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4.1.2.3 Die diaphasische Ebene

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Im Zuge der Betrachtung der Diaphasik geht Müller-Lancé (2006:55–57) auch der Frage nach, inwieweit hier die diamesische Dimension zu berücksichtigen wäre, und diskutiert die Anwendbarkeit der Kategorien von Söll (1985), also Konzeption und Medium, sowie die von Koch/Oesterreicher (2011), d.h. Nähe und Distanz. Dabei kommt er zu dem Schluß, daß dies womöglich schwierig einzuschätzen sei, ob allein ein reiner Medienwechsel wie im Französischen schon nachweisliche Auswirkungen auf die Versprachlichung habe oder ob im Lateinischen nicht immer auch die Ebene der Stilregister eine Rolle spielen würde (Müller-Lancé 2006:57). Entsprechend den in vorliegender Arbeit bereits dargelegten kritischen Überlegungen zur Möglichkeit der Integration der Söll’schen Kategorien in das System von Koch/Oesterreicher (v. supra) und der Tatsache, daß wir zwar einige Hinweise auf die Aussprachegewohnheiten der Römer haben, dies aber bei weitem nicht ausreicht, um voll umfänglich die medial und konzeptionell gesprochene Sprache zu charakterisieren, erscheint es sinnvoller, die diamesische Ebene als eigene Dimension im Coseriu’schen Diasystem auszuklammern. In Bezug auf historische Sprachformen ist es zwar unter Umständen erlaubt, aus einer überlieferten Schriftlichkeit vorsichtige Rückschlüsse auf eventuelle mündliche Realisierungen zu ziehen, die Rekonstruktion der kompletten Ebene der Mündlichkeit bleibt aber hoch spekulativ.

Konzentriert man sich auf die sprachlichen Register innerhalb der diaphasischen Ebene,244 so ist für eine erste Orientierung und Kategorisierung die Perspektive der traditionellen Rhetorik hilfreich. Diese unterscheidet prinzipiell drei Ausdrucksweisen bzw. Stilarten (genera dicendi), und zwar den niederen Stil (genus subtile oder genus humile), den mittleren Stil (genus mediocre) und den hohen Stil (genus sublime oder genus grande). Diese drei Arten der Redeweise werden dabei den entsprechenden Absichten der Kommunikation zugeordnet, wobei für die Belehrung (docere) das genus humile geeignet sei, für die Unterhaltung (delectare) das genus mediocre und für die Rührung (movere) das genus grande (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:273). Diese kanonisierte Form der Unterscheidung von Sprachregistern in Anwendung je nach Kommunikationssituation gibt dennoch Hinweise auf Stilebenen bzw. diaphasische Register, über die innerhalb der lateinischen Sprache die Sprecher verfügen konnten.245 Hinzu kommt der bereits in der Rhetorica ad Herennium belegte Begriff des cotidianus sermo (4, 14, 2) oder der consuetudo cotidiana (4, 17, 22) und des sermo vulgaris (4, 69) sowie der bei Cicero verwendete Terminus des sermo familiaris (Cic. Caecina orat. 52, 2), der jedoch keine wesentliche Fortsetzung findet. Des Weiteren ist für den Superstandard, also die sehr gehobene Sprache, der auch diatopisch markierte Begriff des sermo urbanus in Betracht zu ziehen sowie der mit einer Konnotation von Norm und Korrektheit versehener Begriff des sermo latinus. Angesichts dieser metasprachlichen Zeugnisse von Bezeichnungen für verschiedene stilistisch bedingte Sprechweisen, die aufgrund der dominanten Stellung der Rhetorik viel zahlreicher sind als diatopische oder diastratische Markierungen, stellt sich nun die Frage, inwieweit hiermit gesellschaftliche Realitäten abgebildet werden und wenn ja welche.

