Читать книгу Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua - Roger Schöntag - Страница 24
4.1.2.2 Die diastratische Ebene
ОглавлениеDie lateinische Sprache unterlag, wie bereits angedeutet, auch der Variation auf diastratischer Ebene, was sowohl aus metasprachlichen Zeugnissen der Antike als auch an einigen wenigen sprachlichen Charakteristika festgemacht werden kann. Versucht man nun die Diastratik systematisch zu erfassen, so ist zunächst einmal das schichtenspezifische vom gruppenspezifischen Sprechen zu unterscheiden (zur Kritik v. supra), denn im Gegensatz zu den modernen Gesellschaften kann man für die Gesellschaftssituation der römischen Antike durchaus von ausgeprägten Schichten und dem zugehörigen Klassenbewußtsein ausgehen.235
Müller-Lancé (2006:53) geht von einer dreigeteilten Gesellschaft aus, die sich aus rechtelosen Sklaven (servi), den Freigelassenen (liberti) und den freien Bürgern (cives Romani) konstituierte, wobei letztere sich wiederum aus Plebejern und Patrizier zusammensetzten. Plebejer (plebeii, cf. plebs ‚Volk‘) und Patrizier (patricii) waren oft in einem Klientelverhältnis (clientela) gebunden, insofern eine patrizische Familie (gens) ihre politische Macht und gesellschaftliche Stellung durch die Bindung von Gruppen von Plebejern (und anderen Patriziern) zu festigen suchte.
Dies ist allerdings eine Vereinfachung der gesellschaftlichen Realität, die höchstens auf die Zeit der res publica anwendbar ist (plebs vs. nobiles), denn in der Kaiserzeit mit dem Wachsen des Imperiums verändern sich auch die gesellschaftlichen Strukturen. Doch auch schon in der wachsenden Republik differenzierte sich die anfängliche Dichotomie der Frühzeit zwischen Plebejern und Patriziern weiter aus, was zum einen mit der gesellschaftlichen Differenzierung und zum anderen mit den sich ändernden Rechtsverhältnissen zu tun hat – beide Aspekte sind prinzipiell zu trennen.
Die rechtliche Position der Sklaven blieb zwar während der Dauer des Imperiums grundsätzlich die gleiche, sie wurden als Eigentum (res) behandelt und unterlagen der potestas ihres Herrn, doch ihre soziale Stellung und Herkunft konnte dabei erheblich variieren. Auch wenn das Gros womöglich der Unterschicht zuzurechnen war, so ist beispielsweise davon auszugehen, daß die zahlreichen Sklaven, die der familia Caesaris angehörten und in der Verwaltung arbeiteten, teilweise wirtschaftliche Großbetriebe leiteten, als Ärzte oder in der Finanzverwaltung tätig waren, womöglich über Untersklaven (vicarii) geboten, auch über einen entsprechenden Bildungshintergrund verfügten (cf. Christ 2002:351–356). Aus ihrem rein rechtlichen Status, der sich durch Freilassung ja auch ändern konnte, ist deshalb per se noch kein Rückschluß auf ihre Sprache – falls sie überhaupt native speakers des Lateins waren – in diastratischer Hinsicht möglich.
Die Tatsache, daß die Gesellschaftsstruktur durchlässig war, zeigt sich an den Freigelassenen, deren Zahl bereits in der späten Republik hoch war, aber im Prinzipat nochmals anstieg. Die ehemaligen Sklaven wurden nach ihrer manumissio jedoch keine Vollbürger,236 da sie ihrem patronus weiterhin zu obsequium (Bewahrung des Respekt- und Treueverhältnis) und officium (z.B. konkrete operae im Haus bzw. Betrieb) verpflichtet blieben. Ähnlich wie bei den Sklaven sagt die rechtliche Stellung zunächst nichts über den Bildungshintergrund und die ehemalige soziale Schicht vor der Versklavung aus – falls jemand nicht im Sklavenstatus geboren wurde. Nicht wenige jedoch nutzten ihre Freilassung und versuchten, sozial aufzusteigen, zumal ihre Nachkommen dann als Freigeborene (ingenui) römische Vollbürger sein konnten, und standen dabei unter erheblichem Legitimationsdruck, was sie wie bei Juvenal (Saturae I, 26) oder Petron (Satyricon c.71) zum Gegenstand der Satire werden ließ. Hier wird dann der typische Aufstieg vom untersten plebs zum reichen homo novus auch mit den entsprechenden sprachlichen Defiziten parodiert (cf. Christ 2002:367–373).
