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4.1.2.1 Die diatopische Ebene

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Da die Verbreitung der lateinischen Sprache sich im Laufe der Jahrhunderte erheblich verändert hat, d.h. ein regional sehr begrenztes Idiom entwickelte sich zur wichtigsten Sprache in großen Teilen Europas und darüber hinaus, ist auch eine Betrachtung der diatopischen Gliederung des Lateins nicht ohne eine diachrone Perspektive möglich (v. supra).217

Die indogermanischen Proto-Latiner, Träger der lateinischen Sprache, die ab dem 10 Jh. v. Chr. in Teilen der Region Latium seßhaft wurden und dort Streusiedlungen errichteten (präurbane Phase), die sich bis zum 6. Jh. v. Chr. teilweise zu kleineren urbanen Zentren entwickelten, gliederten sich ursprünglich in politisch gleichberechtigte populi in autonomen Gemeinden. Die sich in diesem Zeitraum konstituierende cultura laziale bildete mit ihren Ansiedlungen und Sakralverbänden eine lose Gemeinschaft. Mit dem Wandel zur Urbanität ab dem 6. Jh. v. Chr. und der Gründung des Latinischen Städtebundes (nomen Latinum bzw. nomen Latium) gewinnt die Gesellschaftsstruktur in Latium Kontur. Es ist anzunehmen, daß die einzelnen gentes dieser Region Träger von Idiomen mit sprachlichen Eigenheiten waren, die sich voneinander abgrenzten (cf. Palmer 1990:62; Neue Pauly 1999 VI:1165–1169; Aigner-Foresti 2003:19–20).

Appliziert man nun die auf sozio-politisch, historischen Merkmalen beruhende Unterkategorisierung der dialektalen Ebene nach Coseriu (v. supra), so kann man mit Müller-Lancé (2006:45) diese Varietäten der Latini als primäre Dialekte des Lateinischen deklarieren. Der Dialekt der Stadt Rom war dabei zunächst nur einer unter vielen. Erst mit der beginnenden regionalen Expansion Roms und den Auseinandersetzungen mit den latinischen Nachbarn (Latinerkriege) ab dem frühen 5. Jh. v. Chr., die mit der Auflösung des Latinerbundes (338 v. Chr.) endeten, gewinnt das stadtrömische Latein an Prestige gegenüber den anderen verwandten Varietäten der Region.

Angesichts der bescheidenen Quellenlage für die Frühzeit, für die nur wenige, laut Palmer (1990:65) „nichtssagende Fragmente“ zur Verfügung stehen, ist es schwierig, den sprachlichen Abstand zwischen den einzelnen Varietäten festzustellen. Im Gegensatz zu Seidl (2003:522), der die dialektalen Unterschiede im frühen Latium als eher gering einstuft,218 postuliert Müller-Lancé (2006:47), daß der Dialekt der Stadt Rom „stark“ von denen seiner Nachbarn abwich. Allerdings zieht er zum Vergleich als erstes Beispiel eine Inschrift aus Falerii heran, die üblicherweise als faliskisch eingeordnet wird (cf. Meiser 2010:9–10, § 6.1) und nicht als lateinisch. Hinzu kommt, daß er diese frühfaliskische Inschrift aus dem 4. Jh. v. Chr. dem klassischen Latein und nicht dem Altlatein gegenüberstellt, doch selbst zur altlateinische Periode wäre eine noch nicht unerhebliche zeitliche Diskrepanz zu konstatieren.219 Das faliskische Original lautet: foied uino pipafo cra carefo – foied uino pafo cra carefo (cf. Baldi 2002:125). Dies würde im Altlatein die Entsprechung hodie vinom bibabo, cras carebo (cf. Quiles 2009:63) haben und im klassischen Latein hodiē vīnum bibam, crās carēbō (cf. Baldi 2002:125), also übersetzt ‚heute will ich Wein trinken, morgen werde ich es mir versagen‘ (Müller-Lancé 2006:47). Immerhin ist aber auf diese Weise der Abstand vom nah verwandten Faliskischen zum Lateinischen zumindest nährungsweise erkennbar. So ist intervokalisch faliskisch f bzw. lateinisch b aus indgerm. bh > b (lat.) bzw. > f (falisk.) zu erklären (cf. carefo vs. carebo), im Faliskischen ist der Verlust der Auslautkonsonanten (cf. uino vs. vinom; cra vs. cras) sichtbar220 und im Lateinischen die Weiterentwicklung zu h, also indogerm. gh > f > h (cf. foied vs. hodie). Morphologisch ist die Futurbildung mit f im Faliskischen auffällig wie in carefo und pipafo (Palmer 1990:62–63; Quiles 2009:63).

