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1 Behördenkram

Deutschland. Das Land der Regeln, Vorschriften und Gebote. Sam hätte sich nie träumen lassen, welche Ausmaße eine gesetzliche Verkehrsstromoptimierung annehmen kann. Seit gefühlt Stunden versucht er dem freundlichen Herrn von AlpTourist klarzumachen, dass er dieses Wochenende einen Ausflug auf den höchsten Berg Deutschlands unternehmen möchte.

»Nein, Huber. Ich möchte keinen Trip auf die Zugspitze in vierzehn Monaten buchen. Samstag habe ich Zeit. Das ist übermorgen.«

Der Archetyp eines Bayern in krachlederner Trachtenuniform zeigt sein Mitgefühl. Sam analysiert die Mimik des Avatars in seiner Virtual Reality. Ob dahinter ein Mensch steckt? Vermutlich nicht. Der hätte mittlerweile aus Zeitgründen längst das Gespräch beenden müssen, schlussfolgert Sam.

Man sitzt sich gegenüber an einem rustikalen Holztisch in einem Holovers. Die virtuelle Welt gestaltet nach einem Klischee, auf das sich die norddeutsch-internationale Gemeinschaft einigte, wie bayerische Almhütten auszusehen haben.

Zu Hause wäre er einfach losgefahren. Zumindest in Kalifornien geht das problemlos. In Deutschland nicht. Das Land ist eines der am dichtest besiedelten weltweit. Das erzwingt strikte Kontrolle der Verkehrsströme. Besonders am Wochenende in Richtung Alpen, behauptet Huber.

Er hätte sich nie mit diesem Agenten eingelassen, wenn nicht unbedingt nötig. Kein Transportmittel lässt sich ohne Genehmigung buchen. Huber ist das Nadelöhr, durch das man sich quetschen muss, um diese zu erlangen. Seine Mutter sagte nichts von solchen Schwierigkeiten, als sie ihm die Sehenswürdigkeiten Deutschlands anpries.

Hinter der Animation des Vertreters von AlpTourist steht ein Programm, dessen kognitive Fähigkeiten auf tieflernenden Algorithmen beruhen. Der Kalifornier gesteht ihm zu, dass es sich um besonders ausgetüftelte handelt. Trotzdem beschränk es sich auf die äußeren Rahmenbedingungen. Die wahre Leistung dieser Maschinenintelligenz ist es, die angebotenen Optionen ausgesprochen interessant erscheinen zu lassen.

Dafür arbeitet sie mit allen psychologischen Tricks. Sam hingegen will unbedingt dem Programm seinen Reisewunsch schmackhaft machen. Er beschließt, einen letzten Versuch zu starten. Falls das nicht fruchten sollte, plant er auf kreative Alternativen auszuweichen.

»Huber, ich gebe dir Zugriff auf meinen Studienplan. Daraus geht eindeutig hervor, dass es nur dieses Wochenende geht.«

Mit einer Geste gibt Sam die Daten frei. Hubers freundlicher Gesichtsausdruck erstarrt für einen Moment, während er die Informationen verarbeitet. Das Ergebnis entspricht nicht den Erwartungen des Studenten.

»Sam, ich danke dir für dein Vertrauen. Deine Daten werden selbstverständlich nur für diese Transaktion verwendet und danach gelöscht. Ich verstehe dein Problem, aber zu meinem allergrößten Bedauern sehe ich trotzdem keine Möglichkeit für einen Besuch der Zugspitze für diesen Samstag. Als Alternative schlage ich einen Besuch im Freilichtmuseum Glentleiten vor. Das liegt hoch über dem Kochelsee. Von dort hat man einen traumhaften Blick auf die Alpen inklusive der Zugspitze.«

Sam studiert die eingeblendete Karte. Immerhin wäre er dann schon in der Nähe. Vielleicht ergibt sich ja vor Ort eine Chance.