Die römischen Bürger waren in ihrer Struktur ebenfalls nicht homogen, gab es doch schon in der späten Republik eine zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen Schichten, da die Bürger der nichtaristokratischen Klasse sich nicht mehr nur aus Kleinbauern, Kleinhandwerkern und Kleinhändlern wie in der Frühzeit zusammensetzten. Man unterschied auf dieser Ebene zwischen der plebs urbana und der plebs rustica, was aber nur einen Teil der Realität abbildete, denn einerseits veränderte sich die Wirtschaft und andererseits, mit der Ausdehnung des Bürgerrechtes auf die Bundesgenossen und andere Gruppen, differenzierte sich die Teilhabe an der res publica. Cives Romani wurden nämlich nicht nur die Bewohner Italiens, sondern auch regionale Führungseliten, ehemalige nicht-römische Legionäre, Kolonisten und Angehörige der Municipalaristokratie. Einen eigenen Stand konstituierten im römischen Staat die Senatoren (senatores) sowie die Ritter (equites), auch sie gehörten aber rechtlich zu den Cives Romani, bildeten jedoch aus soziologischer Perspektive die Oberschicht in Rom und belegten entsprechend einem mehr oder weniger bindenden cursus honorum die wichtigsten Ämter im Staat (cf. Christ 2002:378–385).
Den Großteil der Bewohner des römischen Reiches in der Kaiserzeit bildeten jedoch die nichtrömischen, aber freien Provinzbewohner (peregrini), zumindest bis sie 212 n. Chr. durch die Constitutio Antoniniana ebenfalls das römische Bürgerrecht erhielten. Ihre rechtliche Stellung hing (zuvor) auch davon ab, ob sie unter Umständen Bewohner eines römischen municipiums waren, einer colonia Civium Romanorum, einer colonia Latina bzw. eines municipium Latinum, einer civitas foederata (mit foedus aequum oder foedus iniquum), einer civitas sine foedere, einer civitas libera, einer civitas stipendiaria, einer civitas immunis, einer civitas sine suffragio oder einer civitas optimo iure. Das römische Recht bot verschiedene Facetten von gruppen- und personenspezifischen Rechtstellungen, was jedoch nicht immer mit Ansehen, Reichtum und Macht einherging, welche durchaus auch quer dazu verteilt sein konnten (z.B. reiche peregrine Händler in einer Stadt). Eine eigene Oberschicht bildete innerhalb einer Stadt die Munizipalaristokratie, die den ordo decurionum bildete und unter Aufbringung der notwendigen summa honoriaria die Ämter bekleidete (cf. Neue Pauly 1997 II:1224–1225, III:76–84; Christ 2002:373–374, 385–387).
Die Gesellschaftsstruktur im Imperium Romanum ist somit reichlich komplex, erst recht, wenn man die notwendige diachrone Perspektive hinzunimmt und nicht wie Müller-Lancé (2006:54) nur die Zeit der späten Republik betrachtet. Führt man sich die diversifizierte Gesellschaft des römischen Reiches und ihre inhärente Dynamik vor Augen,237 die zudem je nach Region variieren kann (urbane Zentren vs. entlegene rural geprägte Provinzen), so dürfte es wahrscheinlich sei, daß auch die Sprache entsprechend diastratisch ausdifferenziert war. Das Problem, warum nicht nur bei Müller-Lancé (2006), sondern auch bei Reutner (2014) und anderen meist „nur“ die Unterscheidung zwischen sermo plebeius und sermo vulgaris als Substandardvarietäten gegenüber dem sermo urbanus getroffen wird, ist vor allem die dünne Beleglage und reduzierte metasprachliche Dokumentation.
Neben der schichtenspezifischen Diastratik ist auch die gruppenspezifische Diastratik in Betracht zu ziehen, die in der lateinischen Sprache ebenfalls auszumachen war.
La société romaine était dotée d’une vaste gamme de métiers hautement diversifies. Il est naturel que chacun d’entre eux ait dispose d’un technolecte spécifique. (Seidl 2003:525).
Entsprechend der gesellschaftlichen Diversifikation und der Charakteristik bestimmter Gruppen kann man mit Seidl (2003:525) davon ausgehen, daß sich eigene Soziolekte für die unterschiedlichsten (Fach-)Bereiche der Kommunikation wie der Religion, der Landwirtschaft, der Verwaltung, der Rechtsprechung, dem Militärwesen, der Medizin oder der Architektur herausgebildet haben.
