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3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung

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Die methodische Vorgehensweise zur Analyse der frühneuzeitlichen Traktate, die sich mit der Frage nach der Art des Lateins in der Antike auseinandersetzen, soll in vorliegender Arbeit zwei Facetten umfassen (cf. Kap. 1.4). In den vorherigen Kapiteln wurde dazu das Inventar der aktuellen varietätenlinguistischen und soziolinguistischen Begrifflichkeiten vorgestellt und diskutiert, mit deren Hilfe die zu untersuchenden Texte aus einem modernen sprachwissenschaftlichen Blickwinkel heraus analysiert werden, zum Teil unter bewußter Ausblendung zeitgenössischer Implikationen der jeweiligen Epoche (cf. Kap. 3.1.1–3.1.3).

In vorliegendem Kapitel soll hingegen die zweite Perspektive näher dargelegt werden, die dazu dient, die zuvor durch die Applikation moderner Termini und Konzepte entkontextualisierten Traktate dann in ihrem geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu rekontextualisieren. Ziel ist es also, im Rahmen einer traditionellen philologischen Analyse die literarischen, geschichtlichen und philosophischen Bezüge, die den einzelnen Texten immanent sind, in Bezug auf die hier relevante Fragestellung adäquat herauszuarbeiten. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß nur eine möglichst exakte Verortung eines Textes in seinem geistes- und ideengeschichtlichen Kontext die Möglichkeit eröffnet, die im vorliegenden Fall angestrebte Nachzeichnung einer sich verändernden Vorstellung über das Latein der Antike angemessen zu erfassen. Die Kontrastierung mit der modernen sprachwissenschaftlichen Perspektive dient dabei der Schärfung des Blicks auf die untersuchte Fragestellung, so daß auf diese Weise die Ursprünge und frühen Ansätze aktueller sprachgeschichtlicher Erkenntnisse besser herauspräpariert werden können.

Im Rahmen dieser zweiten Sichtweise auf die hier zu untersuchenden Traktate, in der wie eben dargelegt der Text in seinen historischen Bedeutungszusammenhang eingebettet werden soll, sind die Verfahren der Hermeneutik ein wesentlicher Bestandteil. Dabei sei Hermeneutik ganz allgemein als „Theorie und Methodik […] des Verstehens, Interpretierens und Anwendens von Texten“ (Zabka 2007:313) verstanden.

Ziel der Erkenntnis ist es, einen kohärenten Bedeutungszusammenhang des Interpretationsgegenstands zu bestimmen oder das Fehlen eines solchen Zusammenhangs kohärent zu erklären. […]

Als eine Theorie und Methodik des historischen Fremdverstehens zielt die Hermeneutik auf die Rekonstruktion jener Bedeutungen, die einem Text im Kontext seiner Entstehung zukamen. (Zabka 2007:313)

In dieser Definition des hermeneutischen Grundgedankens ist für vorliegende Zielsetzung vor allem der zweite Teil relevant, insofern das Anliegen der Untersuchung die Rekonstruktion einer geistesgeschichtlichen Entwicklung darstellt, die anhand ausgewählter frühneuzeitlicher Traktate sichtbar gemacht werden soll.

Im Folgenden seien einige Aspekte traditioneller Modelle und Konzepte der Hermeneutik, die für das hier angestrebte Vorgehen von Relevanz sind, herausgegriffen und vorgestellt.128 Der Ausgangspunkt der modernen Textanalyse- und interpretation ist der heutigen communis opinio folgend die Hermeneutik Friedrich Schleiermachers (1768–1834), die in Bezug auf die zuvor von der hermeneutica sacra und der hermeneutica profana geprägten Zweiteilung der theologischen und juristischen Perspektive einen Neuanfang markierte.129 Dabei war der Ansatz Schleiermachers insofern neu, als er das Verstehen an sich sowie die Auslegung als Dreh- und Angelpunkte eines Textverständnisses formulierte und problematisierte (cf. Geisenhanslüke 2004:44; Rusterholz 2005a:113).130

Für die hier vorzunehmende Textanalyse bedeutet dies, daß die Kunst des Verstehens darin liegt, die zur Verfügung stehenden Schriftzeugnisse hinsichtlich ihrer sprachlichen Eigenart, ihrer Zielsetzung und ihrer geistesgeschichtlichen Verankerung entsprechend einzuordnen und nur vor diesem Hintergrund vorsichtige Schlüsse über das darin ausgedrückte Denken zu ziehen bzw. die dahinterstehenden Ideen und Vorstellungswelten zu rekonstruieren.

