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5. Ein kurzer Abriß zur Begriffsgeschichte des Vulgärlateins seit Hugo Schuchardt

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Bei einer Darstellung, die der Frage nachgeht, wie ein tiefergehendes Verständnis für das Latein der Antike entstanden ist und wie Sprachentwicklung in das Bewußtsein der Gelehrten rückte, ist es unumgänglich den zentralen Begriff des Vulgärlateins zu betrachten. Dieser Terminus ist insofern entscheidend, als hierin zum Ausdruck kommt, daß es noch eine andere Form des Lateins gab, die nicht den gleichen Grad an Normiertheit und Invariabilität aufwies wie die Schriftsprache im Allgemeinen bzw. das sogenannte Klassische Latein im Besonderen. Dieser Unterschied wird bereits bei den antiken Autoren greifbar, die wie im vorherigen Kapitel deutlich wurde, verschiedene Arten des Lateins unterschieden, wie auch immer die jeweilige diasystematische Abgrenzung gedacht war.

Wenn man sich nun – wie hier vorgesehen – mit den Vorstellungswelten der Frühen Neuzeit und deren Begrifflichkeiten auseinandersetzt, so ist es für ein präzises Erfassen der damaligen Erkenntnisse durchaus sinnvoll, sich mit den Kerntermini auch im modernen Verständnis zu beschäftigen bzw. sich ihrer Problematik zu vergegenwärtigen. Dies wurde bereits für die varietäten- und soziolinguistischen Begriffe geleistet (cf. Kap 3.1), gilt aber umso mehr für den äußerst umstrittenen Begriff ‚Vulgärlatein‘ (frz. latin vulgaire, it. latino volgare).

Die moderne sprachwissenschaftliche Forschung beginnt nach allgemeinem Verständnis in der Romanistik mit Friedrich Diez, der in diesem Kontext von ‚Volksmundart‘, ‚volksmäßigen Latein‘ und schließlich von ‚Volkslatein‘ spricht.259

Für den entscheidenden Anstoß in der Forschung zu diesem Thema und in Bezug auf die Verbreitung des Begriffes sorgte hingegen Hugo Schuchardt mit seinem mehrbändigen Werk Der Vokalismus des Vulgärlateins (1866–1868). Bereits kurz zuvor gab es in Wien an der Akademie der Wissenschaften eine Ausschreibung für die beste Darstellung des Vulgärlateins (1860) (cf. Kiesler 2006:9). Der Begriff geht also auch im Deutschen nicht auf Schuchardt zurück, doch kann er, vor allem was die romanistische Forschung anbelangt, als Anfangspunkt für eine intensive und vor allem systematische Beschäftigung mit diesem Sujet gesehen werden.

Abgeleitet ist der Begriff ‚Vulgärlatein‘ (wie auch ‚Volkslatein‘) von vulgaris sermo, der bereits in der anonymen Rhetorica ad Herennium (IV, 56 (69) belegt ist, aber vor allem bei Cicero (Acad. I, 5) in der Bedeutung ‚Sprache des Volkes‘ bzw. ‚Umgangssprache‘ in erster Linie im Zuge einer rhetorischen Klassifizierung von Sprachstilen häufig verwendet wurde.

Omnes rationes honestandae studiose collegimus elocutionis: in quibus, Herenni, si te diligentius exercueris, et gravitatem et dignitatem et suavitatem habere in dicundo poteris, ut oratorie plane loquaris, ne nuda atque inornata inventio vulgari sermone efferatur. (Rhet. ad Her. IV, 56 (69); 1994:316–318)

[…] didicisti enim non posse nos Amalfinii aut Rabirii similes esse, qui nulla arte adhibita de rebus ante oculos positis vulgari sermone disputant, […]. (Cicero, Acad. I, 5; 1990:272)260

Bei Kiesler (2006:7) wird im Zuge eines Abrisses zur Begriffsgeschichte mit Verweis auf Geckeler/Dietrich (2003)261 eine Übernahme des deutschen Begriffes ‚Vulgärlatein‘ bei Schuchardt aus der französischen Wissenschaftstradition gemutmaßt, mit dem zusätzlichen Hinweis auf einen Erstbeleg im Trésor de la langue française von 1524 (ohne weitere Angaben) sowie eine weitere vorsichtige Mutmaßung mit Verweis auf den begriffsgeschichtlichen Überblick bei Ettmayer (1916:231) zu einer terminologischen Filiation ‚Italienisch – Französisch – Deutsch‘.