Das zweite Beispiel, um den großen Abstand der latinischen Varietäten aufzuzeigen, ist von Müller-Lancé (2006:47), der hier Palmer (1990:63–64) folgt, ebenfalls nicht optimal gewählt, da die Echtheit der Fibula praenestina als umstritten gilt (v. supra). Geht man jedoch von einer authentischen Inschrift aus, zeigen sich an dem Wortlaut Manios : med : vhe : vhaked : Numasioi (klat. Manius mē fēcit Numerio, dt. ‚Manius hat mich für Numerius gemacht‘) einige Eigenheiten der Varietät von Praeneste.221 Dazu gehört die Endung der 3. Person Singular auf –d, die Dativendung -oi und das reduplizierte Perfekt (cf. vhe vhaked), in der sich auch die Verwandtschaft zum Oskischen zeigt (cf. osk. fefakid, fefacust). Palmer (1990:64–65) gibt im Folgenden noch weitere sprachliche Phänomene der frülateinischen Inschriften an, die in Lautung und Morphologie vom späteren standardisierten Latein abweichen, wie z.B. die Entwicklung von d > r vor Labial, was eventuell lat. arbiter als Dialektwort identifizierbar machen würde, außerdem häufige Synkope unbetonter Vokale (z.B. dedront vs. klat. dedērunt) oder die Bewahrung des Nominativ Plural auf –ās (z.B. matronas vs. klat. mātrōnae).

Aufgrund der Tatsache, daß das Lateinische erst ab dem 3. Jh. v. Chr. in längeren Texten faßbar wird, ist ein Vergleich für die Frühzeit schwierig. Es kann allerdings wie anhand der Beispiele ersichtlich, festgehalten werden, daß es eine diatopische Differenzierung gab, über den Grad der Abweichungen insgesamt Aussagen zu treffen bleibt problematisch, genauso wie das Verhältnis zum nahverwandten Faliskischen – also ist hier der Abstand tatsächlich deutlich größer als zu den Dialekten Latiums bzw. um wieviel größer? Ausgehend von der festgestellten Variation ist jedoch festzuhalten, daß der zu Beginn recht kleine geographische Raum – Müller-Lancé (2006:45) spricht von einer Nord-Süd-Ausdehnung von ca. 50 km – in noch kleinere sprachliche Varietäten gegliedert ist. Bei den primären Dialekten des Lateins handelt es sich nach gängigem Verständnis eher um Mundarten (frz. parlers locaux, cf. Müller 1975:109), also areal sehr begrenzte diatopische Varietäten (cf. Sinner 2014:92; v. supra), d.h. kleine urbane Zentren mit dem zugehörigen Umland. Rekurrieren wir auf die Fundorte der frühen Inschriften sowie auf die Städte des Latinerbundes, die die einzelnen populi repräsentieren, so können wir für das Lateinische die Mundarten des Römischen, Pränestinischen, Lanuvinischen, Tiburinischen, Tusculanischen, Satricanischen, Aricianischen, etc. postulieren.

Mit dem Ausgreifen Roms auf seine latinischen Nachbarn beginnt das Lateinische, die anderen Varietäten zu überdachen, zunächst nur aufgrund seiner politischen Vormachtstellung im mündlichen Bereich, später auch im schriftlichen. In Bezug auf die Schriftsprache stand das Latein, außer natürlich mit dem Griechischen und Etruskischen, anfänglich auch in Konkurrenz mit dem Faliskischen, Oskischen, Umbrischen oder Volskischen (nur wenige Inschriften, cf. Meier-Brügger 2002:34, E 429).