Ein weiterer wichtiger Aspekt hinsichtlich des vorliegenden Anliegens findet sich in den Schriften Wilhelm Diltheys (1833–1911). Die von Dilthey entwickelte Hermeneutik basiert zunächst auf den theoretischen Ausführungen Schleiermachers, geht aber darüber hinaus. Er erweitert beispielweise die „Kunst des Verstehens“ zu einer allgemeinen Erkenntnistheorie, zu einer „methodischen Auseinandersetzung mit Gegenständen der Kultur“ (Rusterholz 2005a:119). In Bezug auf schriftliche Äußerungen, die ein Teil davon sind, präzisiert er seine Vorstellung eines methodisch angelegten Erkenntnisprozesses als „kunstmäßige[s] Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen“, welches er wiederum als „Auslegung oder Interpretation“ (Dilthey 1990:319) benannt haben möchte. Diese schriftlich fixierten Äußerungen, vornehmlich in Form von Literatur (aber nicht nur), sind Ausdruck des menschlichen Seins und Schaffens; der Zugang erfolgt dabei über die Sprache.131

Es soll nun eine letzte Anleihe bei der „klassischen“ Hermeneutik vorgenommen und diesbezüglich einige Überlegungen aus den Schriften Hans-Georg Gadamers (1900–2002) dargelegt werden. Gadamers Blick auf das Verstehen von Texten bzw. von Äußerungen im Allgemeinen ist von einem auf Martin Heidegger (1889–1976) zurückgehenden Wahrheitsanspruch geprägt, d.h. Anliegen ist es, „eine Erfahrung von Wahrheit auszumachen, die speziell in der Kunst zutage tritt“ (Geisenhanslüke 2004:54), um so die Geisteswissenschaften im Vergleich mit den Naturwissenschaften entsprechend aufzuwerten. Schlüssel für das Verstehen ist dabei wiederum die Sprache, wobei es ihm vorrangig nicht rein um das Verstehen geht, sondern um Verständigung.132 Basis ist deshalb in erster Linie die lebendige Rede, die schriftlichen Erzeugnisse müssen deshalb sozusagen erst wieder zum Sprechen gebracht werden, denn die „Urszene des Verstehens ist das Gespräch“ (Watzka 2014:213). Zentraler Punkt der Hermeneutik Gadamers ist der Aspekt der Historizität im Verstehen (cf. Gander 2011:93).133 Dabei ist hervorzuheben, daß die von ihm angesprochenen Horizonte nicht im eigentlichen Sinne verschmelzen, sondern daß es unter Berücksichtigung von Traditionsprozessen darum geht, einen Gegenwartshorizont von anderen historischen Horizonten zu isolieren. Dieser kann jedoch nicht für sich bestehen, sondern nur im Kontext der anderen bzw. aller, die es als Rezipient immer wieder neu zu bestimmen gilt (cf. Rusterholz 2005a:126).134

Aus den bisher angeführten Ausführungen Schleiermachers, Diltheys und Gadamers sind deshalb folgende hier zentrale Elemente herauszugreifen: Ausgangspunkt der Untersuchung bilden schriftliche Zeugnisse, die wiederum Gedankengänge ihrer Autoren widerspiegeln. Um nun wie für vorliegende Untersuchung erstrebt, die Vorstellungswelt einer vergangenen Zeit zu rekonstruieren, ist es nötig, bei der Untersuchung der zur Verfügung stehenden Texte die historischen Implikationen der Epoche zu berücksichtigen und bei der Interpretation und Auslegung die Schlüsselfunktion der Sprache dahingehend in Betracht zu ziehen, daß die Diskrepanz zwischen je unterschiedlich versprachlichtem Text und daraus ableitbaren Gedankengängen bzw. erschließbaren Vorstellungen und Konzepten berücksichtigt wird. Dies bedeutet letztendlich vor allem Vorsicht bei den interpretatorischen Schlußfolgerungen aus dem vorhandenen Textmaterial obwalten zu lassen und dabei alle zeitgeschichtlichen Implikationen möglichst adäquat einzubeziehen.