Diese These läßt sich problemlos erhärten, wenn man sich einerseits die allgemeine Begriffsgeschichte von lat. (lingua) vulgaris im Sinne von ‚Volksprache‘ vor Augen führt, die von Brunetto Latini (ca. 1220–1294; Li livres dou tresor, ca. 1265: vulgar parleure) über Dante Alighieri (1265–1321; De vulgari eloquentia, 1302–1305: vulgaris locutio; Convivio, 1306: volgare) und Joachim du Bellay (1522–1560; Deffence et Illustration de la Langue Francoyse, 1549: vulgaument) zu Johann Gottfried Herder (1744–1803; Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und der bildenden Künste, 1794–196: Vulgar- und Pöbelsprache) führt (cf. Ueding 2009:1245–1246) und andererseits die in vorliegender Arbeit (cf. infra) untersuchte Diskussion um die Sprache der römischen Antike, in der der Begriff seit Flavio Biondo (1392–1463; De verbis romanae locutionis, 1435) in diesem Sinne Verwendung findet (hier noch auf Latein: vulgare) und schließlich nach einer Reihe weiterer Debatten über eineinhalb Jahrhunderte bei Celso Cittadini (1553–1627; Trattato della vera origine, 1601: latino volgare) präzisere Form gewinnt. Ergänzt man dies durch die Angabe im TLF, hinter der sich die Schrift Le Blazon des Hérétiques (1524) von Pierre Gringore (1475–1539) verbirgt,262 sowie durch einige Meilensteine in der französischen Forschungsdiskussion der folgenden Jahrhunderte wie Pierre-Nicolas Bonamy (1694–1770; Mémoire sur l’introduction de la langue Latine dans les Gaules, sous la domination Romains, 1751)263 und Claude Fauriel (1772–1844; Histoire de la poésie provençale, 1846),264 so schließt sich der Kreis. Grundlage der Verbreitung des Begriffs ist also der enge Kulturaustausch zwischen Italien und Frankreich in der Frühen Neuzeit und schließlich die Übernahme ins Deutsche zu Zeiten des Höhepunktes französischer Dominanz im 17. und 18. Jahrhundert.265

Schuchardt greift also bereits auf eine lange Tradition der Beschäftigung mit dem Vulgärlatein zurück und kann dabei vor dem Hintergrund der neu entstandenen Sprachwissenschaft strictu sensu Begriff und Konzept noch einmal präzisieren und letztlich auch terminologisch im Rahmen einer eigenen Wissenschaft institutionalisieren.

Da die Sprachwissenschaft im Allgemeinen und speziell die lateinische Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten einen so bedeutenden Aufschwung genommen hat, so muss es befremden, dass bis jetzt dem Vulgärlatein noch keine eingehende Berücksichtigung zu Theil geworden ist. Es verdient eine solche mit vollstem Rechte. Den Sprachforscher beschäftigt das Werden der Sprache. Ihm bietet daher das ‚gute Latein‘, welches in Folge litterarischer Evolutionen auch aus dem Strome der Sprachentwicklung abgesondert hat und erstarrt ist, ein weit geringeres Interesse, als das ‚schlechte Latein‘, welches sich zu jenem verhält, wie Vielheit zur Einheit und Bewegtes zu Unbewegtem. Das klassische Latein ist durch das Vulgärlatein auf der einen Seite mit den altitalischen, auf der anderen mit den romanischen Sprachen verbunden, sodass wir den Gang des Idioms, welches innerhalb der Mauern Roms seinen Ursitz hatte, ununterbrochen durch mehr als zwei Jahrtausende hin verfolgen können, ein Fall, dem sich wenige ähnliche an die Seite stellen lassen. Ferner sind die rustiken Sprachformen nicht unwichtig als Kriterien sowohl bei der Bestimmung der Zeit von schriftlichen Denkmälern, als bei der Herstellung von Autorentexten aus verderbten Handschriften. (Schuchardt 1866:VII)

Die Aufgabe266 ist – abgesehen von dem äusseren Umstande, dass eine Vereinigung eingehender lateinischer und romanischer Sprachstudien der Tradition zuwiderläuft – allerdings eine sehr schwierige, da der Ausdruck ‚Vulgärlatein‘ strenggenommen nicht eine einzige Sprache, sondern eine Summe von Sprachstufen und Dialekten von der Zeit der ersten römischen bis zur Zeit der ersten wirklich romanischen Schriftdenkmäler bedeutet. Den meisten Zweifeln und Verlegenheiten ist man bei Begründung der Lautlehre ausgesetzt, wo es gilt, die gesprochenen Formen aus ihren schriftlichen Darstellungen richtig zu eruiren und sie bei ihrer oft sich widersprechenden Mannichfaltigkeit richtig zu ordnen. (Schuchardt 1866:IX-X)

Wenn Schuchardt hier moniert, daß das Vulgärlatein bisher noch „keine eingehende Berücksichtigung“ gefunden hätte, dann bezieht sich dies vor allem auf die systematische Auseinandersetzung mit dem, was er darunter versteht. Es gibt jedoch auch eine Forschungstradition der Latinisten, die von Winkelmann (1833) über Rebling (1873) zu Hofmann (1926) reicht,267 in der ein Großteil des nicht-klassischen Lateins unter dem Begriff ‚Umgangssprache‘ abgehandelt wird. Dabei werden ebenfalls Phänomene untersucht und diskutiert, die sich mit denen überschneiden, die bei den Romanisten unter ‚Vulgärlatein‘ figurieren, dennoch sind beide Ansätze nicht deckungsgleich. Für die romanistische Forschung ist die Frage nach der Basis bzw. dem Ursprung der romanischen Sprachen von eminenter Bedeutung sowie die damit verbundene diachrone Perspektive, während die Latinisten tendenziell eher synchron die verschiedenen Arten des Lateins im Blick haben.