Müller-Lancé (2006:53) nennt zwei gruppensprachliche Bereiche, die nicht nur durch spezifische Lexik zu ermitteln sind, sondern die bereits die Zeitgenossen erfaßt und mit entsprechender metasprachlicher Begrifflichkeit gekennzeichnet haben. Dies ist einerseits die Soldatensprache (sermo castrensis bzw. sermo militaris) und andererseits die Sprache der frühen Christen. Beide sind nicht unbedingt schichtenspezifisch, da an diesen Gruppensprachen Personen bzw. Sprecher verschiedenster sozialer Herkunft partizipieren. Den für die christlichen Schriften typischen sermo humilis sieht Müller-Lancé (2006:58) eher diaphasisch als diastratisch.
Aus der Sicht der traditionellen Rhetorik (cf. Cicero, Quintilian) ist dem sicherlich beizupflichten; begreift man jedoch diesen Stil, der sich durch eine Syntax mit vorwiegend parataktischem Satzbau und zahlreichen Gräzismen (sowie einigen Hebraismen) auszeichnet, gerade ab der Spätantike als etwas typisch Christliches, so ist der gruppensprachliche Charakter doch ebenfalls recht deutlich. In diesem Kontext referiert dann sermo humilis zwar vorwiegend auf die medial schriftlichen Texte, könnte aber in einem modernen Verständnis durchaus auch auf die Mündlichkeit angewandt werden, z.B. bei Predigten. Löst man also den Begriff aus seiner frühen Interpretation der rhetorischen Stilebenen und legt man den Schwerpunkt auf die augustinischen Neubelegung (v. infra), so kann man ihn durchaus sinnvoll zur Kennzeichnung diastratischer Gegebenheiten verwenden, ohne der antiken Auffassung entgegenzustehen.238
In Bezug auf die Soldatensprache sind einige Ergänzungen zur Struktur der römischen Armee sinnvoll. Diese war prinzipiell den freien römischen Bürgern vorbehalten, Sklaven und Freigelassene wurden nur im Krisenfall mitherangezogen. Attraktiv war der Militärdienst vor allem als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, auch für Römer, aber in erster Linie für die Provinzialen, die dadurch am Ende der Dienstzeit, die in der Kaiserzeit zwischen 16 und 26 Jahren schwankte (je nach Dienstgrad und Bereich), das Bürgerrecht erwerben konnten. Aus diesem Grund waren Zwangsrekrutierungen eher selten und die im Prinzipat fortbestehende Wehrpflicht aus Zeiten der Republik wurde oft nicht eingefordert, da die Legion ausreichend Sold und Perspektiven bot. Der privilegierte Stand der Senatoren (ordo senatorius) und der der Ritter (ordo equester) besetzten in der Regel die Offiziersämter in der Armee und wechselten häufig, zumindest in den höchsten Rangstufen, d.h. bei den Tribunen (tribuni) und Legionskommandanten (legati). Kontinuität und Verbundenheit mit der Truppe gewährleisteten der meist dem Ritterstand zugehörige Lagerkommandant (praefectus castrorum) sowie die einzelnen Zenturionen (centuriones) und deren ranghöchster, der primus pilus. Es gab in der römischen Armee nicht nur eine vertikale Schichtung nach Dienstgraden, sondern auch eine horizontale nach militärischen Einheiten. So war die überkommene traditionelle Grundeinheit der römischen Wehr die aus Fußsoldaten bestehende Legion (legio), deren 4000–5000 Mann in Kohorten (cohortes), Manipel (manipuli) und Zenturien (centuriae) gegliedert waren. Sie bestand zunächst meist aus Angehörigen der plebs rustica, später dann auch zunehmend aus Provinzialen. Ab der Kaiserzeit wurde das Heer (exercitus) durch Hilfstruppenverbände (auxilia) verstärkt, die mitunter komplett aus ethnisch geschlossenen Einheiten bestanden, mit denen ein Klientelvertrag bestand, die im Laufe der Zeit dann aber durch andere Soldaten ergänzt wurden und nur noch den Namen beibehielten (z.B. cohors II Raetorum).239 Weiterhin gab es Reitereinheiten verschiedener Stärke (ala quingenaria, ala miliaria), gegliedert in turmae sowie gemischte Kavallerie- und Infanterieeinheiten (cohortes equitatae). In der Spätzeit etablierten sich am Limes zudem sogenannte Benfiziarierstationen mit Soldaten (beneficiarii) in Vertrauensstellung und eher polizeidienstlicher Funktion. Nicht den gleichen Stellenwert wie der Dienst in der Legion hatte der in der römischen Flotte, die im Wesentlichen aus Trieren bestand. Neben den Ruderern und Matrosen, die meist aus Provinzialen bestand, gab es die Decksoldaten, einen Kapitän (trierarchus) pro Schiff sowie den Kommandantenn (nauarchos), der über eine Flotilleneinheit (classis) gebot und zunächst oft ein qualifizierter Freigelassene war, später jedoch meist aus dem Ritterstand kam. Die Seestreitkräfte hatten demgemäß eine andere soziale Stratifikation als die Legion. Nicht zu vergessen ist auch, daß die römische Armee auch zahlreiche zivile Dienste verrichtete wie Landvermessung und Baumaßnahmen jeglicher Art (Wasserleitungen, Tunnel, Häfen, Lager), für die technische Spezialisten zur Planung und Ausführung nötig waren (cf. Christ 2002:410–423).