Bei der Frage nach der Herausbildung des stadtrömischen Dialekts, der uns zu einem späteren Zeitpunkt in der schriftlichen, standardisierten Form des Klassischen Lateins gegenübertritt, zieht Müller-Lancé (2006:48) die Parallele zur Herausbildung des Französischen aus dem Franzischen von Paris bzw. der Île-de-France.222 Es ist jedoch passender den Befund von Poccetti/Poli/Santini (2005:65) zugrundezulegen, die für Praeneste analog zu Rom von einem Latein mit dreifacher Wurzel sprechen, nämlich einer latinischen, einer etruskischen und einer italischen, welches zusätzlich von griechischen und phönizischen Einflüssen überlagert wird, so scheint es vielmehr so, daß Rom wie auch andere zentrale Orte in Latium ganz allgemein in einem viel größeren Raum kultureller Schnittstellen lagen.223 Der Beitrag der latinischen Nachbarvarietäten zur Formung des stadtrömischen Lateins war sicherlich gegeben,224 ist aber schwierig einzuschätzen. Eindeutig hingegen ist, daß diese Varietäten die lateinischen koiné beeinflußt haben, die sich in der Folgezeit durch die Expansion Roms herausgebildet hat.

Durch das Ausgreifen Roms auf die benachbarten Regionen und die im Folgenden sich in mehreren Etappen vollziehende Eroberung der gesamten italienischen Halbinsel sowie schlußendlich die Beherrschung des gesamten orbis entwickelten sich nach erfolgter Romanisierung und Latinisierung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Westteil des Reiches sekundäre Dialekte des Lateinischen, welches weit über seinen autochthonen Entstehungsraum hinausgetragen wurde. Dabei erscheint es wichtig, neben der von Müller-Lancé (2006:48–49) vorgenommenen arealen Unterscheidung von sekundären Dialekten innerhalb und außerhalb Italiens – was aufgrund einer gewissen Sprachbund-Dynamik durchaus gerechtfertigt ist225 – auch den sprachlichen bzw. typologischen Abstand zwischen den Kontaktsprachen als Kriterium der Differenzierung anzusetzen. Benachbarte nicht verwandte oder nur weitläufig verwandte Sprachen wie das Etruskische oder das Griechische hatten einen gewichtigen Einfluß auf die Herausbildung des Lateinischen, die nahverwandten italischen Sprachen hingegen unterlagen einer „progressiven Assimilation“ (Poccetti/Poli/Santini 2005:89) und teilten nicht wenige Konvergenzphänomene mit dem Lateinischen mit zunehmender unidirektionaler Beeinflußung seitens der prestigeträchtigeren Sprache Roms.

Während also die nicht direkt verwandten, durch einen größeren sprachlichen Abstand gekennzeichneten Sprachen im Laufe des Latinisierungsprozesses eine Marginalisierung erfahren, die die Sprecher zum Sprachwechsel bewegt, so daß diese Sprachen schließlich untergehen und als Substrate wirken, unterliegen die italischen Nachbaridiome zwar prinzipiell dem selben Prozeß, jedoch mit der Nuance, daß sie zuvor vom Lateinischen dialektalisiert werden. Im Zuge der Überdachung durch die lateinische koiné – mündlich wie schriftlich – werden Sprachen wie das Sabinische, Faliskische, Volskische, Samnitische in den Status von Dialekten zurückgedrängt, d.h. wie die meisten Dialekte, nur noch im mündlichen Nähebereich gebraucht.