»Es tut mir leid. Der Zugspitzgipfel ist ausgebucht. Das gilt für alle. Egal ob man aus Berlin oder einem Ort in der Nähe anreisen möchte. Auch von Glentleiten aus kommst du nicht auf den Gipfel. Für begehrte Termine buchen manche schon auf Jahre im Voraus. Ich kann dich natürlich auf die Warteliste setzen, aber bei der Länge strebt die Wahrscheinlichkeit für dieses Wochenende gegen null.«

Sam reißt die Augenbrauen in die Höhe. Das Programm scheint Gedanken lesen zu können. Womöglich unterschätzte er die Algorithmen. Offenbar sind sie Meister darin, Körpersprache zu interpretieren. Er nimmt sich vor, bei Gelegenheit zu checken, wer den Code schrieb.

»Nehmen wir mal an, Geld spielt keine Rolle. Welche Optionen gäbe es dann?«, will Sam wissen.

Huber schüttelt so energisch mit dem Kopf, dass der rasierpinselartige Busch auf seinem Hut wackelt. Enola, Sams digitale Assistentin behauptet, das Teil heiße ‚Gamsbart'. Sam muss über die Bezeichnung schmunzeln. Seines Wissens haben Gämsen keinen Bart. Er persönlich akzeptiert den Brauch, sich Tiertrophäen anzustecken. Immerhin gehörten echte Adlerfedern zur Stammestracht seiner Vorfahren.

»Du hast nicht genügend Geld für andere Optionen«, belehrt ihn Huber.

Fasziniert registriert der Student, wie Huber gleichzeitig Bedauern und Sympathie ausdrückt.

»Egal, ich will es wissen.«

Huber zögert noch einen Moment. Sam versteift sich.

»Na gut«, seufzt Huber. »Aber auf deine Verantwortung. Mach' mir keine Vorwürfe, wenn du geschockt bist.«

Neben dem Agenten erscheint das Angebot. Säße Sam nicht bereits auf einem Stuhl, hätte es ihn umgehauen. Der Preis bewegt sich in astronomischen Größenordnungen. Nicht nur für seine Verhältnisse.

»Das ... ist in der Tat beeindruckend«, gibt der Student zu.

Huber hebt die Schultern. »Du wolltest es unbedingt wissen.«

Aufgrund Sams Körpersprache fühlt sich das Programm genötigt eine Erklärung nachzuschieben.

»Es ist einfach eine Angelegenheit von Angebot und Nachfrage. Man leiht sich einen Oberklassewagen. Gegen einen Aufpreis bekommt man die Erlaubnis, am Samstagmorgen um zwei Uhr dreißig auf der Autobahn von Berlin nach Garmisch-Partenkirchen zu fahren. Mit zweihundertneunzig Kilometer pro Stunde ist man in zwei und einer halben Stunde da. Zu diesen Konditionen sind noch zwei Plätze frei.«

Deutschland, das Land der schnellen Autos. Auch darauf hatte ihn seine Mutter hingewiesen. Wo andere einen Schnellzug hin bauen, rast hier der Individualverkehr. Für den, der es sich leisten kann.

Dem Studenten reicht's. Mit einem trockenen »Danke« und einer eindeutigen Geste beendet er das Gespräch. Während er noch über den tieferen Sinn der deutschen Verkehrsstromoptimierung grübelt, kommt sein Zimmergenosse heim.

Obwohl er ihn bereits ein paar Wochen kennt, staunt Sam immer noch, wie der Bodybuilder es schafft, durch die Tür zu kommen, ohne steckenzubleiben.

»Hallo Urs«, begrüßt er ihn.

Mit einem »Tag Sam« und Bikerstiefelgepolter baut sich der Besitzer der Muskelberge vor ihm auf. Keine Kleidergröße scheint ihm gerecht zu werden. Normaler Stoff auch nicht. Der Kalifornier vermutet, dass sein Zimmergenosse aus diesem Grund irgendwann auf Ganzlederoutfit umstieg.

Der Berliner besitzt ein feines Gespür für die Gemütslage seiner Mitmenschen.

»Was ist los? Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«

Urs lässt sich mit Schwung in seinen Ledersessel fallen. Obwohl XXX-L dimensioniert, protestiert das Sitzmöbel knarzend gegen die Belastung.

In kurzen Worten erläutert der verhinderte Zugspitztourist die Situation.