Um Aussagen über verschiedene Ebenen der gehobenen oder niederen Sprechweise treffen zu können, sei zunächst der unmarkierte Gebrauch definiert. Müller (2001:209–213), der die fragliche Begrifflichkeit in der Rhetorica ad Herennium, bei Cicero, Horaz und Quintilian untersucht, sieht in dem bei Cicero und anderen späteren Autoren (nicht Quintilian) verwendeten sermo usitatus (Cicero, Brut. 259 (74); 1990:196) eine Bezeichnung für eine Standardvarietät bzw. den allgemeinen Sprachgebrauch. Damit einher gehen die Begriffe usus und consuetudo, die nicht selten weitgehend deckungsgleich246 verwendet werden und in der ein oder anderen Form bei den meisten Rhetorikern bzw. in sprachtheoretischen Betrachtungen vorkommen. Insbesondere bei Quintilian wird dabei deutlich, daß auch die Norm sich am Gebrauch ausrichtet, der als solcher durchaus positiv konnotiert ist (cf. Müller 2001:211–212). Ebenfalls zur Bezeichnung eines allgemein üblichen Sprachgebrauchs wurde der Begriff des sermo communis verwendet. Während bei Varro mit communis vor dem Hintergrund einer consuetudo recta vs. einer consuetudo depravata bzw. mala auf den Sprachgebrauch des maßgeblichen Teils der Bevölkerung bzw. der periti referiert wird und dieser somit eher als gehoben zu charakterisieren ist, stuft Cicero die consuetudo communis als usuellen Standard unterhalb des Ideals des sermo urbanus ein. Quintilian, der wohl erstmals diese Ebene als sermo communis bezeichnet, zielt ähnlich wie Varro auf eine Sprechweise der eruditi. In der Spätantike bei den christlichen Autoren umfaßt diese Bezeichnung jedoch den Sprachgebrauch des gesamten Volkes (cf. Müller 2001:215–217).

Eine diaphasisch neutrale, unmarkierte Redeweise zu definieren, ist auch für lebende Sprachen nicht immer ganz einfach. Geht man jedoch davon aus, daß im Lateinischen ähnlich wie in seinen heutigen Nachfolgesprachen sich der stilistisch unmarkierte Standard prinzipiell am Sprachgebrauch der oberen Gesellschaftsschicht in eher informeller Situation orientiert – schriftlich tendenziell höher verortet als mündlich (cf. Koch/Oesterreicher supra) –, so dürfte dies mit der antiken Interpretation des sermo communis recht adäquat umrissen sein, der mit dem sermo usitatus korreliert, mit dem jedoch mehr der normative Aspekt im Vordergrund steht. Die Tatsache, daß am sermo communis in einer späteren Zeit eine breitere Bevölkerungsschicht partizipiert, ist womöglich den gesellschaftlichen Veränderungen geschuldet, die zwar keine Abschaffung von Eliten bedingte, aber womöglich ein Partizipieren breiterer Bevölkerungsschichten an der römischen (Stadt-)Kultur:

Die Romanisierung des Reichs und die als deren Konsequenz anzusehende Übertragung des römischen Bürgerrechts an immer mehr und schließlich fast alle Reichsbewohner führte zu einer starken Homogenisierung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Überall im Reich wurde nun als Muttersprache lateinisch bzw. griechisch gesprochen; der Götterhimmel war seiner Mannigfaltigkeit und Gebrochenheit in jedem Landstrich gleich oder ähnlich; das Bild der Städte wurde uniformer, ebenso die benutzten Gerätschaften, die Festlichkeiten und die Bibliotheken. (Bleicken 1994:45)

Durch diese Homogenisierung der Gesellschaftsschichten ergibt sich auf sprachlicher Seite eine weniger deutliche Trennung von Diaphasik und Diastratik.

Versucht man sich von dieser Ausgangsbasis den Substandardregistern zu nähern, so sind in der antiken Literatur Begriffe wie sermo cotidianus, sermo familiaris, sermo humilis und sermo vulgaris in Betracht zu ziehen bzw. potentiell zu hierarchisieren.

In der Rhetorica ad Herennium werden Bezeichnungen wie cotidiana locutio, cotidianus sermo oder consuetudo cotidiana verwendet, bei Cicero unter anderem sermo cotidianus, usus cotidianus und consuetudo sermonis cotidiani und bei Quintilian, der ebenfalls terminologisch variiert, wird der alltägliche Sprachgebrauch präferentiell mit cotidianus sermo charakterisiert. Müller (2001:167–178), der die Verwendung der Begrifflichkeiten vergleichend analysiert, kommt zu dem Schluß, daß es sich hierbei um ein Register handelt, welches unterhalb des Standards auf der ersten Stufe des Substandards anzusiedeln ist. Die Einschätzungen der einzelnen Rhetoriker sind dabei, wie Müller darlegt, nicht völlig kohärent. Der Anonymus der ersten Rhetorica sieht vor dem Hintergrund seiner Stilanalyse das niedrigste genus in zumindest partieller Korrelation mit der Alltagssprache, charakterisiert beispielsweise durch Wörter, die bei der Mehrzahl der Sprecher frequent sind, also der consuetudo cotidiana entsprechen. Cicero betont zudem die notwendige Aktualität der Lexeme, d.h. sein cotidianus sermo soll vor allem den zeitgenössischen Sprachgebrauch widerspiegeln und hat u.a. die Funktion innerhalb der öffentlichen Gerichtsrede Tatbestände und Sachverhalte klar und deutlich zum Ausdruck zu bringen. Er sieht dieses Stilregister aber auch als angemessen für die Textgattung des Briefes (Epistulae ad familiares, 9, 21). Quintilian betont hingegen, daß die alltägliche Redeweise nicht ausreiche, rhetorische Zwecke zu erfüllen. Gemeinsamkeiten bezüglich der Charakterisierung eines sermo cotidianus sind auch unter Einbeziehung späterer metasprachlicher Zeugnisse darin zu sehen, daß es um einen schlichten Stil geht, ohne ornatus, mit einer knappen Satzgestaltung und gängigem Wortschatz, so daß eine allgemeine Verständlichkeit gewährleistet wird.