Von den auf Schuchardt folgenden Generationen von Romanisten und Wissenschaftlern anderer Fachdisziplinen, die sich der weiteren Untersuchung des Vulgärlateins gewidmet haben, sollen hier im vorliegenden Rahmen nur selektiv einige wenige mit ihren Werken genannt werden; für eine ausführlichere Zusammenstellung sei auf die einschlägigen forschungsgeschichtlichen Synopsen verwiesen (cf. z.B. Reichenkron 1965:1–4; Herman 2003; Kiesler 2006:3–13). Neben den bereits erwähnten latinistischen Arbeiten, von denen vor allem Hofmann mit seiner Lateinischen Umgangssprache (1926) hervorsticht, da dieses Œuvre mehrfach neu aufgelegt und in weitere Sprachen übersetzt wurde (Spanisch, Italienisch), aber auch seinen Widerhall in der einschlägigen Grammatik von Leumann/Hofmann (1928) findet, sind folgende monographische Meilensteine der vulgärlateinischen Forschung zu nennen: Grandgent (1907), An Introduction to Vulgar Latin; Muller (1929), A Chronology of Vulgar Latin; Battisti (1949), Avviamento allo studio del latino volgare; Voßler (1953), Einführung ins Vulgärlatein; Coseriu (1954), El llamado ‚latin vulgar‘ y las primeras diferenciaciones romances;268 Silva Neto (1957), História do latim vulgar; Löfstedt (1959), Late Latin; Väänänen (11963, 42002), Introduction au latin vulgaire; Sofer (1963), Zur Problematik des Vulgärlateins; Herman (1967), Le latin vulgaire.269

Hinzu kommen Sammlungen mit Belegstellen bzw. wichtigen vulgärlateinischen Texten wie beispielsweise Rohlfs (1951), Sermo vulgaris latinus, Iliescu/Slusanski (1991), Du latin aux langues romanes oder Kramer (1976), Literarische Quellen zur Aussprache des Vulgärlateins und Kramer (2007), Vulgärlateinische Alltagsdokumente, aber auch spezifische Grammatiken wie Maurer (1959), Gramática do latim vulgar oder Reichenkron (1965), Historische latein-altromanische Grammatik.270 Weiterhin sind Darstellungen, die sich auf den Übergang vom Lateinischen zum Romanischen spezialisiert haben, zu erwähnen, wie z.B. Stefenelli (1992), Das Schicksal des lateinischen Wortschatzes in den romanischen Sprachen, Herman (1990), Du latin aux langues romanes, Zamboni (2000), Dell’italiano. Dinamiche e tipologie della transizione dal latino, Euler (2005), Vom Vulgärlatein zu den romanischen Einzelsprachen, Herman (2006), Du latin aux langues romanes II, Coseriu (2008), Latein-Romanisch oder schließlich Wright (1982), Late Latin and early Romance in Spain and Carolingian France, der mit seiner These zum Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der spätlateinischen und frühromanischen Phase für Aufsehen sorgte.

Die aktuelle Forschung äußert sich vor allem in zahlreichen, verstreut publizierten Aufsätzen, wofür stellvertretend hier jedoch die wichtigen Sammelbände zu den Tagungen des Vulgär- und Spätlateins (latin vulgaire – latin tardif) angeführt seien: Herman (1987), Calboli (1990), Iliescu/Marxgut (1992), Callebat (1995), Petersmann/Kettemann (1999), Solin/Leiwo/Halla-Aho (2003), Arias Abellán (2006), Wright (2008), Biville (2012), Molinelli/Cuzzolin/Fedriani (2014). Die aktuelle Forschung aus Sicht der Romanistik spiegelt sich vor allem in den einschlägigen Artikeln des Lexikons der Romanistischen Linguistik, des Handbuchs zur Geschichte der romanischen Sprachen und den neu erscheinenden Manuals of Romance Linguistics.271

Durch die zunehmende Beschäftigung mit dem Sujet ‚Vulgärlatein‘ ergab sich auch eine Aufsplitterung des Begriffsinhaltes, so daß man sich heutzutage einer Vielzahl von Interpretationen gegenübersieht, was darunter genau zu verstehen sei. Auch wenn Kernelemente der Definition von Schuchardt bestehen bleiben, so ist die Frage, welcher Sprachzustand zu welcher Zeit damit bezeichnet werden soll, relativ umstritten, so daß sich hinter der Begriffsverwendung in einer aktuellen Publikation tendenziell immer zahlreiche Forschungsmeinungen verbergen können und der gemeinsame Nenner einer communis opinio sich denkbar klein ausnimmt, was nicht ganz unproblematisch im Sinne einer für alle praktikablen Begrifflichkeit ist.

Es seien im Folgenden nun einige voneinander abweichende Positionen herausgegriffen, um diese Diskrepanz deutlich werden zu lassen:

Das Vulgärlatein ist das gesprochene Latein. Es könnte auch Romanisch heißen. Die einzelnen rom. Sprachen sind nicht die Töchter des Vlt., sondern selbst Vlt., d.h. seine Spielart. Sie sind das Latein von heute. […]

Vlt. hat es zu allen Zeiten gegeben. Auch ist das Vlt. nicht ohne weiteres als die Sprache der niederen Klassen anzusehen und das Schriftlatein nicht ohne weiteres als die Sprache der Gebildeten. Im täglichen Verkehr haben sich zweifellos auch die Gebildeten nicht in kunstvollen Perioden ausgedrückt. Freilich mag die Sprache der Gebildeten nicht ganz dieselbe gewesen sein wie die des niederen Volkes. Zwischen dem höchsten und kunstmäßigsten Latein und dem rohesten Vulgärlatein gab es eine Masse von Mittelstufen – wie es deren auch heute gibt. […]

