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4.1.1.4 Spätlatein

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Die Frage, ab wann die Epoche des Spätlateins anzusetzen ist, hängt eng mit der unterschiedlich gehandhabten Begrenzung des Klassischen bzw. vor allem des Nachklassischen Lateins zusammen (v. supra), während ihr unscharfes Ende in erster Linie mit der Herausbildung der Romanischen Sprachen verknüpft ist. Müller-Lancé (2006:34) verweist deshalb mit Recht auf den Charakter einer Übergangsepoche. Es sei aus der dort gegebenen, relativ exakten Datierung (ca. 180–650 n. Chr.) und der ebenfalls präzisen, aber leicht verschobenen bei Steinbauer (2003:513), nämlich ca. 200–600 n. Chr, hier eine etwas fließenderen Grenze angenommen, d.h. ein Zeitraum vom 2./3. Jh. – 5./6. Jh. postuliert. Das etwas frühere Ende sei damit begründet, daß mit dem Fehlen der Reichseinheit spätestens ab dem 7. Jh. geistes- und kulturgeschichtlich genauso wie politisch eine andere Ära beginnt. Der Beginn der spätlateinischen Epoche fällt mit dem von Berschin (2012:94) charakterisierten „dunklen III. Jahrhundert“ zusammen, in dem nicht viel von der lateinischen Kultur überliefert ist, aber sich ein Wandel in Schrift, Sprache und Literatur vollzog.

Aus der soziolinguistischen Sicht des sprachlichen Ausbaus ist für die spätlateinische Phase vor allem die neu aufkommende christliche Literatur von Relevanz, die sich in vielen Facetten zeigt. Ohne in vollem Umfang auf alle Schriftsteller und Genres eingehen zu können, seien hier an erster Stelle die lateinischen Kirchenväter (patres ecclesiae) genannt, und zwar die kanonischen großen vier: Ambrosius (Aurelius Ambrosius, 339/340–397 n. Chr.), Hieronymus (Sophronius Eusebius Hieronymus, 345/348–420 n. Chr.), Augustinus (Aurelius Augustinus, 354–430 n. Chr.) und Gregor d. Große (Gregorius, 540–604 n. Chr.).

Chronologisch sollen zunächst aber einige andere wichtige Vertreter aus der Reihe der Kirchenlehrer genannt sein, die den Ausbau der religiösen Fachliteratur maßgeblich vorangetrieben haben. Dabei ist sicherlich an erster Stelle Tertullian (Quintus Septimus Florens Tertullianus, ca. 150/170–220 n. Chr.) zu nennen, von dem ein umfangreiches und vielfältiges Schrifttum überliefert ist. Dabei kann man das Gesamtwerk in apologetische Schriften (z.B. Ad nationes, Apologeticum, De Testimonio animae, Adversos Iudeos), in praktisch-asketische Schriften (z.B. Ad martyras, De spectaculis, De baptismo) und in dogmatisch-polemische Schriften (z.B. De praescriptione haereticorum, Adversos Praxean) gliedern. Seine literarischen Modelle sind zum einen bei den zeitgenössischen christlichen griechischen Autoren zu suchen, aber auch in der klassischen Philosophie (Platon, Stoa). Ein prägendes Moment ist dabei auch die Auseinandersetzung mit aktuellen Strömungen wie dem aufkommenden Gnostizismus. Dabei legt Tertullian nicht nur die Grundlage für eine facettenreiche religiöse Literatur des Lateinischen im Allgemeinen, sondern schafft mit seiner Art der Apologetik (werbend und verteidigend zugleich) ein neues Subgenre, welches so zuvor weder in der lateinischen noch in der griechischen Tradition existierte (cf. Albrecht 2012 II:1315–1324).

Ein wahrscheinlich etwas jüngerer Zeitgenosse Tertullians ist Minucius Felix (2./3. Jh. n. Chr.), von dem nur die Schrift Octavius überliefert ist.208 In dieser dialogisch gestalteten erstmaligen Auseinandersetzung mit den paganen Überzeugungen aus christlicher Perspektive werden Vorbilder wie Homer, Platon, Cicero, Seneca oder Vergil sichtbar (cf. Albrecht 2012 II:1337–1340).

