Читать книгу Evolution 5.0 - Roy O'Finnigan - Страница 20
Оглавление1 Sofies Therapiesitzung
»Nein!«
»Ich will aber.«
Sophie verschränkt die Arme wie ein trotziges Kind. Ihr Psychiater nimmt es stoisch zur Kenntnis. Das ist keine Kunst, da er über die unerschöpfliche Geduld eines Computerprogramms verfügt.
Die junge Frau sitzt auf der Bettkante und starrt ins Nichts. Sie ist allein. So wirkt es zumindest in der realen Welt. Ihr Seelenarzt existiert nur in ihrer virtuellen Realität.
Innerlich kocht sie. Mit Menschen kann man verhandeln, sie belügen und austricksen. Aber das Allerwichtigste ist, dass sie nicht immer präsent sind. Irgendwann schlafen sie und gelegentlich sind sie unaufmerksam oder vergesslich. Ein Programm vergisst nie und ist immer da. Ihm entgeht nichts.
Seit dem Unfall ist Doktor Smith ihr ständiger Begleiter. Jetzt sitzt er sogar in ihrem Zimmer. Ihrem Heiligtum. Ein Raum, der ihr innerstes Wesen widerspiegelt wie sonst nichts auf der Welt. Chaos. Oder, wie sie es ausdrücken würde, eine planlose Ablage, von der sie erwartet, dass sich die natürliche Ordnung der Dinge irgendwann von selbst einstellt. Doch die sieht keinen Grund, ihr diesen Gefallen zu tun.
Wie auch immer, es handelt sich um eine Mischung von Action-Accessoires aus ihrem Leben und dem Rückzugsgebiet eines verträumten Mädchens. Letzteres repräsentiert durch ihr Baldachinbett.
An den Wänden hängen Plakate von Actionszenen mit ihr als Hauptperson, die sich bei genauerer Betrachtung bewegen. Eines davon zeigt einen Fallschirmsprung. Nach dem Verlassen des Flugzeuges entledigt sie sich ihres Fallschirms. Lachend stürzt sie dem Boden entgegen. Sam versucht verzweifelt, sie einzufangen. Sie unternimmt keine Anstalten dabei, ihm zu helfen. Doch er fängt sie. Wegen der doppelten Belastung des Schirms ist die Landung hart. Sams Gesicht ist schmerzverzerrt.
Das Eindringen in ihre Intimsphäre empfindet sie als Provokation. Allein beim Gedanken daran, dass die Sozialbehörde sie dazu zwingt, beschleunigt sich ihr Puls. Für sie fühlt es sich an wie eine ständige Vergewaltigung.
Um den Psychiater nicht zu sehen, müsste sie ihre Augmented-Reality-Kontaktlinsen herausnehmen. Verschwinden würde er dadurch aber nicht. Er wäre immer noch da und würde sie über alle möglichen Kameras und Mikrofone beobachten. Ihn aus ihrem Leben zu verbannen, ist zwar nicht verboten aber praktisch unmöglich. Sie holt tief Luft. Der Nervenarzt betrachtet sie regungslos.
»Ich meine es doch nur gut mit dir.«
Früher hatte sie gebrüllt, er solle aus ihrem Kopf verschwinden, und mit den Fäusten und Füßen auf die Holzbretter des Bodens getrommelt. Mittlerweile hat sie gelernt, mit dem Programm umzugehen. Sie nimmt noch einen tiefen Atemzug und hält die Luft an.
»Du solltest inzwischen wissen, dass ich mich nicht erpressen lasse«, kommentiert der digitale Seelenklempner die Aktion.
Nein, das tust du nicht. Aber ich weiß wie ich dich manipulieren kann, denkt sie und hält die Luft an, bis ihr Gesicht rot anläuft. Danach beendet sie ihre Trotzphase mit ein paar tiefen Atemzügen.
»Ich will aber mit meinem Motorrad fahren.«
»Du bist noch nicht so weit.«
»Doch«, widerspricht sie. »Ich bin geheilt und meine Beweglichkeit ist wieder voll hergestellt.«
»Körperlich ja. Geistig nicht.«
Sophies Gesichtszüge verhärten sich. »Ich war nie geistig krank.«
»Deine Werte liegen weit außerhalb der Norm. Dein Verhalten ist nicht berechenbar. Deshalb bist du eine Gefahr für dich – und andere«, fügt er einen Moment später hinzu.
Sophies Blick wandert zu einem ihrer Poster, bis es die Fallschirmsprunganimation abspielt. Die Videosequenz ruft zuverlässig das wohlige Kribbeln in ihrem Bauch hervor, das sich einstellt, wenn es richtig gefährlich wird.