Der größte Teil der gesprochenen lat. Alltagsrede ist verhallt, für immer verhallt und verschollen. Man muß sich die Quellen für die Kenntnis des Vlt. erst mühsam zusammensuchen. (Voßler 1922:48–49; Hervorhebungen im Original)

Für Voßler ist ‚Vulgärlatein‘ demgemäß gleichzusetzen mit der gesprochenen Sprache, und zwar vor allem auch in konzeptioneller Hinsicht. Diese ist dabei zeitlich nicht limitiert bzw. an eine bestimmte Sprachstufe gebunden, also nicht etwa auf die spätlateinische Phase beschränkt, wie er eigens betont (cf. Voßler 1922:49). Er sieht das Vulgärlateinische als diastratisch nicht strikt an eine Sprecherschicht gebunden und betont das diaphasisch-diastratische Kontinuum. Mit der begrifflichen direkten Gleichsetzung von Vulgärlatein und Romanisch (cf. Zitat supra) ist implizit auch die diatopische Variation des Vulgärlateins postuliert. Das konzeptionell und gesprochene Latein ist schließlich nur in Ausnahmen in medial schriftlichen Kontexten zu finden, und zwar „aus dem einfachen Grunde, weil man sich in der Schrift immer oder meistens eines grammatisch und stilistisch gereinigten, eines mehr oder weniger klassischen Lateins bediente“ (Voßler 1922:49).

Ebenfalls den Aspekt der Mündlichkeit betont Battisti (1949) in seiner Definition, grenzt die Epoche, in der das Vulgärlatein sich äußert, jedoch relativ deutlich ein:

Intendiamo con questa voce non una fase dialettale, ma la lingua normalmente parlata nel mondo latino dalla maggioranza della classe media nei due ultimi secoli della repubblica e nell’impero […]. (Battisti 1949:23)

Battisti verankert demgemäß das Vulgärlatein zwischen ca. 200 v. Chr. (die letzten zwei Jahrhunderte der römischen Republik) und 476 n. Chr. (Ende des römischen Kaiserreiches im Westen). Auffallend ist weiterhin die eindeutige diastratische Verankerung des Vulgärlateins, welches er als Sprache der classe media, also der Mittelschicht festmacht.272

Eine Definition mit einer anderen Schwerpunktsetzung findet sich bei Väänänen (2002), der auch eine deutlich divergierende zeitliche Eingrenzung vornimmt:

Le latin vulgaire au contraire, tel que nous le concevons, comprend les états successifs depuis la fixation du latin commun, à l’issue de la période archaïque, jusqu’à la veille des premières consignations par écrit de textes en langue romane; il n’exclut ni les variations sociales, ni même régionales. (Väänänen 2002:6)

Wichtig in dieser Bestimmung des Vulgärlateins ist zum einen die Betonung der Variationsbreite, und zwar wie schon bei Voßler nicht nur in Bezug auf die Diastratik, sondern auch hinsichtlich der Diatopik, und zum anderen die chronologische Verortung. Der Beginn des Vulgärlateins hängt mit der sich etablierenden Schriftsprache bzw. deren Kodifizierung zusammen, so daß man Väänänen hier so interpretieren kann, daß dies mit der ersten literarischen Produktion ab 240 v. Chr. zusammenfällt (cf. Kap. 4). Das Ende setzt er mit dem Aufkommen der ersten romanischen Texte gleich, so daß dies ins 9. Jh. zu datieren wäre (cf. Straßburger Eide 842). Dies ist – wie im weiteren noch zu sehen sein wird – eine chronologisch sehr weite Fassung der Epoche, in welcher das Vulgärlatein greifbar ist, insbesondere hinsichtlich des zeitlichen Endpunktes.273

Eine etwas anders gelagerte Bestimmung dessen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen sei, bietet Herman (1967), dessen Kerndefinition folgendermaßen lautet:

Compte tenu de ces considérations, nous appelons latin vulgaire la langue parlée des couches peu influencées ou non influencées par l’enseignement scolaire et par les modèles littéraires. (Herman 1967:16; Hervorhebungen im Original)

Dies wird ergänzt durch drei weitere Spezifizierungen, deren grundlegende Aussagen die folgenden sind:

Notre définition ne comporte aucune limitation chronologique. En effet, le latin vulgaire étant la langue parlée des gens peu influencées par la tradition littéraire, on est en droit de parler de latin vulgaire à partir du moment où une tradition littéraire existe, c’est-à dire au moins depuis le dernier siècle de la République. […] Quant au point chronologique final, il coïncide nécessairement avec l’extinction du latin, langue vivante […].

Le latin vulgaire étant, par définition, une des variantes parlées du latin, il est en principe impossible de parler de texte vulgaire […].