Als ein weiterer nicht unbedeutender Vertreter aus dem Kreis der frühen Kirchenlehrer ist Cyprian (Thascius Caecilius Cyprianus, ca. 200/210–258 n. Chr.) zu nennen, der im Zuge der Profilierung der frühen katholischen Lehre sowohl wichtige Bekehrungsschriften (z.B. Ad Donatum, Ad Detrianum, De ecclesiae catholicae unitate) wie auch die Gattung der Erbauungsschriften (z.B. De habitu virginum, De dominica oratione) hervorgebracht hat (cf. Albrecht 2012 II:1348–1351).

Ebenfalls zu den Großen und Einflußreichen gehört Laktanz (Lucius Caecilius Firmianus Lactantius, ca. 250–320), der in seinen Divinae institutiones Elemente aus der juristischen Tradition mit solchen aus der Rhetorik verbindet. Neben weiteren wichtigen apologetischen Schriften wie De opificio Dei, De ira Dei oder De mortibus persecutorum – wobei vor allem letzteren eine größere Nachwirkung beschieden war, nicht zuletzt als Geschichtsquelle – soll er auch weltliche Schriften verfaßt haben, die allerdings nicht erhalten sind (Symposium, Itinerarium, Grammaticus) (cf. Albrecht 2012 II:1370–1371).

Was die sogenannten großen Kirchväter anbelangt, so ist zunächst Ambrosius zu nennen, der ein vielseitiges Œuvre hinterlassen hat, bestehend aus moralisch-asketischen Schriften (De officiis ministorum, Exhortatio virginitatis, De Tobia), dogmatischen Schriften (De fide, De spiritu sacto, De incarnationis dominicae sacramento), einer politischen Flugschrift (Contra Auxentium de basilicis tradendis), Trauerreden, Hymnen und einer verlorenen philosophischen Abhandlung (De philosophia). Dabei war auch bei ihm, wie im Falle anderer Kirchenlehrer, der griechische Einfluß durch seine klassische Vorbildung gegeben. Er hat unzweifelhaft Philosophen wie Plotin (Πλωτῖνος, 205–270 n. Chr.) oder Porphyrios (Πορφύριος, ca. 233–305 n. Chr.) genauso rezipiert wie römische kanonische Autoren (z.B. Cicero, Vergil) (cf. Albrecht 2012 II:1402–1406).

Hieronymus ist vor allem wegen seiner Bibelübersetzung in die Geschichte eingegangen, der Vulgata.209 Dabei ist bemerkenswert, daß er nicht nur selbsverständlicherweise Griechisch konnte, sondern auch Kenntnisse des Hebräischen hatte, um eine bessere Übertragung bzw. Exegese leisten zu können. Seine schriftstellerische Tätigkeit umfaßte auch weitere Übersetzungen (vor allem exegetischer Predigten), Kommentare zu biblischen Büchern, Briefe, Predigten sowie Streitschriften (z.B. Adversos Rufinum, Contra Pelegianos), Hagiographien und eine christliche Literaturgeschichte (De viris illustribus) nach griechischem Vorbild (cf. Albrecht 2012 II:1415–1417).

Der wirkungsmächtigste Kirchenvater war wohl Augustinus mit einem umfangreichen Gesamt-Opus, darunter philosophische Schriften (Soliloquiorum libri duo, De magistro, De immortalitate animae), philosophisch-rhetorische (De grammatica, De doctrina christiana), apologetische (De divinatione daemonum, De civitate Dei), dogmatische (De fide et symbolo, De agone Christiano, De trinitate libri XV), dogmatisch-polemische (De libro arbitro) und hermeneutische (De doctrina christiana), von denen viele für die christlichen Theologie fundamental wurden. Die breiteste Rezeption erfuhr er aber wohl mit seiner autobiographischen Schrift, den Confessiones. Augustinus bedient sich in seinen Einzelwerken der gesamten Bandbreite griechisch-lateinischer Literatur, die zu seiner Zeit gängig war (cf. Albrecht 2012 II:1431–1436).

