieren, daß das römische Reich in dieser Epoche nicht nur ein Vielvölkerstaat wurde (mehr denn je zuvor), sondern auch ein Vielsprachenstaat, in dem Bilingualismus und Mehrsprachigkeit durchaus gängig waren, nicht zuletzt auch bedingt durch die relativ hohe Mobilität bzw. Migration innerhalb des Imperiums. Als high-variety fungierte dabei einerseits das Latein, das inzwischen sowohl durch seine politisch-gesellschaftliche Stellung als auch durch seine nun reichhaltige Literatur zur unzweifelhaften Prestigesprache aufgestiegen war und in dieser Epoche einen Standardisierungsprozeß durchlief,207 andererseits auch das Griechische als „alte“ Kultursprache, aber auch als nach wie vor gültige Verkehrssprache im östlichen Teil des Imperiums

Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

Подняться наверх