Il doit être entendu d’emblée que le latin vulgaire était constitué d’un ensemble de faits complexes et mouvants: le latin vulgaire évoluait dans le temps et l’usage vulgaire du 1er siècle de notre ère différait très certainement de celui du Ve; il y avait dans la latinité vulgaire des variations locales; […] enfin le latin vulgaire comportait lui-même, sans doute, divers „styles“, divers argots de métiers […]. (Herman 1967:16–17; Hervorhebungen im Original)

Hierbei wird von Herman vor allem der Aspekt der gesprochenen Sprache betont und gerade in Punkt 2 der Ergänzungen verweist er nochmal darauf, daß es sich dabei nicht nur um einen konzeptionellen Aspekt handelt, sondern auch um einen medialen (cf. supra: „impossible de parler de textes (sic!) vulgaires“). Ein gewisser Widerspruch besteht in der relativ eindeutigen Verankerung des Vulgärlateins in diastratischer Hinsicht (cf. couches peu influencées) und der andererseits allgemein postulierten diasystematischen Vielfalt, die diaphasische Variation umfaßt (cf. divers „styles“), aber auch diatopische (cf. des variations locales) sowie gruppenspezifische diastratische (cf. divers argots de métiers). Der zeitliche Rahmen innerhalb dessen man laut Herman von Vulgärlatein sprechen könne, erstreckt sich für ihn vom 1. Jh. n. Chr. bis zum 5. Jh. n. Chr. Die chronologische Verortung ist hierbei also deutlich enger gesteckt als bei Voßler oder Väänänen, insofern er den Beginn mit den Inschriften von Pompeij und dem Werk Petrons ansetzt, was gleichzeitig in die Zeit der Kodifizierung des Klassischen Lateins im engsten Sinne fällt bzw. bereits in die Spätzeit dieser Periode. Das Ende wiederum bleibt definitorisch vage, insofern er diese Zeitspanne zunächst durch „l’extinction du latin, langue vivante“ (Herman 1967:16) umreißt, dann aber etwas konkreter ins 5. Jh. verlegt, und damit in die Zeit des Untergangs des Imperium Romanum (476 n. Chr.). Ein neues und wichtiges Element bei Herman ist das Hervorheben der Entwicklung des Vulgärlateins und seine Veränderlichkeit im Laufe der Jahrhunderte.

Coseriu (1954, 1978, 2008) wiederum folgt zwar Herman hinsichtlich der diasystematischen Vielfalt des Lateins, geht aber bezüglich der Terminologie und der Chronologie eigene Wege. Dabei resümiert er zunächst systematisch die „klassischen“ Probleme in der Bestimmung des Vulgärlateins, die wie folgt synthetisiert werden können:

1 Wie ist das Verhältnis zwischen Vulgärlatein und dem klassischen Latein bzw. dem Gesamtlatein?Ist das Vulgärlatein eine eigene, vom klassischen Latein abzugrenzende Sprache?Wenn es keine eigene Sprache ist, wie war dann das Verhältnis dieser spezifischen Form des Lateins zum Gesamtlatein?

2 Welcher Epoche ist das Vulgärlatein zuzurechnen bzw. ist es zeitlich überhaupt begrenzt?274

3 Welcher Art ist die Charakteristik des Vulgärlateins – war es eine eher homogene oder eine heterogene Sprache?275

4 Wie ist die Forschungsdiskrepanz zwischen Latinisten und Romanisten zu bewerten?Das Vulgärlatein besteht auch aus anderen Formen, die nicht im engen, latinistischen Sinne als ‚vulgär‘ zu charakterisieren sind.276Es gibt auch Formen im Vulgärlatein, die mit denen des klassischen Lateins übereinstimmen bzw. bei denen es keine Notwendigkeit der Differenzierung gibt.277Es gibt auch Formen, die man dem Vulgärlatein zurechnet, die nicht in Texten überliefert sind, die man aber aus den romanischen Sprachen rekonstruieren kann.278

Innerhalb dieser von Coseriu (2008:108–110) aufgeworfenen Problemstellungen sind einige, die sich in der heutigen Forschung überholt haben bzw. marginalisiert sind (z.B. Problem der Konnotation von ‚vulgär‘), andere hingegen bleiben weiterhin virulent (z.B. Frage nach dem Verhältnis Vulgärlatein vs. Gesamtlatein und die zeitl. Verortung). Coseriu verweist außerdem auf das Problem der Protosprache und der Rekonstruktion, denn für die Romanistik wird das Vulgärlatein als Vorläufer (Ursprache) der einzelnen romanischen Sprachen gesehen und analog zur Tradition der Indogermanistik arbeitet man auch hier mit rekonstruierten Einzelformen (neben den zahlreichen belegten). Er löst dieses und die oben angeführten Probleme schließlich in streng strukturalistischer Manier und postuliert das Vulgärlatein und das klassische Latein als zwei getrennte, „funktionelle Sprachen“ (Coseriu 2008:111), die innerhalb des Systems einer historischen Sprache existieren. Weiterhin versucht er dabei, latinistische und romanistische Positionen zu verschmelzen und entwickelt eine Chronologie, in der er das Gesamtlatein in fünf Perioden einteilt und jeweils der Entwicklung des Schriftlateins diejenige des mündlichen Sprachgebrauchs gegenüberstellt: Archaisches Latein vs. Latein ohne feste Norm, Literarisches Latein vs. Lateinische Umgangssprache, Klassisches Latein vs. Vulgärlatein, Spätlatein vs. Vorromanische Phase, Mittelalterliches Latein vs. Romanische Sprachen (cf. Coseriu 2008:127).279 Dabei stellt er apodiktisch fest: „Es gab kein Vulgärlatein als solches vor der Existenz des klassischen Lateins“ (Coseriu 2008:119). Andererseits wird in seinen Ausführungen doch deutlich, daß es vulgärlateinische Elemente auch in anderen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte gab – er benennt sie eben nur nicht so. Er versteht damit das Vulgärlatein dann doch vorwiegend aus romanistischer Sicht als Protoform der romanischen Sprachen und setzt den zugehörigen Zeitraum zwischen 100 n. Chr. – 400 n. Chr. an, bei gleichzeitiger – nicht gängiger – Verortung des klassischen Lateins in eben dieser Epoche.280 Mit der Umgangssprache quasi als Vorläufer des Vulgärlateins in älterer Zeit zollt er offenbar der latinistischen Tradition Tribut, engt aber auch diesen Begriff damit deutlich ein. Coseriu erliegt hier womöglich einer Übersystematisierung, auch in Bezug auf die Chronologie, die er zuvor noch großzügiger handhabte und die Hauptperiode der vulgärlateinischen Elemente in die Zeit zwischen 200 v. Chr. – 600 n. Chr. verortet (cf. Coseriu 1978:268).281