Poccetti/Poli/Santini (2005:89) sprechen diesbezüglich von einer langen Phase der Diglossie, die bereits recht früh beginnt, also vor der systematischen Romanisierung nach dem Bundesgenossenkrieg (91–89 v. Chr.), was beispielsweise aus der Bitte der Einwohner von Cumae hervorgeht, die im Jahre 180 v. Chr. den römischen Senat darum ersuchen, offiziell das Lateinische übernehmen zu dürfen (cf. Livius XLI, 42). Das autochthone Idiom wird somit schriftlich wie mündlich in die Domänen der privaten Kommunikation und der lokalen religiösen Traditionen verwiesen.226

Nach ihrem Untergang und ihrer Substratisierung, die womöglich aufgrund der zahlreichen Konvergenzen – bedingt durch die genetische Verwandtschaft und durch den sehr engen Sprachkontakt – in anderer, eventuell gradueller Form ablief als beispielsweise bei einem abrupten Sprachwechsel Etruskisch-Lateinisch, trugen die italischen Sprachen wesentlich zur Entstehung von sekundären Dialekten des Lateinischen bei.

Im Zuge der Verbreitung des Lateinischen, welches ab dem 2. Jh. v. Chr. und vor allem ab der Zeitenwende vermehrt in außeritalische Regionen vordringt und schließlich weitestgehend flächendeckende Verwendung in großen Teilen Westeuropas und Nordafrikas findet, ist zu berücksichtigen, daß hierbei nicht nur stadtrömisches Latein exportiert wird, sondern durch viele italische Kolonisten auch deren bereits bestehende sekundäre Varietäten des Lateins.227

Man müßte demgemäß von verschiedenen Schichten sekundärer Dialekte ausgehen, denn die diatopische Differenzierung des Lateinischen in Italien ist früher anzusetzen als diejenige in den entfernteren Provinzen, die zunächst noch nicht romanisiert waren. Die dortigen sekundären diatopischen Varietäten konnten deshalb Elemente aus primären und sekundären Dialekten Italiens enthalten, also z.B. sprachliche Charakteristika des ursprünglichen Latein von Praeneste, des Faliskischen, Oskischen, Etruskischen oder Griechischen.228

Dieser zentrifugalen Verbreitung sprachlicher Eigenheiten aus Italien mit dem unbestrittenen Zentrum Rom sind Migrationsbewegungen verschiedenster Art (Legionen, Kolonisten, Händler, Sklaven, etc.) gegenüberzustellen, die in gewisser Weise quer dazu wirkten. Das stadtrömische Latein – mündlich wie schriftlich – war zwar Bezugspunkt und Referenzgröße, doch die Mobilität im späteren kaiserzeitlichen Reich war nicht unidirektional von der Mitte zur Peripherie. Sprachlich hatte dies zur Folge, daß ein gewisser Ausgleichseffekt entstand, der eine starke Diatopisierung – die bei der Größe des Imperiums ja denkbar gewesen wäre – solange verhinderte, bis das Westreich unterging, die politische und administrative Klammer den Zusammenhalt nicht mehr gewährleistete.229

Es scheint relativ zweifelsfrei, daß es in der Spätzeit des römischen Reiches eine diatopische Differenzierung gegeben hatte,230 die Frage, wie stark diese war, ist jedoch schwer zu beantworten, da die Überlieferung rein aus schriftlichen Quellen besteht, bei denen trotz gelegentlich faßbarer Unterschiede letztlich eine möglicherweise zugrundeliegende Differenzierung im Mündlichen durch die mehr oder weniger am Standard ausgerichtete Verschriftung verdeckt wird.

Seidl (2003:522, 524) geht davon aus, daß die dialektale Differenzierung in der Spätzeit des Imperiums zunahm und sich nicht nur, aber vor allem auf lexikalischer Ebene äußerte. Die diatopische Diversifizierung ist dabei einerseits auf die verschiedenen Substratsprachen in den einzelnen Provinzen bzw. Regionen des Reiches zurückzuführen, andererseits auch auf die sprachinhärente Eigendynamik der Diversifizierung.231 Ausgleichend und unifikatorisch hingegen wirkte die Strahlkraft des stadtrömischen Lateins, die urbanitas als high-variety-Modell, welches jedoch im Zuge des Auflösungsprozesses der Völkerwanderungszeit den Prozeß der weiteren Diatopisierung nicht mehr aufhalten konnte (v. supra auch die Dezentralisierung seit Diokletian und die Reichsteilung unter Theodosius). Die germanischen Superstratvölker wirkten insofern doppelt, als sie zum Einen dafür sorgten, daß das römische Reich sich destabilisierte und dann auflöste, was die sprachliche Einheit der Latinophonie zerstörte und andererseits, indem sie selbst das Latein als Sprache adaptierten und damit modifizierten (Superstratwirkung).