»Blödsinn. Was kann ich dafür, dass irgend so ein pickelgesichtiger introvertierter Juniorprogrammierer keine besseren Algorithmen entwickeln kann?«
»Das liegt nicht an den Algorithmen«, korrigiert der Softwarearzt. »Die Gesellschaft beschloss mehrheitlich ein Verhalten, wie du es zeigst, nicht mehr zu tolerieren.«
Sophie springt auf und geht auf den virtuellen Psychoklempner zu.
»Die Gesellschaft kann mi...«
»Also bitte, Sophie«, unterbricht das Programm den Kraftausdruck. »Du musst Geduld haben und an dir arbeiten«, fährt er mit milder Stimme fort. »Wenn wir beide davon überzeugt sind, dass das Risiko in einem vernünftigen Bereich liegt, darfst du natürlich auch wieder Motorrad fahren.«
»Ich bin bereits davon überzeugt, Doktor Smith. Es liegt nur an Ihnen.«
Der Avatar des Psychiaterprogramms lächelt geduldig.
»Warum nennst du mich nicht endlich Steve? Es würde vieles zwischen uns vereinfachen.«
Weil das mehr Nähe schafft, als ich ertrage. Reicht es nicht, dass du unheimlich gut aussiehst? Dass du genau mein Typ bist? Und genau das ist das Problem. Es ist zu einfach für einen Algorithmus auszurechnen, welche Vorlieben jemand hat. Das ist nicht echt. Und nicht fair.
»Dann lass mich wenigstens mit Wakanda ausreiten.«
Mit Adleraugen beobachtet Sophie die Mimik des Avatars. Auch diesmal bietet die Maske nicht den geringsten Hinweis, was dahinter vor sich geht. Bevor der Computerarzt etwas sagen kann, fügt sie: »Dr. Stone meinte, dass Reiten gut für meine Rehabilitation ist«, hinzu.
»Du vernachlässigst dein Studium. Für heute steht noch eine Sportmarketinglektion an. Danach kannst du reiten gehen.«
‚Gewonnen‘, jubiliert Sophie innerlich, lässt sich aber nach außen nichts anmerken. Im Gegenteil. Sie provoziert bewusst eine Stressreaktion. Dabei helfen ihr schauspielerisches Talent und das Luftanhalten von vorhin. Noch hat sich ihr Kreislauf nicht normalisiert.
Doktor Smith bleibt das nicht verborgen. Hochauflösende Kameras registrieren jeden Pulsschlag und Wärmesensoren die Temperaturverteilung ihres Körpers. Wie erwartet reagiert das Programm darauf.
»Andererseits wird es dann zu dunkel sein. Wenn du versprichst in einer Stunde zurück zu sein, darfst du jetzt ausreiten.«
Man sieht es Pferd und Reiterin an, wie sie den scharfen Galopp über die Prärie genießen. Ein scharfsinniger Beobachter würde erkennen, dass es das Pferd drängt, noch schneller zu galoppieren und seine Reiterin ungeduldig auf etwas wartet.
Gefolgt von einem langen Schatten reitet Sophie dem Abendrot entgegen. Ein paar Wolkenstreifen sorgen für zusätzliche farbliche Akzente. Sie liebt es, mit offenen Haaren zu reiten, und saugt mit tiefen Atemzügen die Natur in sich auf.
Endlich traut sie sich, die Kontaktlinsen zu entfernen. Ohne anzuhalten, unterbricht sie Doktor Smiths Videoverbindung. Seinen Protest speist sie mit der Bemerkung ab, dass sie Staub in die Augen bekam, ab. Je weiter sie sich von der Zivilisation entfernt, desto mehr entspannt sie sich.
Wakanda spürt die Gemütsänderung seiner Reiterin. Der Hengst braucht kein Kommando, um sich gänzlich dem Rausch der Geschwindigkeit hinzugeben. Er begrüßt mit einem Wiehern die Freiheit. Dann legt er richtig los. Wie ein Sturmwind fegt er über die Steppe. Seine Hufe scheinen kaum den Boden zu berühren.
Sophie lockert die Zügel und beugt sich flach über den Hals ihres Pferdes. Ihre Haare flattern schwarz wie der Schatten, der über das Land fliegt.
Nach einer halben Stunde erreicht sie ihr Ziel. Viel zu früh. Sie wäre gerne noch länger geritten. Sie lenkt Wakanda in einen kleinen Canyon. Früher floss hier ein Bach. Jetzt ist der Boden staubtrocken.