Die inhaltliche Bestimmung dessen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist, bleibt in der Forschung umstritten, manchmal nur in Bezug auf bestimmte Details, mitunter geht es aber auch um grundsätzliche Vorstellungen, die voneinander abweichen. Bereits 1937 konstatiert Furman Sas leicht resigniert, angesichts der von ihm gezählten 19 existierenden Begriffe in der damaligen Forschung, um „non classical language spoken or written“ zu charakterisieren, daß zwar ‚Vulgärlatein‘ nicht einheitlich verwendet werde, weitere terminologische Neuschöpfungen jedoch nur zur weiterer Verwirrung beitragen (Furman Sas 1937:491).282

An dieser Lage hat sich bis heute grundsätzlich nichts geändert, außer daß – horribile dictu – noch einige Definitionen mehr hinzugekommen sind.

Möglichst vielen Einzelbestimmungen Spielraum einräumend, versucht Stefenelli (2003) eine definitorische Annährung an die Kernelemente, auf die man sich heute vielleicht – zumindest in der Romanistik – verständigen kann:

Angesichts der diasystematischen und diachronischen Vielschichtigkeit bzw. Variation des Sprechlateins versteht sich ‚Vulgärlatein‘ hierbei heute in der Regel als komplexer Sammelbegriff für verschiedene v.a. diastratische (soziokulturell), diatopisch (geographisch) und diachronisch differenzierte Varietäten der mündlich konzipierten Spontansprache (Stefenelli 2003:530)

Diese Umschreibung klammert freilich fast alle wichtigen Streitfragen aus und ist daher eher als ein kleinster gemeinsamer Nenner inhaltlicher Bestimmung zu begreifen.

Lüdtke (2019) definiert Vulgärlatein vor allem als Abweichung vom klassischen Latein, das er wie folgt definiert:

Das klassische Latein ist innerhalb der historischen Sprache Lateinisch eine geschriebene und gesprochene urbane Sprache. Wenn nun wenig Schreibgeübte und wenig Gebildete aus anderen Schichten als der Oberschicht in Rom und in romfernen Regionen des Imperiums schreiben, gelten die Abweichungen von der urbanen Tradition als Vulgärlatein. (Lüdtke 2019:442)283

Dabei weist er zusätzlich daraufhin, daß auch die nicht urbanen Varietäten von weniger gebildeten Personen wie Soldaten geschrieben wurden, so daß eine schlichte Dichotomie, in der das klassische Latein mit Schriftlichkeit und Vulgärlatein mit Mündlichkeit gleichgesetzt wird, nicht greift (cf. Lüdtke 2019:442–443).

Selbst wenn man nun inhaltliche Differenzen und Nuancen großzügig beiseite läßt und sich auf wenige konstituierende Aspekte konzentriert, bleibt die Frage der adäquaten Bezeichnung für diese Art des Lateins ebenfalls im Raume stehen. Durchforstet man die einschlägige Forschungsliteratur, so begegnet einem als roter Faden ein nicht enden wollendes Lamento über den Begriff ‚Vulgärlatein‘, der gleichsam gottgegeben wie unausrottbar scheint und menetekelhaft von weiterem terminologischen Unglück kündet oder die Wissenschaft zu beeinträchtigen scheint, wie die wenigen Exzerpte deutlich machen:

The present use of the term „Vulgar Latin“ is so vague that we find it used now to refer to the language of Plautus, now to the language of the royal charts of the 8th century, now to the language of Gregory of Tours, now to a theoretically constructed language which exists only in the minds of certain scholars. (Furman Sas 1937:491)

Il termine latino volgare, è ormai così radicato nei nostri studi, da non poter essere estirpato, quindi lo subiamo, prendendo nota della sua inadeguatezza ed imprecisione. (Battisti 1949:23)

Não foi fácil problema estabelecer, rigorosamente, o conceito de latim vulgar. Durante muito tempo lavrou imensa confusão, em prejuízo dos métodos e do progreso da Romanística. (Silva Neto 1957:11)

Sanctionné par un usage centenaire pour désigner les divers faits latins qui ne s’accordent pas avec les norms classiques, le terme de latin vulgaire a les avantages et les inconvénients d’un terme consacré. (Väänänen 2002:3)

Couramment employée, en philologie latine et en linguistique romane, l’expression „latin vulgaire“ n’en constitue pas moins un des termes techniques les plus discutés de nos disciplines. (Herman 1967:9)