»Ah, ich sehe, du hast dich mit AlpTourist angelegt«, erwidert sein Kommilitone mit breitem Grinsen. »Das ist ein typischer Anfängerfehler.«

»Was meinst du damit?«

Der Bodybuilder zwinkert mit einem Auge und deutet auf sein ViDA. Sam versteht die Geste als Andeutung, dass er ein vertrauliches Gespräch wünscht. Urs malt mit den Händen Zeichen in die Luft. Nachdem er damit fertig ist, wendet er sich Sam zu.

»So, jetzt können wir ungestört sprechen.«

»Moment mal«, unterbricht ihn Sam. »Du befürchtest, dass uns hier jemand belauscht?«

Der Gedanke bereitet ihm Unbehagen. Unwillkürlich nimmt er die Einrichtung ihrer Studentenbude in Augenschein. Auf den ersten Blick wirkt sie spartanisch. Ein Bett, ein Schrank und ein Schreibtisch. Für jeden. Küche und Bad separat; Meisterwerke multifunktioneller Zweckraumgestaltung. Die Wände in neutralem Weiß gehalten.

Auf den zweiten Blick - visuell erweitert über sein ViDA - sieht das Ganze bereits viel gemütlicher aus. Die Projektion von Bildern und Daten direkt auf die Netzhaut verändert die physikalische Realität. Obwohl es sich dabei um einen optischen Trick handelt, lässt sich das Gehirn leicht täuschen. In Sams künstlicher Welt lebt er an einer Flussbiegung unter freiem Himmel. Dort, wo in seinem Paradies ein Tipi steht, ist die Küche, das Bad direkt am Wasser und ihre Server stehen hinter der Couch.

Beim Anblick des Sitzmöbels stutzt er. Auf ein Zeichen hin wird es durchsichtig und gibt den Blick auf die Internetschnittstelle frei. Alle elektrischen Geräte sind darüber mit dem Cyberspace verbunden, Symbole und Graphiken visualisieren die Datenströme. Nichts Auffälliges. Die Überwachungs- und Schutzprogramme hatte er natürlich sofort nach dem Einzug installiert. Sollte er etwas übersehen haben? Der Berliner bemerkt seine Besorgnis.

»Offiziell natürlich nicht. Aber sicher ist sicher. Mit WLAN kann man durch Wände sehen und aus den Vibrationen einer Fensterscheibe Sprache extrahieren. Es gibt immer und überall einen Datenjäger auf der Suche nach verwertbarem Material.«

Na, wenn's weiter nichts ist, denkt Sam.

»Und was hast du unternommen, um das zu unterbinden?«

Urs wirft ihm einen abschätzenden Blick zu. Schließlich zuckt er mit den Achseln. Er greift in die Luft, als pflücke er einen Apfel und wirft ihn Richtung seines Mitbewohners.

»Warum nicht? Ich denke, ich kann dir vertrauen«, begründet er seine Handlung.

Geschickt fängt Sam das zugeworfene Objekt auf. Es handelt sich um einen Schlüssel. Der Kalifornier befestigt ihn an seinem virtuellen Schlüsselring. Mit dieser Aktion erscheinen die Programme und Maßnahmen, die sein Zimmergenosse zum Schutz ihrer Privatsphäre getroffen hat in Sams Augmented Reality. Gleichzeitig lässt er ihn seine Version ihres Studentenapartments sehen.

Durchschnitt, verrät ihm sein Expertenblick bezüglich der Schutzprogramme innerhalb weniger Sekunden. Mehr sollte für eine normale Studentenbude auch nicht notwendig sein. Viel interessanter findet er Urs' Wohnwelt. Seiner nicht unähnlich. Nur, dass der Berliner in einer Blockhütte haust, die jeden erdenklichen Luxus bietet.

Sam zieht die Augenbrauen hoch.

»Ich bin beeindruckt, was du aus unserem schlichten Appartement gemacht hast«, wendet er sich an den Bodybuilder.«

Dieser fasst das als Kompliment auf.

»Nicht wahr? Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, das zu arrangieren. Deine ist aber auch nicht schlecht. Ich liebe virtuelle Welten und Spiele. Vor allem World of Cyberdreams. Wollen wir zusammen mal einen Level spielen?«

»Ein anderes Mal gerne«, lehnt Sam das Angebot ab. »Jetzt muss ich mich erst mal um den Huber von AlpTourist kümmern. Sonst wird das nichts mit dem Wochenende.«

Urs nickt.