An diesem Punkt trifft die Hermeneutik, die nicht selten literarische Texte im Fokus hat, also Texte mit einem ästhetischen Anspruch und einer entsprechenden, dezidierten Wirkungsabsicht, auch auf die Geschichtswissenschaft, die ebenfalls an der Auslegung von Schriftzeugnissen interessiert ist.135 Historiographische Texte dienen zwar dazu, historische Ereignisse und Abläufe entsprechend der Wahrheit darzustellen (Simon 1996:277), so der grundsätzliche Anspruch, nichtsdestoweniger ist es auch möglich, diese als literarische Erzeugnisse im weiteren Sinne (d.h. Schriftzeugnisse mit spezifischen Inszenierungsstrategien und Kommunikationsabsichten) mit hermeneutischen Methoden zu beleuchten oder wie es Simon (1996:277) prägnant formuliert: „Historiographie ist Literatur, also der Literaturgeschichte und -kritik zugänglich […].“136 Die Wechselwirkung zwischen literaturwissenschaftlichen hermeneutischen Methoden und der Perspektive des Historikers besteht demnach darin, daß der zu untersuchende Text einerseits als sprachliches und damit in sensu largo literarisches Produkt zu sehen ist, und andererseits als ein geistesgeschichtliches, welches in einen entsprechenden Diskurs eingebunden ist, der wiederum den Zugang zu historischen Fakten ermöglicht (soweit objektivierbar).137

Dies ist für vorliegende Untersuchung insofern relevant, da aus den Traktaten des Korpus, die ja mit je unterschiedlichen Zielsetzungen (literaturtheoretische, historiographische, sprachtheoretische, etc.) konzipiert wurden und keine literarischen Produkte im engsten Sinne sind, der jeweilige Kenntnisstand in der Debatte um das antike Latein herausgelesen werden soll, d.h. als historische Fakten eines Diskurses zu rekonstruieren ist.

Anschließend an diese kursorischen Ausführungen zur Hermeneutik, die in erster Linie dem Traditionsstrang der traditionell verstandenen Philologie zuzurechnen ist, aber auch in anderen Disziplinen gewinnbringend Anwendung findet,138 sollen nun die disiecta membra der Literatur- und Sprachwissenschaft wieder zusammengeführt werden und zusätzlich Aspekte der Nützlichkeit dieser Vorgehensweise auch für die linguistische Analyse herausgestellt werden.139

Auf bestimmte Konvergenzen beider Fachdisziplinen hat auch Leo Spitzer (1887–1960) hingewiesen, der sich in seinen Schriften oft sowohl mit literaturwissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt hat als auch mit solchen der schwer einzuordnenden Stilistik. In seinem erstmals auf Englisch erschienen Buch Linguistics and Literary History (1948) gibt er in seinem einleitenden Aufsatz einige wichtige, eher praxisorientierte Leitgedanken zum Umgang mit literarischen Texten.

Warum behaupte ich so nachdrücklich, daß es unmöglich ist, dem Leser eine schrittweise Anleitung zum Verständnis eines Kunstwerks an die Hand zu geben? In erster Linie, weil der erste Schritt, von dem alles abhängen kann, nie im Vorhinein geplant werden kann: er muß schon stattgefunden haben. (Spitzer 1969:31)

Im Weiteren präzisiert Spitzer (1969:31) diesen ersten Schritt, der darin bestehen sollte, daß man über ein bestimmtes Detail eine Erkenntnis gewinnt, sodann diese mit dem gesamten literarischen (Kunst)Werk in Relation setzt, dazu eine Theorie konzipiert und aus dieser Konstellation heraus eine bestimmte Fragestellung an den Text heranträgt. Voraussetzung ist dabei nicht nur eine gewisse Erfahrung, Begabung und ein methodisches Vorgehen, sondern auch ein wiederholtes Lesen. Die Untersuchung eines Textes ist dabei von einer gewissen Zirkularität geprägt, denn erst wenn für einen bereits einen Zugang besteht, kann man weiteren bzw. tieferen Zugang erlangen, was er tautologisch dahingehend synthetisiert, „daß Lesen wirklich bedeutet, gelesen zu haben, und daß Verstehen bedeutet, verstanden zu haben“ (Spitzer 1969:32).140

Ein anderer wichtiger Hinweis Spitzers in Bezug auf das hermeneutische Vorgehen ist in der Mahnung zur Vorsicht bei der Analyse verschiedener Kunstwerke zu sehen, da die Verschlüsselung durch die Sprache eine je spezifische darstellt.