Gregor d. Große (Gregorius, ca. 540–604 n. Chr.) schließlich, Papst (590–604 n. Chr.), verfaßte anhand eines Bibelkommentars eine Moraltheologie (Moralia in Job), zahlreiche Homilien, Pastoralen (Regula pastoralis) und hinterließ ein umfangreiches Korpus an Briefen. Insbesondere seine Heiligenlegenden in Form von Dialogen (Dialogi) wurden in den folgenden Jahrhunderten häufig rezipiert (cf. Heim 2001:147).

Der Wissenschaftsbereich der Historiographie wird durch Historiker wie Ammian (Ammianus Marcellinus, 330–395 n. Chr.) mit seinen an Tacitus anknüpfenden in annalistischer Tradition stehenden Res gestae oder Jordanes (6. Jh.) mit seiner Gotengeschichte (Getica) und einer Weltchronik (De summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum) weiter gepflegt (Kleine Pauly 1967 II:1439).210 In der Philosophie sei vor allem auf Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius, ca. 480–525 n. Chr.) verwiesen, der durch seine Consolatio philosophiae breite Nachwirkung erfuhr, aber auch durch seine Übersetzungen, Kommentare und weiteren Schriften zu anderen Fachbereichen wirkte (z.B. Logik: De categoria syllogismis, Mathematik: Institutio arithmetica) (cf. Albrecht 2012 II:1470–1475). Die Grammatikschreibung zeitigt mit den Werken Donats (Aelius Donatus, ca. 310–380 n. Chr., Ars grammatica) und Priscians (Priscianus Caesariensis, 5./6. Jh., Institutio de arte grammaticae) in dieser spätlateinischen Phase die wichtigsten Inspirationsquellen der folgenden Jahrhunderte (cf. Brodersen/Zimmermann 2000:145, 492).

Die schöne Literatur wird ebenfalls weiterhin gepflegt, wenn auch nicht mehr in gleichem Umfang und vor allem nicht mehr mit gleichem Rezeptionsgrad wie zuvor. Exemplarisch soll hier in erster Linie der Dichter Ausonius (Decimus Magnus Ausonius, ca. 310–393/394) genannt werden, dem mit Werken wie der Mosella, Bissula oder dem Ordo urbium nobilium ein gewisser Nachruhm beschieden war. Gerade mit letzterem, bei dem er Elemente des griechischen Epigramms und der descriptiones verbindet, schafft er einen neuen Gedichttypus, genauso wie mit seiner commemoratio, dem Weih- oder Gedenkgedicht, welches eine Mischung aus laudatio und Epikedeion darstellt (cf. Albrecht 2012 II:1129–1131). Erwähnt sei auch noch der Dichter Prudentius (Aurelius Prudentius, 348–405 n. Chr.), insofern sich in seinem Werk christliche Inhalte mit antiken Traditionen verbinden, wie beispielsweise in dem Lehrgedicht Psychomachia, in dem in Hexametern christliche Allegorien und Tugendvorstellungen mit Bezügen auf Vergils Aeneis ausgearbeitet wurden. In Contra Symmachum setzt er sich mit dem restaurativ-paganen Dichterkreis um Symmachus (Quintus Aurelius Symmachus, ca. 340–402 n. Chr.) auseinander,211 während in anderen Werken rein christliche Themen dominieren (Peristephanon, Apotheosis, Kathemerinon) (cf. Brodersen/Zimmermann 2000:497).

Aus der Sicht des sprachlichen Ausbaus ist zu konstatieren, daß sich in der spätlateinischen Phase am Zustand des Lateins im Sinne einer vollausgebauten Sprache nichts Wesentliches ändert. Die meisten Diskurstraditionen wurden weiter gepflegt, mitunter nicht in gleichem Umfang, aber dafür kamen durch neue Themenbereiche, und zwar in erster Linie solche mit christlichem Bezug, neue Arten von Textgattungen auf, wie z.B. Hagiographien, Predigten, dogmatische oder apologetische Schriften, die es zumindest in dieser Form zuvor im Lateinischen noch nicht gegeben hatte (v. supra). Der ganze Fachbereich der Theologie im weitesten Sinne erfuhr somit einen Ausbau, der vor allem mit zahlreichen Entlehnungen aus dem Griechischen einherging. Eine gewisse variatio ist aber durchaus auch bei etablierten Textgattungen festzustellen (cf. z.B. Lyrik des Ausonius), so daß sich vereinzelt neue Subgenres herausbildeten. Ein „Niedergang“, wie er aus der traditionellen, wertenden Perspektive der Klassischen Philologie meist festgestellt wurde, ist aus sozio-linguistischer Sicht, also in Form eines Rückbaus der Sprache, sicherlich nicht festzustellen, da ja nicht nur weiterhin die bereits kanonische Literatur tradiert und rezipiert wird, sondern eben neue Bereiche oder Subbereiche für das Lateinische erschlossen werden.