»Genau. Was du brauchst, ist das hier.«

Wieder greift er ein Objekt aus seiner Augmented Reality und wirft es Sam zu.

»Fährst du eigentlich alleine oder nimmst du jemanden mit?«, will Urs wissen, während Sam die App startet.

Interessiert schaut sich der Kalifornier nacheinander die verfügbaren Optionen an. Dann hebt er den Kopf. Urs‘ Ledersessel steht in Sams digital angereicherten Welt mitten auf einer Wiese. Ein Schmetterling mit blauen Flügeln sitzt auf der Lehne.

»Alleine. Es sei denn du hast Lust und kommst mit.«

»Tut mir leid, mein Freund, aber ich habe dieses Wochenende schon was Besseres vor. Da kannst du nicht mithalten.« Ein geheimnisvolles Lächeln spielt um seine Lippen.

»Verstehe. Ein echtes Date oder eines im Holoversum?«

Urs druckst etwas herum. Dann entschließt er sich, mehr zu erzählen.

»Ich habe in World of Cyberdreams ein Mädchen kennengelernt. Sie ist echt gut und ihr Avatar sieht voll krass aus.«

Sam schüttelt belustigt den Kopf. Nebenbei untersucht er Urs‘ App auf seine Fähigkeiten.

»Jeder kann sich in der virtuellen Realität einen geilen Avatar schnitzen. Das heißt gar nichts. Nicht mal, dass da wirklich ein Mensch dahintersteckt.«

Der Bodybuilder beugt sich mit einem selbstbewussten Grinsen im Gesicht vor. Der Schmetterling flattert verschreckt davon.

»Mich täuscht man nicht so leicht. Du hast natürlich Recht. Die Avatare im Cyberspace sind eine Wundertüte. Was drin ist, weiß man erst nach dem Öffnen. Deshalb habe ich mit ihr beim letzten WoC Spiel gewettet. Wenn ich gewinne, muss sie mir ein unmanipuliertes Selfie schicken. Rate mal, wer gewonnen hat.«

Sams Augenbrauen schießen nach oben.

»Hoppla, das sind aber keine legalen Methoden.«

Urs schaut seinen Zimmergenossen verwundert an.

»Aber Hallo. Natürlich ist das legal. Ich habe ihr ein Angebot gemacht und sie hat zugestimmt. Sie hätte auch nein sagen können.«

»Sicher ist es das«, erwidert der Kalifornier beiläufig ohne den Blick von den Daten abzuwenden. Seine Augen springen zwischen Codesegmenten und Symbolen hin und her. »Doch bei deiner App ist das definitiv nicht der Fall.«

Der Bodybuilder richtet sich in seinem Stuhl auf und lässt seinen Blick auf dem Kalifornier ruhen.

»Sag mal, bist du wirklich so naiv oder tust du nur so? Natürlich ist das Tool illegal. Anders geht das doch nicht. Auf jeden Fall war ich schon mal auf der Zugspitze. Aber du wirst nie dahin kommen, wenn du weiter so moralisierst.«

Urs hat Recht, pflichtet ihm Sam in Gedanken bei. Legal ist so einem Regelwächter wie Huber nicht beizukommen. Um da was zu bewirken, muss man direkt in dessen Datenstruktur eingreifen. Dazu muss man erst mal zu dem Speicherort vordringen. Behördendaten werden von ausgeklügelten Sicherheitsprogrammen geschützt. Diese zu umgehen ist kein Kavaliersdelikt. Deren Daten zu manipulieren noch weniger.

Sams digitaler Assistent meldet sich zu Wort. Aus dem Nichts materialisiert sich ein Androide mit angedeuteten weiblichen Zügen und metallischer Oberfläche in einem warmen Goldton. Ihre Augen schimmern blau. Mit einem Nicken erteilt er der Roboterfrau das Wort. Kritisch verfolgt Urs den Vorgang.

»Darf ich daran erinnern, dass das technische Vermögen, Regeln und Gesetzte zu umgehen, jemanden noch lange nicht das recht dazu gibt, es zu tun.« Die Stimme der Droidin klingt weich mit einem synthetischen Akzent.