Der Grund dafür, daß der Schlüssel zum Verständnis nicht mechanisch von einem Kunstwerk auf das andere übertragen werden kann, liegt in der künstlerischen Ausdrucksweise selbst. (Spitzer 1969:33)

Dieser Gedanke ist insofern von Belang, als bei einer Analyse jeder Text und vor allem Texte verschiedener Produzenten immer wieder auf die Art ihrer Zugänglichkeit hin befragt werden müssen oder konkreter ausgedrückt: Ist die applizierte Methode in vorliegendem Fall noch valide oder womöglich zu variieren?

Spitzers Ausführungen sind dabei unabhängig davon zu sehen, ob die Frage einen eher literaturwissenschaftlichen oder sprachwissenschaftlichen Hintergrund hat, und somit für vorliegende Untersuchung in jedem Fall von Relevanz. Die Erarbeitung einer Fragestellung, die nicht ohne vorheriges Sich-Auseinander-Setzen mit dem schriftlichen, künstlerischen Produkt – dazu zählt auch ein Traktat – möglich ist, soll hier genauso Beachtung finden wie die Berücksichtigung der sprachlichen (bzw. stilistischen) Implikationen der je einzelnen Texte, die unter Umständen eine andere Herangehensweise erfordern könnten.

Zuletzt sei nun auf den bereits mehrfach formulierten (cf. Kap. 1) zentralen Aspekt der hier geplanten analytischen Methode eingegangen, nämlich auf die Rekontextualisierung. Diesen Terminus verwendet Oesterreicher (1998:21–22) mit Rückgriff auf Fleischman (1990:37) als Schlüsselbegriff,141 um auf die Bedeutung der notwendigen Rekonstruktion des Kommunikationsraumes (bzw. des Produktions- und Rezeptionskontextes), in dem ein historischer Text einst funktionierte, hinzuweisen. Seine Herangehensweise ist vor dem Hintergrund des von ihm mitentwickelten Konzeptes von Nähe-Distanz zu sehen (cf. Koch/Oesterreicher 2011), so daß für ihn die zentrale Frage zunächst lautet, welche Kommunikationsbedingungen bei einem bestimmten Text anzusetzen sind (cf. Kap. 3.1.1). Jeder Diskurs und jeder Text ist eingebettet in einen bestimmten Handlungszusammenhang mit wiederum spezifischen Kommunikationsbedingungen wie ‚Grad der Öffentlichkeit‘, ‚Grad der Vertrautheit der Partner‘, ‚Grad der emotionalen Beteiligung‘ und ’physischen Nähe der Kommunikationspartner‘, ‚Grad der Kooperation‘, ‚Grad der Dialogizität‘142 oder ‚Grad der Themenfixierung‘.143 Während (mündliche) Nähediskurse im Allgemeinen stark von einer außersprachlichen Situations- und Handlungseinbettung gekennzeichnet sind, so daß deren Bedeutung nur unter Kenntnis dieses Kotextes rekonstruierbar ist, sind (schriftliche) Distanzdiskurse prinzipiell mit expliziteren Referenzbezügen ausgestattet. Handelt es sich jedoch um Schriftprodukte, deren Entstehungszeit nicht mehr ohne weiteres mit den aktuellen Parametern bestimmt werden kann, so kann sich die adäquate Einordnung – insbesondere von literarischen Texten, aber auch von juristischen, historiographischen, theologischen und anderen komplexen Gebrauchstexten – deutlich schwieriger gestalten.144 Dies liegt unter anderem daran, daß vor allem bei historisch weiter zurückliegenden Kommunikationssituationen, in denen einst ein bestimmter Text eingebettet war, die Beleglage für die Zeit womöglich lückenhaft ist – sicherlich jedoch in irgendeiner Weise defizitär. Ganz prinzipiell ist es jedoch auch der Tatsache geschuldet, daß es bei schriftlich niedergelegten Diskursen immer zu einer, wie es Oesterreicher (1998:22) nennt, „raum-zeitliche[n] Entkoppelung der Kommunikationssituation“ kommt oder, wie es Ehlich (2010:542) ausdrückt, zu einer „zerdehnten Sprechsituation“. Aus dieser Konstellation heraus plädiert Oesterreicher für eine umso größere Notwendigkeit, diachrone Schriftzeugnisse in ihre ursprüngliche Kommunikationssituation zu rekontextualisieren:

Die texthermeneutische Frage stellt sich jedoch insofern verschärft, als sich unter Umständen keine oder nur unvollständige oder einfach zu wenig historische Informationen zum jeweiligen kommunikativen Geschehen beibringen lassen. Trotzdem sind diese Texte grundsätzlich daraufhin zu befragen, wie sich ihre uns vorliegende schriftlich fixierte Form zu einem originären kommunikativen Geschehen verhält, das in der Regel zumindest in seiner Grundstruktur rekonstruiert werden kann. Den allgemein hermeneutisch zu konzipierenden Prozeß dieser Rekonstruktion der verschiedenen semiotischen Bezüge der Texte durch den Betrachter bezeichne ich im folgenden als Rekontextualisierung, die teilweise auch als eine Re-Inszenierung von Texten verstanden werden kann. (Oesterreicher 1998:22–23)

Im Zuge dieses hermeneutischen Vorgehens sind sowohl Implikationen, die aus der jeweiligen diskurstraditionellen Verankerung eines Textes resultieren, zu berücksichtigen, als auch solche, die sich durch den Verschriftungs- und Verschriftlichungsprozeß ergeben.145 Ziel ist es dabei, letztendlich die „Verluste“ des kommunikativen Rahmens einer historischen Konstellation soweit als möglich auszugleichen und die einstige „diskursive Einbettung“ wiederherzustellen (Oesterreicher 1998:24).146

Im Zuge seiner Überlegungen zur Problematik historischer Schrifterzeugnisse führt Oesterreicher (1998:26–27) noch einen weiteren Begriff ein, nämlich den der Textzentrierung. Darunter versteht er einen „schriftkulturelle[n] Prozeß, bei dem die ‚Ausblendung‘ der mit Diskursen ursprünglich verbundenen Vielfalt semiotischer Ausdrucksmodalitäten sich historisch sukzessive fixieren und diskurstraditionell festschreiben kann“ (Oesterreicher 1988:26). Dabei geht es vor allem um die beispielsweise in der mittelalterlichen Dichtung sichtbar werdenden Verfahren bei der Herausbildung von schriftlichen Diskurstraditionen, die zum Teil auf mündlichen Vorläufern basieren. In diesem Prozeß der Neukonstituierung treten bestimmte semiotische Verfahren eines Nähediskurses in den Hintergrund, während andererseits Textualitätsanteile zunehmen (Oesterreicher 1998:27).

Ohne prinzipiell diesen Prozeß und die damit verbundenen Veränderungen in der Kommunikation in Abrede stellen zu wollen, erscheint doch der wesentlichere Aspekt dieser beiden, die Oesterreicher (1998:27) „wohlunterschieden“ wissen möchte, derjenige der Rekontextualisierung zu sein. Aus diesem Grund soll dieses Prinzip, welches wichtige hermeneutische Verfahren impliziert, auch in vorliegender Untersuchung zentraler Bestandteil sein und als „Gegengewicht“ zu einer rein nach modernen linguistischen Termini ausgerichteten Textinterpretation (cf. Kap. 3.1) fungieren.