»Du bist spät dran. Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr.«
»John«, jubelt Sophie. Freudestrahlend springt sie ab und wirft sich in die Arme des Mannes. Die junge Frau genießt den Begrüßungskuss mit geschlossenen Augen.
John ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Hochgewachsen, mit schwarzen Haaren und markantem Gesicht. Doktor Smith hatte ihn nach Auswertung ihrer Persönlichkeit für sie ausgesucht, weil er meinte, dass ein Freund gut wäre für ihre persönliche Entwicklung. Wie recht er damit hatte. Es gab noch andere Kandidaten. Aber John ist genau der Richtige. Er wird ihr helfen, den Psychiater loszuwerden. Für immer.
Sophie öffnet die Augen und schiebt ihren Geliebten auf Armlänge von sich.
»Wann?«
Ihr Liebhaber blinzelt mit den Augen. Der rasante Stimmungswandel trifft ihn unerwartet. Eben noch war sie auf Sex eingestellt und jetzt will sie wissen, wann er sie von ihrem Psychiaterprogramm befreit.
»Das hängt ganz von dir ab.«
»Von mir?«
»Ja, du bist noch nicht so weit.«
Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. Er spürt, wie sie die Muskeln anspannt. Schnell schiebt er eine Erklärung nach.
»Ich kann dich jederzeit von deinem virtuellen Psychiater befreien. Aber was dann? Wie lange glaubst du, wird es dauern, bis du einen Neuen verpasst bekommst? Drei Wochen? Vier? Lerne dich mit dem System zu arrangieren. Zumindest zum Schein. Nur wenn du drin bist, lassen sie dich in Ruhe. Rein kommt aber nur, wer sich den Regeln unterwirft.«
»Ich werde mich niemals unterwerfen. Niemals!« Sophie zischt das letzte Wort mit einer Schärfe, als wolle sie damit einen Diamanten zerschneiden.
John nimmt die Warnung gelassen hin.
»Du Dummerchen. Kapier endlich die Regeln des Spiels. Es kommt nicht darauf an, was wirklich ist und was du tust. Lediglich, was das System glaubt. Und das System glaubt, was in den Datenbanken steht. Ob das stimmt, was da abgespeichert ist, spielt keine Rolle. Zumindest wenn man es richtigmacht.«
»Aha. Und du weißt, wie man es richtig macht?«
John lächelt zufrieden. Endlich kapiert sie. Er packt Sophie an den Schultern und zieht sie zu sich heran. Die Auszubildende in Sachen Datenhygiene leistet kurz Widerstand und schmiegt sich dann an ihn.
»Genau. Vertrau mir. Ich bin der Beste auf dem Gebiet der persönlichen Datenkultivierung. Ich bringe dir alles bei, was du wissen musst.«
»Gut. Sag mir, was ich tun muss, um diesen unerträglichen Psychoüberwacher loszuwerden. Wenn du das schaffst, kannst du alles von mir haben.«
Sie drückt sich noch fester an ihn.
»Wirklich Alles?«
Seine körperliche Präsenz lässt Sophie spüren, was er darunter versteht.
»Alles«, wiederholt sie.
Johns Augen beginnen zu funkeln. Abrupt löst sie sich, schwingt sich auf ihr Pferd und galoppiert davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Der Stehengelassene schaut seiner neuen Freundin nach, als sie zur Ranch ihrer Eltern zurück reitet. Ein seltsames Mädchen. Viel zu naiv um ein Leben in Freiheit leben zu können. Der allgemeine Sicherheitsfetischismus und die datenbasierte Verhaltenssteuerung machen das unmöglich.
Alles Götzen seiner Meinung nach, viel zu mächtig, um sich direkt mit ihnen zu messen. Zum Glück ist das jedoch nicht notwendig. Sie merken nicht, wenn ihnen was vorgemacht wird. Wie das geht, muss sie schnellstens lernen.
Sein Blick schweift nach oben. Er kneift die Augen zusammen. Dann geht er zu seinem Pick-up und holt ein Fernglas aus dem Rucksack. Die Sonne ist zwar schon unter den Horizont gesunken, aber die Drohne hoch über Sophie schwebt im Licht der letzten Strahlen. Er setzt den Digitalfeldstecher ab und dreht sich um. Das Mädchen ist kaum noch zu erkennen.
Sophies Geliebter und Mentor nimmt ein stabförmiges Objekt und richtet es auf die Überwachungsdrohne. Es sendet einen elektromagnetischen Impuls, der die Elektronik der fliegenden Kamera toastet. Noch bevor das Überwachungsgerät am Boden aufschlägt, gibt er Vollgas und braust davon.