In ähnlicher Funktion wie sermo cotidianus wird von Cicero der Terminus sermo familiaris eingeführt, allerdings mit Betonung auf dem engen Kontakt zwischen den Kommunikationspartnern in Anlehnung an lat. familia, die römische Hausgemeinschaft. Im Weiteren bleibt die Verwendung dieses Begriffs jedoch marginal, dabei aber weiterhin mit der Konnotation der Nähe und Vertrautheit belegt (cf. Müller 2001:179–182).247

Der sermo humilis erscheint als mehr oder weniger fest umrissenes Konzept erstmals bei Cicero, der allerdings im Rahmen seiner rhetorischen Abhandlungen (Orator, De oratore, Brutus) in seinen Bezeichnungen nicht konsequent ist. Eindeutig handelt es sich dabei in Variation mit Beschreibungen wie tenuis, subtilis oder calidus um die Charakterisierung der untersten Stilebene der genera dicendi bzw. figurae orationis. In diesem Kontext ist der sermo humilis nicht unbedingt negativ konnotiert, hat er doch seinen festen Platz im Gefüge der Stilarten und ihren je spezifischen Anwendungen. Die davon unabhängige Verwendung von humilis bezeichnet hingegen eine niedrige und ärmliche Redeweise. Letztere Bedeutung übernimmt im Wesentlichen auch Quintilian, der im Gegenzug humilis nicht als Teil der drei Sitilregister sieht (genus subtile, genus medium, genus grande) und damit den Antagonismus von Cicero vermeidet. Eine dezidierte Aufwertung des sermo humilis ist seit Augustinus zu verzeichnen, der in Anlehnung an Cicero zwar ebenfalls drei Stilarten entwirft (submisse, temperate, granditer), jedoch deren Anwendung nicht abhängig vom darzustellenden Stoff macht. Ihm geht es allein um die Vermittlung der doctrina christiana, eine Abstufung ist nicht nötig, was die Regeln der Rhetorik und des situationsbedingten Sprechens völlig neu definierte.

Für das Lateinische der christlichen Autoren hat Augustinus damit die aptum-Regel der Rhetorik und Poetik außer Kraft gesetzt. Statt des Gebots, das Stilniveau dem Gewicht des Stoffes und dem Rang der zur Sprache kommenden Person anzupassen, ging seine Lehre zur Forderung über, das Sprachniveau allein im Hinblick auf den beabsichtigten Publikumseffekt zu bestimmen und zu variieren. Das stilästhetische Prinzip hatte hinter dem stilpragmatischen, also hörer- und leserorientierten, zurückzutreten. Für die Gesamtarchitektur der lateinischen Sprache ergab sich eine folgenreiche Neubewertung. Der bis dahin selbstverständliche Prioritätsanspruch des gehobenen Lateins über die einfacheren Varietäten war fortan in der christlichen Welt aufgehoben. (Müller 2001:113)248

Diese Neuorientierung hängt auch damit zusammen, daß die Sprache der Bibel nicht den üblichen gattungsbedingten Registern gehorchte. Vor diesem Hintergrund erfährt der sermo humilis eine Aufwertung im Sinne eines klaren unprätentiösen Stils, der von jedem verstanden wird und damit den obersten Zweck der christlichen Autoren, den der Verständlichkeit, am ehesten erfüllt (cf. Müller 2001:97–104, 111–116).