Folgt man der Coseriu’schen Terminologie auf der diatopischen Ebene, so gibt es neben den primären und sekundären auch die tertiären Dialekte, oder in germanistischer Tradition, auch Regiolekte (v. supra). Im Gegensatz zu den bei Müller-Lancé (2006:49) nur aus der Konfrontation mit sekundären Dialekten entstandenen regionalen Varietäten, die sich in der Überlieferung als „Akzente“ von Griechen, Kelten oder Nordafrikanern manifestieren, muß man auch hier diachron diversifizieren sowie unterschiedliche Arten der tertiären Dialekte in Betracht ziehen. Dies bedeutet, daß man in einer Frühphase der römischen Geschichte auch tertiäre diatopische Varietäten aus der Konfrontation sowohl mit primären Dialekten des Lateinischen, als auch mit verwandten und unverwandten Nachbaridiomen (z.B. Faliskisch, Etruskisch) postulieren muß, auch wenn dies nicht explizit belegt ist. Zu unterscheiden sind zusätzlich prinzipiell tertiäre Dialekte, deren Basis ein primärer oder sekundärer Dialekt ist oder zumindest eine nah verwandte Sprache, so daß es hier ein Kontinuum an mehr oder weniger zahlreichen sprachlichen Charakteristika geben kann oder, ob die Basis eine wenig bzw. unverwandte Sprache ist, wo eben kein Kontinuum möglich ist (z.B. beim Keltischen, Griechischen oder Etruskischen).

Voraussetzung für die Entstehung eines tertiären Dialekts ist eine entsprechend verbreitete Standardsprache. Dies kann für das römische Reich natürlich nicht in gleicher Weise wie bei modernen normierten Sprachen angenommen werden, doch läßt sich wohl eine gewisse Verbreitung auch in den urbanen Zentren der verschiedenen Provinzen annehmen, in denen eine Oberschicht Träger einer Standard- und Normsprache war und somit zumindest einer gewissen Grad an Verbreitung gewährleistete.

Bei den überlieferten Fällen, in denen die Zeitgenossen eine diatopisch markierte Aussprache festgestellt haben, wäre grundsätzlich natürlich zunächst der Frage nachzugehen, ob es sich hierbei tatsächlich um einen lateinischen Dialekt handelt, also um einen primären oder sekundären oder, ob „nur“ eine regionale Färbung im Sinne eines regiolektalen Merkmals vorliegt.

Betrachtet man nun den vielleicht berühmtesten Fall, nämlich der des aus Hispanien stammenden Kaisers Hadrian (Traianus Hadrianus Augustus, 117–138 n. Chr.), dem in der Historia Augusta eine ländliche Aussprache nachgesagt wird (agrestius pronuntians),232 so ist davon auszugehen, daß es sich hierbei um einen Sprecher aus der provinzialen Oberschicht handelt, mit entsprechendem Bildungshintergrund und einem Bewußtsein für die high-variety des stadtrömischen Lateins. Insofern ist es kaum wahrscheinlich, daß Hadrian tatsächlich Dialektsprecher war – auch unter der Prämisse einer vielleicht nicht allzu starken diatopischen Differenzierung des Lateins zu dieser Zeit –, sondern das eine oder andere regiolektale Merkmal in seiner Aussprache aufwies.

Man kann also letztendlich davon ausgehen, daß das Latein alle Ebenen einer diatopischen Variation aufwies.233 Auch die Römer selbst waren sich dieser Variation bewußt und unterschieden prinzipiell zwischen dem mit hohem Prestige behafteten sermo urbanus, in dem das Ideal der urbanitas, des stadtrömischen Lebens und Sprechens anklingt, welches sich mit elegantia und proprietas auf diaphasischer Ebene kreuzt, und dem sermo rusticus oder auch sermo agrestis, der Redeweise des Umlandes oder der Provinzen, die entsprechend negativ konnotiert war. Sekundär ist das ‚ländliche Sprechen‘ deshalb immer auch diastratisch-diaphasisch als niedrig angesehen worden (cf. Müller-Lancé 2006:52; Reutner 2014:201–202). Lüdtke wiederum sieht die Diatopik des Lateinischen durch die zeitgenössische Kennzeichnung der peregrinitas widergespiegelt, was aber womöglich nur einen Teil der regionalen Abweichungen umfaßt.