In Hinsicht auf die sprachliche Situation ist für die Spätantike mit einer weiterhin zunehmenden Romanisierung und Latinisierung zu rechnen, vor allem in den Regionen des Imperium Romanum, die erst später erobert wurden, sowie solchen die infrastrukturell eher entlegen waren oder sozio-strukturell divergierend. So schließen beispielsweise Berschin/Felixberger/Goebl (2006:162) aus einer Passage bei Hieronymus, daß gegen Ende des 4. Jh. in Trier an der Mosel (römische Randzone, aber auch Kaiserresidenz) noch Keltisch gesprochen wurde, immerhin über 400 Jahre nach der Eroberung Nordgalliens. Für die Iberische Halbinsel, die wie Gallien insgesamt als bereits tiefgreifend romanisiert gelten kann, vermutet Curchin (1991: 179–181, 190–192), daß sich im Siedlungsgebiet der Kantabrer (lat. Cantabrii) bedingt durch die dort vorherrschenden Gentilverbände und die fehlende urbane Struktur, die Romanisierung partiell bis ins 5. Jh. hingezogen habe, womöglich vollständig erst nach dem Zusammenbruch des Imperiums erfolgt sei. Trotz gewisser Einzelfälle und Randzonen wie Britannien oder Dakien mit geringerem Grad an Romanisierung und Latinisierung ist insgesamt für das Imperium im Laufe der Jahrhunderte von einer starken sprachlichen und kulturellen Assimilation von weiten Teilen der Bevölkerung auszugehen, nicht zuletzt auch durch die von Caracalla (Caesar Marcus Aurelius Antoninus Augustus, 188–217 n. Chr., Ks. ab 211) erlassene Constitutio Antoniniana (212 n. Chr.), mit der allen Reichsbewohnern das uneingeschränkte Bürgerrecht verliehen wurde. Das römische Reich blieb zwar ein Raum der Mehrsprachigkeit, nicht zuletzt weil in der Spätphase größere Kontingente von Völkern mit verschiedenen germanischsprachigen Idiomen innerhalb der Reichsgrenzen angesiedelt wurden bzw. dorthin vordrangen, was entgegen dem gängigen Modell von Dietrich/Geckeler (2007:172) eine Gleichzeitigkeit von Sub- und Superstratsprachen ergeben konnte.212 Auf der anderen Seite nahm durch die zunehmende Latinisierung auch die Zahl der Personen, die muttersprachlich nur eine lateinische Varietät zur Verfügung hatten, deutlich zu. Wie man exemplarisch an den christlichen Kirchenlehrern sieht, blieb das Griechische dabei Bildungssprache für die römische Elite im gesamten Imperium,213 die sich somit weiterhin in einer Art Diglossie-Situation befanden, wobei das Schriftlatein allerdings nun endgültig auch den Rang einer high-variety in allen Bereichen innehatte.

Durch die Verbreitung und Etablierung des Lateins in zahlreichen Regionen Europas und rund ums Mittelmeer (mare nostrum) entsteht einerseits eine allgemeine gesprochene lateinische Sprache, die man in Anlehnung an die griechische Konstellation als koiné bezeichnen kann, und andererseits isoliert sich ein vorwiegend schriftlich gebrauchtes Latein, welches als Bildungssprache morphologisch erstarrt und in seiner Grammatik konserviert ist (cf. latinitas perennis). Das nachmalig als „klassisch“ apostrophierte Latein entsteht, indem das Latein ausgewählter Autoren einer bestimmten historischen Epoche kanonisiert wird und dem natürlichen sprachlichen Erneuerungszyklus enthoben wird (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:325–326).

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