Den vorgeschlagenen Alternativen bzw. korrespondierenden Ausdrücken wie ‚lateinische Umgangssprache‘,284 ‚Sprechlatein‘ (frz. latin parlée, it. latino parlato), Spontanlatein,285 latin commun (it. latino comune)286 oder latino borghese287 haftet allerdings nicht selten eine ähnliche Problematik an – geschweige denn den heutzutage nicht mehr gebräuchlichen wie ‚Volkslatein‘ oder ‚Plattlatein‘,288 so daß man nolens volens wieder zum ungeliebten ‚Vulgärlatein‘ zurückzufinden scheint und sich dabei tendenziell terminologisch möglichst wenig festlegt, um nicht immer über die oben aufgeführten Grundsatzfragestellungen zu stolpern.289

Dies führt schließlich dazu, daß auch in der aktuellen Forschung einerseits die Klage nach dem vertrauten, aber scheinbar unpassenden Begriff nicht aufhört, man sich aber auch nicht durchringen kann ihn abzuschaffen:

Obwohl es sich um einen nicht sehr glücklich gewählten Ausdruck handelt, ist der Terminus Vulgärlatein in der Romanistik stark verankert. Es scheint den Romanisten bis heute schwer zu fallen, sich von ihm zu trennen und sich für die Bezeichnung gesprochenes Latein zu entscheiden. (Pirazzini 2013:13–14)

Dies fällt natürlich u.a. deshalb so schwer, weil ‚gesprochenes Latein‘ eben nicht exakt das Gleiche beschreibt, was der ein oder andere Linguist mit ‚Vulgärlatein‘ ausdrücken möchte.

Wenig glücklich erscheint auch eine Gliederung des Lateins, in der versucht wird, partieller Gradation zwischen literarischem Latein und Vulgärlatein zu etablieren, wie es in einer aktuellen Studie Nedeljković (2015) auf Basis von Banniard (1992) und Chahoud (2010) referiert:

En résumé, ces considérations aboutissent à deux dichotomies indépendantes, l’une concernant les registres plus ou moins formels, l’autre le sociolecte haut ou bas. Leur croisement donne naissance à trois – et non pas quatre – variété linguistiques : 1° le „haut formel “, qui est le latin littéraire, 2° le „haut informel “, qui est le latin familier, et 3° le latin vulgaire, qui a l’air informel, puisqu’il ressemble bien plus au familier qu’au littéraire, mais qui, à proprement parler, n’est point susceptible de gradation sur l’axe de formalité. (Nedeljković 2015:4)

Die Verschränkung von diaphasischer und diastratischer Ebene sowie die Nichtbeachtung der Diskrepanz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit läßt diese Unterteilung wenig systematisch erscheinen. Eine ergänzende, chronologische Unterteilung seitens Chahouds, die das Vulgärlatein als rein postaugusteisches Phänomen charakterisiert und dabei negativ bewertet, läßt die komplette Systematik als „absurd“ erscheinen, wie Nedeljković (2015:5) zurecht anmerkt, ohne jedoch selbst eine adäquate Alternative anzubieten.

Eine Möglichkeit, die zumindest implizit in einigen anderen, neueren Publikationen zum Latein und seiner Geschichte anklingt,290 aber nie wirklich dezidiert verfolgt wurde, wäre eine Aufsplittung der Begriffe für eine rein diachrone romanistische Forschung einerseits und eine synchrone-diachrone Forschung zum Latein andererseits, ohne dabei die alte Sezession in latinistische und romanistische Tradition wiederaufleben zu lassen.

In diesem Sinne sei hier auch im Interesse der vorliegenden Arbeit eine Definition des Vulgärlateins versucht, die ausschließlich als terminologisches Konstrukt zur Erfassung der Ursprache bzw. Protosprache der einzelnen romanischen Idiome heranzuziehen wäre – mit inhaltlich weitgehendem Bezug auf Voßler (1922) und unter Berücksichtigung weitere wichtiger Aspekte, wie sie u.a. bei Herman (1967) oder Coseriu (2008) zur Geltung kommen:291

Vulgärlatein ist das gesprochene Latein der Antike, welches für uns nicht in einem homogenen Korpus von Texten erschließbar ist, sondern nur in Reflexen einzelner, vorwiegend substandardlich markierter Merkmale und Phänomene des geschriebenen Lateins aller Epochen, von den ersten Schriftzeugnissen des Lateinischen bis zum Beginn romanischer Schriftlichkeit, wobei die vulgärlateinischen Elemente tendenziell in einer späteren Phase zunehmen, natürlich in Abhängigkeit von der Textsorte. Aufgrund der Konvergenzen zwischen der gesprochenen und der geschriebenen Sprache, die beide innerhalb des gleichen Diasystems verortet sind, ist das gut dokumentierte und als Referenzgröße am besten greifbare, sogenannte Klassische Latein in Bezug auf zahlreiche Merkmale aller sprachlichen Ebenen übereinstimmend mit dem Vulgärlateinischen, so daß letzteres vor allem durch seine Abweichungen von der normierten Sprache faßbar wird, alle weiteren Erscheinungen der Mündlichkeit sind zu rekonstruieren.