Nach der Ausbreitung des Lateinischen in den Provinzen konnen die diatopischen Unterschiede im Ganzen mit peregrinitas benannt werden. […] Der griechische Arzt Galen benennt im 2. nachchristlichen Jahrhundert einen zwei Sprachen sprechenden Mann mit dem Ausdruck diglossos ‚zweisprachig‘. Das ist eine umfassendere Charakterisierung als die römische, die die Situation der Zweisprachigkeit nur als Art und Weise begreift, wie die Nicht-Lateiner Lateinisch sprechen, eben als peregrinitas. (Lüdtke 2019:451)

Die Tatsache, daß das Lateinische als lebendige Sprache, die sich über ein größeres Territorium erstreckte, eine diatopische Differenzierung aufwies, ergibt es letztlich auch daraus, daß sich aus dieser Konstellation die romanischen Sprachen entwickelt haben, die nichts anderes als regionale Varietäten des Lateins sind, die sich im Laufe der Zeit zum Teil relativ weit von ihrer Ursprungssprache entfernt haben. Die bisher strittige Frage ist dabei, zu welchem Zeitpunkt diese Ausdifferenzierung stattgefunden hat bzw. ob es regionale Variation bereits in entsprechender Ausprägung vor der frühromanischen Phase gegeben hat.234

So steht prinzipiell die auch in der traditionellen Klassischen Philologie vertretene These von einer grundsätzlichen Einheitlichkeit des Lateins, die bei Väänänen (1983:481, 490) als thèse unitaire apostrophiert wird, der Ansicht der thèse différentielle (ibid.) gegenüber, die besagt, daß das Latein seit der Kaiserzeit regional variiert oder zumindest deutlich vor 600 n. Chr., wobei dann wiederum die Meinungen zu ‚früher Variation‘ auch von der Auffassung abhängen, was unter ‚Vulgärlatein‘ zu verstehen ist bzw. welche zeitliche Periode dies betrifft (cf. Reutner 2014:201).

Tatsächlich ist die Art der diatopischen Variation – die zweifellos immer Überschneidung mit der diastratischen und diaphasischen aufweist – komplex, wie bereits dargelegt, und wie Adams (2007), der diachronisch geschichtet und nach Regionen gegliedert, zahlreiche Belege zur diatopischen Variation zusammengetragen hat, deutlich zum Ausdruck bringt:

The metalinguistic evidence presented in this book makes nonsense of the unitarian thesis, and the differential thesis as formulated by Väänänen just quoted is itself not satisfactory, because the regional diversity of the language can be traced back at least to 200 BC and was not a new development of the Empire. That is not to say that the Romance languages were in any sense being foreshadowed already in 200 (though we will see some continuities […]). The patterns of local diversity in 200 were not the same as those to be found a millennium or more later, but the essential point is that the language always showed regional as well as social, educational and stylistic variations. The nature of the diversity was not static but went on changing. (Adams 2007:684)

Mit anderen Worten, Latein präsentierte sich von je her als diasystematisch differenzierte Sprache. Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, daß durch die besondere historische Konstellation der extremen Expansion – die, wie von Seidl (2003:521) errechnet, ursprünglich ein Territorium von weniger als 2500 km² im 5. Jh. v. Chr. abdeckte, welches auf ca. 3 Mio km² in der Kaiserzeit anwuchs – sowie die über tausendjährige Geschichte (soweit faßbar und hier im Fokus) die lateinische Sprache in ihrer Architektur einem starken Wandel unterworfen war, nicht zuletzt auch durch die zahlreichen Sprachkontaktsituationen, Migrationen und den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen.

Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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