Die römische Armee spiegelt insofern ein Stück weit die komplexe Gesellschaftsstruktur wider, mit verschiedenen sozialen Schichtungen und Gruppierungen, Römern, Provinzialen und foederierten Fremden, war aber dahingehend etwas Besonderes, als sie eine Einheit bildeten mit starker Integrationskraft, ohne deshalb die Pluralität ihrer Partizipanten völlig zu homogenisieren.240
Es ist insofern deshalb wohl anzunehmen, daß die Soldatensprache eine Gruppensprache (cf. diakoinonisch, Kap. 3.1.3) war, an der prinzipiell alle sozialen Schichten partizipierten und dies vor allem anhand einer spezifischen Lexik deutlich wurde, darüberhinaus ist aber zu differenzieren, welchen gesellschaftlichen Status einzelne Subgruppen innerhalb des Militärs innehatten. Dies gilt vor allem bezüglich der höhergestellten Offiziere gegenüber der Masse der Legionäre oder der Hilfstruppen, aber auch innerhalb der einzelnen Einheiten konnten Unterschiede bestehen, wie Müller (2001) dies exemplarisch verdeutlicht:
Der sermo castrensis beispielsweise verband Caesar mit dem einfachen Soldaten der Auxiliartruppe, freilich bei großem Abstand zwischen der hochspezialisierten militärischen Fachdiktion des einen und der banalen kriegshandwerklichen Redeweise des anderen; überlagert wurde jedoch die punktuelle Gemeinsamkeit von der Zugehörigkeit des Aristokraten zum diastratischen Sprachniveau des sermo urbanus und der des unfreien miles zu einer günstigenfalls dem niederen sermo vulgaris zurechenbaren Ausdrucksebene. Das Beispiel macht überdies klar, daß auch Fachsprachen je nach Spezialisierungsgrad der Sprecher in sich gestuft waren (Müller 2001:275).
Bei Müller (2001:274) wird die Soldatensprache aufgrund der spezifischen Begrifflichkeit als Technolekt klassifiziert. Sicherlich sind die militärtechnische Fachtermini prägend, allerdings scheint es aber wohl eher so, daß mit sermo castrensis vor allem auf den Soldatenjargon in der mündlichen Alltagskommunikation abgehoben wird.
Weitere gruppensprachliche Differenzierungen sind die nach Alter sowie diejenige nach Geschlecht. Diese Tatsache, daß es solche diasystematisch erfaßbare Ausdruckweisen im Lateinischen gegeben haben muß, zeigen konkrete Hinweise bei Terenz und metasprachliche Kommentare von Cicero (De orat. III, 45 (12); 2007:330),241 die Rückschlüsse auf ein bestimmtes sprachliches Verhalten bei Frauen zulassen.242 Was das altersspezifische Sprechen anbelangt, so gibt es schon seit langem Studien zur Kindersprache, seit neuerer Zeit auch zur Seniorensprache und anderen Altersgruppen (cf. Müller 2001:275; Willms 2013:230).243
Insgesamt ist demgemäß davon auszugehen, daß das Lateinische als eine Sprache, die von zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen in den verschiedensten Regionen mit unterschiedlich tradierten Gesellschaftsstrukturen gesprochen wurde, im Hinblick auf die diastratische Ebene nicht viel weniger ausdifferenziert war als heutige internationale Standardsprachen. Nicht wenige dieser gruppensprachlichen Merkmale wurden bereits von den Zeitgenossen identifiziert und metasprachlich kommentiert bzw. terminologisch kategorisiert (v. supra). Gerade letzteres gilt zwar nicht für alle gruppensprachlichen Bereiche, dennoch ist deren Existenz mehr als wahrscheinlich.