Im Rahmen der in der einleitenden Zielsetzung beschriebenen Methodik des Vorgehens in Bezug auf die Analyse der frühneuzeitlichen Texte (cf. Kap. 1.4) bildet die Herangehensweise mittels aktueller varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Begrifflichkeiten, deren Grundlagen bereits erläutert wurden (cf. Kap. 3.1), den Fokus vorliegender Untersuchung. Eine rein auf dieser Methode fußende Analyse würde jedoch Gefahr laufen, voreilige oder ganz allgemein zu kurz greifende Ergebnisse zu folgern, vor allem im Hinblick auf eine womöglich überinterpretierte Modernität – im Sinne eines aktuellen linguistischen Verständnisses – der untersuchten Texte. Daher ist die hier vorgestellte Rekontextualisierung, im Sinne einer adäquaten zeitgeschichtlichen Verortung – und diese impliziert allgemein historische Epochenbezüge genauso wie spezifisch literarische –, unabdingbar, um eine geistesgeschichtliche Entwicklung, wie hier geplant, nachzuzeichnen. Diese Rekontextualisierung, wie sie von Oesterreicher (1998) im Hinblick auf eine sprachwissenschaftliche Nutzbarkeit hin konzipiert wurde, ist dabei nicht denkbar ohne die Tradition der klassischen Hermeneutik, spricht er doch selbst von der „Hermeneutik der Rekontextualisierung“ (Oesterreicher 1998:21).147

Unabhängig von den bei Oesterreicher nur kursorisch angesprochenen Bezügen zu dieser Disziplin, schien es daher notwendig, einige entscheidende Aspekte der hermeneutischen Analyse aufzugreifen. Dabei ging es nicht darum, sich dezidiert einem der großen Klassiker (Schleiermacher et al.) anzuschließen, sondern Überlegungen herauszustellen, die ganz konkreten Nutzen für die vorliegende diachrone Konstellation der Textinterpretation haben und als methodische Grundpfeiler fungieren können.

Die Arbeit mit Texten einer vergangenen Epoche zwingt einen somit unter Beachtung grundlegender hermeneutischer Prinzipien dazu, Relationen wie Vorstellungen bzw. Denkprozesse, Schriftzeugnisse, sprachliche Realisierung und zeitgenössischen Diskurs nur mit äußerster Vorsicht in Bezug zueinander zu setzen bzw. immer wieder neu zu überdenken und zu hinterfragen. Dieser Versuch einer Verankerung und Verortung der Korpustexte soll aus diesem Grund den zweiten methodischen Pfeiler vorliegender Untersuchung bilden und unter dem Schlagwort der Rekontextualisierung figurieren.

Das konkrete Vorgehen im Einzelnen ist dabei natürlich abhängig von der Art des Textes, seiner Strukturierung, seiner Intentionalität und seiner Bedeutung innerhalb des Diskurses. Ganz allgemein besteht das Ziel darin, jeden Text des Korpus in seinem zeitgeschichtlichen Kontext adäquat zu verorten. Bei dieser Vorgehensweise, die eine exakte Lektüre und eine umsichtige, aber dennoch dezidierte Interpretation beinhaltet, sollen die vorgestellten hermeneutischen Verfahren eine methodisch wichtige Grundlage bilden. Es geht letztendlich darum, den gegebenen Text so zu interpretieren, daß alle für die vorliegende Fragestellung relevanten Bezüge aufgedeckt werden, d.h. das untersuchte Traktat ist daraufhin zu bestimmen, welchen Platz es in der geschilderten Debatte um das Latein der Antike einnimmt, in welcher Relation es zu den anderen an diesem Disput involvierten Texten (und Autoren) steht, welche historische gesellschaftspolitische Implikationen hierbei zum Tragen kommen, welche grundlegende Zielsetzung bzw. Intentionalität ermittelt werden kann, im Rahmen welcher Diskurstradition es verfaßt wurde bzw. welche Textsorte oder Textgattung vorliegt und welche Versprachlichungsstrategien damit verbunden sind bzw. welcher stilistische Duktus damit einhergeht. Dies sei nur beispielhaft dafür angeführt, was es zu beachten gilt, wenn es darum geht, die Aufgabe der Rekontextualisierung durchzuführen. Dabei soll allerdings nicht eine Analyse der aufgezeigten Aspekte in vollem Umfang angestrebt, also z.B. alle intra- und intertextuellen Bezüge aufgezeigt werden, sondern nur solche die für die Beantwortung der vorliegenden Fragestellung von Relevanz sind und die dabei helfen, den untersuchten Text in seiner Entstehungszeit und seinen historischen Kommunikationsraum angemessen einzuordnen und ihn damit so zu verstehen, wie er intendiert wurde.

Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua

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