Die aus heutiger Sicht wohl prominenteste Stilmarkierung ist der sermo vulgaris. Müller-Lancé (2006:58) führt diese Ebene jedoch nicht als solche an, sondern behandelt diese diaphasisch-diastratische Einordnung unter einem Sonderkapitel zum Vulgärlatein. Für eine Charakterisierung der Architektur der lateinischen Sprache soll aber hier genau nicht eine Vermischung mit der Problematik dieses modernen, daraus abgeleiteten Begriffs stattfinden, sondern der Fokus soll auf der antiken Sprachsituation liegen mit – soweit möglich – zeitgenössischer Terminologie, um andere Implikationen zu vermeiden (zur Problematik ‚Vulgärlatein‘ v. infra).

Bereits bei Plautus sind laut Müller (2001:118–120) die frühesten Belege zu vulgatus zu verzeichnen und schon dort ist die Konnotation der als volgata verba bezeichneten Lexeme negativ, und zwar in dem Sinne von zwar verbreitet, aber unspezifiziert niederen Ursprunges (cf. dt. gemein). In der Rhetorica ad Herennium, in der erstmals die Wendung vulgaris sermo zu finden ist (4, 69), wird damit die allgemeine Sprache, die der breiten Masse, von derjenigen der Redner und Dichter abgegrenzt. Bei Cicero schließlich häufen sich verschiedene Kennzeichnungen in Zusammenhang mit vulgaris, so beispielsweise vox vulgaris, oratio vulgaris, vulgaris sermo, verbum vulgi oder vulgare orationis genus. Semantisch wird dabei meist auf das Allgemeine, Verbreitete, Übliche referiert, d.h. vielleicht nicht wertneutral, aber akzeptabel, während mit vulgaritas eindeutig nicht hinnehmbares niedriges Sprachniveau thematisiert wird – Cicero bleibt hier gewissermaßen ambig. Quintilian folgt ihm hier weitgehend, so daß vulgaris im Rahmen der rhetorischen Notwendigkeiten durchaus auch positiv konnotiert sein kann. Erst ab Gellius beginnt eine überwiegend negative Verwendung der von vulgus abgeleiteten Begriffe, wobei zunehmend die ursprünglich eindeutig diaphasische Bezeichnung eine diastratische Dimension bekommt und in die Nähe des sermo plebeius gerückt wird, was auch mit den in der späten Kaiserzeit sich verändernden gesellschaftlichen und sprachlichen Bedingungen zusammenhängt,249 so daß nur noch zwischen normiertem Standard im Sinne einer latinitas und dem nicht-konformen Sprechen unterschieden wurde (cf. Müller 2001:155–160).

Das Konzept der latinitas im Sinne einer überprüfbaren Sprachrichtlinie ist bei Varro, überliefert durch Diomedes (fragm. gramm. I, 439, 17; GLK 1857 I:439), näher erläutert, und zwar mit den Kriterien natura, analogia, consuetudo und auctoritas und auch bei Quintilian (Inst. orat. I, 6, 1; 2001 I:160–184), der als Kriterien ratio (analogia u. etymologia), vetustas, auctoritas und consuetudo zugrunde legt (cf. Siebenborn 1976:53). Das sich ab dem 2. Jh. v. Chr. konstituierende Sprachideal der latinitas, beruhend auf einem Kanon von auctores, den classici, grenzt sich gegenüber diatopischen Varietäten (cf. sermo rusticus, agrestis) und diastratisch niedrig markierten Varietäten ab (cf. sermo vulgaris, cotidianus, familiaris, plebeius) und ist gleichzeitig gekoppelt an ein gesellschaftlich als vorbildlich angesehenes Verhalten (cf. recte vivere) und Denken (cf. recte sentiendi et cogitandi), was sich letztlich auch auf die Bereiche der Philosophie (cf. vere loqui), der Rhetorik (cf. bene loqui) und der Grammtik (cf. correcte loqui) ausdehnt; d.h. Teil eines gesamtgesellschaftlichen Ideals ist (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:401–403).