Der Terminus ‚Vulgärlatein‘ könnte deshalb prinzipiell durch den Begriff ‚Sprechlatein‘ ersetzt werden, doch ist ersterer zu bevorzugen, und zwar nicht nur ob seiner langen Tradition in der Wissenschaft, sondern weil dadurch auch das Problem der Faßbarkeit und Überlieferung deutlicher zum Ausdruck kommt und ‚Sprechlatein‘ oder ‚gesprochenes Latein‘ für die abstrakte diasystematische bzw. diamediale Betrachtung reserviert werden kann.

Unter diesen Voraussetzungen erfüllt das Konstrukt ‚Vulgärlatein‘ eine angemessene Funktion, indem es hilft die zentrale Fragestellung der diachronen romanistischen Forschung zu beantworten, nämlich die nach dem Ursprung der einzelnen romanischen Varietäten und Sprachen. Eine in einem romanischen Idiom auftretenden erbwörtliche Form kann somit kategorisch auf eine vulgärlateinische Basis zurückgeführt werden; diese kann mit einer klassisch lateinischen Form korrespondieren oder auch nicht, kann in einem antiken oder frühmittelalterlichen Text belegt sein – aus welcher Epoche auch immer – oder aber rekonstruiert werden.

Für eine synchrone Betrachtung des Lateins der Antike hingegen aus Perspektive der Latinistik, wie sie in Kap. 4 vorliegender Arbeit vorgenommen wurde, bei der eben nicht die Weiterentwicklung zu den romanischen Sprachen im Vordergrund steht, sondern die Erfassung der diasystematischen Schichtung des Lateins – natürlich auch in Bezug auf seine Entwicklung innerhalb dieses als synchron gesetzten Zeitrahmens –, ist der Begriff des Vulgärlateins hingegen wenig dienlich. In diesem Kontext erscheint es vielmehr adäquat, darauf zu verzichten und stattdessen mit den Termini der Varietätenlinguistik zu operieren (diatopische, diastratische, diaphasische Varietäten des Lateins), um die Architektur der Sprache zu erfassen. Dies erscheint umso wichtiger, als damit auch deutlich wird, daß das Latein als einst lebende Sprache die gleiche diasystematische Variationsbreite aufweist wie eine moderne Sprache und keineswegs von zwei Systemen, einem vulgärlateinischen und einem des klassischen Lateins auszugehen ist, wie einst suggeriert wurde (zu dieser reductio ad unum bzgl. des Urromanischen bzw. Protoromanischen cf. Vàrvaro 1977:149).292

Si deve insomma considerare la lingua di Roma e dell’Impero come un vero e proprio diasistema contenente varietà diatopiche (geografiche ed areali), diastratiche (sociali) e diafasiche (attinenti ai diversi registri espressivi e di stile) oltre che ovviamente diamesiche (legate all’uso di mezzi espressivi diversi: in sostanza scritto ~ parlato) e non ultimo diachroniche o relative alla variabilità lungo l’asse temporale: in altre parole, un insieme (relativeamente) ordinato nel quale stratificazione, varietà e variabilità debbono necessariamente adeguarsi ai principi naturali ed universali che le determinano. (Zamboni 2000:71–72)

Der Übergang vom Lateinischen ins Romanische bzw. die einzelen sich ausdifferenzierenden romanischen Sprachen ist demgemäß ein schrittweiser Prozeß, währenddessen ein komplexes heterogenes Sprachsystem, nämlich das des Lateinischen, sich durch die verschiedensten Einflußfaktoren verändert (interne Sprachwandelprozesse, Sprachkontakte, Migrationen, Veränderung des Sprachraumes und der Sprechergemeinschaften)293 und neue Relationen zu den sich nach und nach abspalteten Teilsysteme aufbaut (Kontinuität und Diskontinuität), so daß am Ende eine Diglossie-Situation mit einem idealisierten mittelalterlichen Latein der Scholastiker bzw. später der Humanisten und den romanischen Sprachen mit sich vom Schriftlatein emanzipierenden Literatursprachen steht (cf. Zamboni 2000:80–81).

Für vorliegende Arbeit wirft diese Synopse der neueren vulgärlateinischen Begriffsgeschichte, die eng an die Entstehung der Sprachwissenschaft gebunden ist und in der die terminologische Variationsbreite sowie das Ringen um eine adäquate Beschreibung des Lateins, aber vor allem der romanischen Ur- und Protosprache deutlich wird, die Frage auf, inwiefern diese Annährungsversuche an die sprachliche Realität sich von denen der frühneuzeitlichen Betrachtungen unterscheiden. Dies kann im Kern bereits a priori damit beantwortet werden, daß die neuere Forschung von einer dezidiert linguistischen Sichtweise geprägt ist, während die humanistischen Untersuchungen meist andere Zielsetzungen haben und die Sprachbetrachtung zu diesem Thema oft nur als ancilla einer anderen Debatte fungiert; zudem sich diese Diskussionen hinsichtlich der Linguistik in einem vorwissenschaftlichen Raum abspielen. Es bleibt dennoch zu klären, inwieweit einzelne Grundgedanken dessen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist, in dieser Vorphase der Sprachwissenschaftsgeschichte bereits zu Tage treten bzw. nach und nach Gestalt annehmen, sich verfestigen und welche Aspekte tatsächlich erst mit der Etablierung einer Forschung in der Tradition von Diez und Schuchardt erschließbar werden.

Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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