Im Bereich der Stilregister oberhalb des Standards sind aus der antiken metaprachlichen Reflexion im Wesentlichen zwei Markierungen überliefert, und zwar die des sermo urbanus sowie die des sermo latinus mit den jeweils dahinterstehenden Konzepten der urbanitas und der latinitas. Beides sind keine diaphasischen Einordnungen sui generis, sondern je anderer Provenienz. Die Bezeichnung sermo urbanus ist erstmals bei Livius belegt, und zwar im Sinne der diatopischen Abgrenzung gegenüber rusticus, d.h. es wird auf das stadtrömische Leben, der damit zusammenhängenden Kultur und der entsprechenden sprachlichen Ausdrucksweise abgehoben (cf. die urbs ‚Stadt‘ schlechthin: Rom). Dies bedeutet auch, daß diese Kennzeichnung von Anbeginn neben einer rein lokalen Komponente eine dezidiert positive Konnotation hatte, und zwar im Sinne eines gehobenen Registers. Bei Cicero gewinnt letzterer Aspekt zunehmend an Gewicht, wobei er beispielsweise vage von einem urbanitas color spricht, ohne dies an sprachlichen Einzelelementen festzumachen; es sei jedoch ähnlich dem des ἀττικισμὸς im Griechischen. Quintilian schließlich schärft hier das Verständnis, indem er die Redeweise nicht nur mit der stadtrömischen Bevölkerung in Verbindung bringt, sondern auch mit entsprechender Bildung der Sprecher, so daß der sermo urbanus zumindest in partieller Korrelation mit der conversatio doctorum steht. Eine ursprüngliche diatopische Markierung verschiebt sich hier demgemäß zu einer diastratisch-diaphasischen, ohne die lokale Komponente ganz zu verlieren, denn im Laufe der Zeit überträgt sich das Konzept der urbanitas von Rom auch auf die Metropolen der Provinz, wobei die Abgrenzung zur Sprechweise auf dem Land (rusticus) erhalten bleibt.250 Stilistisch wird mit dem sermo urbanus somit letztendlich das gute, (haupt)städtische Sprechen ausgedrückt, welches sich von der mit sermo latinus gekennzeichneten Redeweise dadurch unterscheidet, daß bei letzterer eher die regelkonforme Korrektheit im Vordergrund steht und bei der als urban gekennzeichneten Redeweise, die damit verbundene Eleganz und Kultiviertheit zum Ausdruck gebracht wird (cf. Müller 2001:219–230; Lüdtke 2019:450–452).

Es stellt sich nun die Frage, wie diese vornehmlich im Zuge der antiken Rhetoriktheorien entstandenen Begrifflichkeiten zu bewerten sind. Dabei ist prinzipiell zu berücksichtigen, daß die Verfasser der Rhetoriken oder andere Autoren, die metasprachliche Betrachtungen anstellten, weniger die Beschreibung der sprachlichen Wirklichkeit zum Ziel ihrer Abhandlungen hatten, sondern die jeweilige Sprechweise auf ihre Funktionalität hin für öffentliche Reden untersuchten. Nichtsdestoweniger ist darin in gewissem Grad ein Spiegelbild tatsächlicher diaphasischer Ebenen zu erkennen. Allerdings stellt sich wie bei der Beschreibung moderner, lebender Sprachen auch das grundsätzliche Problem der Abgrenzung von diaphasischer und diastratischer Ebene, da diese eng zusammenhängen. Zusätzlich kommt angesichts der Ausdehnung des römischen Reiches der diatopische Aspekt zum Tragen. Auch dies ist grundsätzlich nicht anders als bei aktuellen, diversifizierten Sprachen, allerdings mit dem Unterschied, daß die Standardsprache aufgrund geringerer Verbreitung von Schulbildung, niedrigerer Alphabetisierungsrate und dem Fehlen der modernen Medien als Katalysator von Standardisierungsprozessen weniger präsent war als heutzutage bei den großen Nationalsprachen. Es bleibt als Parallele zu heute aber auch die Schwierigkeit der Bestimmung der Anzahl der diaphasischen Ebenen, die oft nicht scharf getrennt voneinander sind. Versucht man nun die Ergebnisse aus der metasprachlichen Analyse von Müller (2001) auf eine mögliche Sprachrealität anzuwenden, so scheint es neben einem Standard, der als sermo usitatus oder communis gekennzeichnet ist, zumindest zwei Substandardregister gegeben zu haben, d.h. einerseits den sermo familiaris oder sermo cotidianus und andererseits niedrig markierter den sermo humilis oder sermo vulgaris. Im Bereich des Superstandard ist mit sermo urbanus oder sermo latinus der gehobene Sprachgebrauch anzusetzen. Es ist wahrscheinlich, daß sich auch der schriftliche und der mündliche Gebrauch nochmal unterschieden, ganz nach dem von Koch/Oesterreicher (2011:12) formulierten Diktum der jeweiligen Affinitäten von phonischem Code zu Nähesprache und graphischem zu Distanzsprache (v. supra).

Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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