»Ha, dass ich nicht lache.« Urs klatscht mit den Händen auf die Lehnen. »Genau darum geht es ja. Die Gesetze sind nicht fair.«

Die Assistentin wendet sich ihm zu. »Doch. Der Platz auf dem Gipfel ist nun mal begrenzt. Es können nicht alle Leute gleichzeitig da rauf. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

»Sam, wo hat dein Homunkulus seine Daten her? Das stimmt doch hinten und vorne nicht.«

Der Kalifornier hebt die Augenbrauen und schaut Enola an. Die Frage bleibt unausgesprochen im Raum.

»Es stimmt. Die Behörden vergeben die Plätze nach einem Bewertungsschema«, gibt sie zu. »Darin gehen verschiedene Faktoren ein. Unter anderem, wie oft man schon da war und zeitliche Alternativen. Die Reihenfolge der Anmeldung ist nur ein Kriterium von vielen. Das ist so ähnlich wie mit der Kreditvergabe. Ein Algorithmus entscheidet, was man zu welchen Konditionen bekommt oder nicht. Niemand kommt auf die Idee, dieses Verfahren in Frage zu stellen.«

»Pfff«, macht Urs, »das ist doch nur offizielles Behördenblabla. Das hat nichts mit der Realität zu tun. Jeder weiß doch, dass da noch ganz andere Parameter mit einfließen.«

Der Berliner wendet sich seinem Zimmergenossen zu. »Hey, du lässt dich doch von so etwas nicht beeinflussen. Falls ja, habe ich dich völlig falsch eingeschätzt. Enttäusch mich jetzt bloß nicht.«

Diesmal ist es die Droidin, die einen fragenden Blick auf Sam wirft.

»Schon gut, Enola. Wir können ihm vertrauen. Du kannst offen sprechen.«

»Was ...?«, schießt Urs hoch.

Knarzend geht der Stuhl in seine Ausganglage zurück. Die Droidin geht ein paar Schritte, begleitet vom leisen Surren virtueller Elektromotoren. Vor dem Bodybuilder bleibt sie stehen. Ihre Blicke verhaken sich.

»Sie haben vollkommen recht Herr Schweizer. In Europa ist es wie überall auf der Welt. Der wichtigste Faktor in dem Algorithmus ist der Citizen Score. Je höher der ist, desto schneller bekommt man, was man möchte.«

»Ha, ich wusste es«, triumphiert der Berliner. »Je angepasster man lebt, desto mehr wird man vom System bevorzugt. Deine - wie heißt sie noch? - Enola ist die schlauste Cyberassistentin, die mir je begegnet ist. Alle Achtung Sam, die hast du gut ausgebildet.«

Enola bedankt sich mit einem Flirtblick und streicht ihm über die Wange, während sie sich Sam zuwendet.

»Soll ich dir helfen?«

»Programmanalyse«, nickt ihr Meister.

Innerhalb weniger Sekunden füllt sie die friedliche Flusslandschaft mit Codefenstern, Diagrammen und Symbolen für Hilfsprogramme. Sam geht herum und schaut sich die Anmerkungen seiner Assistentin zu den verschiedenen Befehlszeilen an. An einer Stelle bleibt sein Blick hängen.

Er winkt Urs heran und deutet mit dem Finger darauf. »Dein Programm stammt aus der Kodierfeder eines Profis. So viel ist sicher. Schau mal hier. So programmiert einer, der weiß, was er tut.«

Der Bodybuilder geht los, um sich die Passage genauer anzusehen. Dabei macht er einen Bogen um Enola und wirft ihr einen abschätzenden Blick zu. Sie lächelt mehrdeutig.

»Eine wirklich interessante Assistentin hast du da. Das ist definitiv nicht Standard. Schade, dass sie nur virtuell existiert.«

Da Sam nicht antwortet, schaut er sich den Abschnitt an. Stirnrunzelnd hebt er den Kopf.

»Ich verstehe von solchen Sachen nicht viel. Ich bin kein Programmierer, sondern Anwender. Wieso probierst du die App nicht einfach aus? Dann siehst du schon was sie kann. Vom Anschauen alleine wirst du jedenfalls nie herausfinden, ob sie was taugt oder nicht.«

»Du hast recht. Aber bei einem Eingriff in Behördendaten kann man nie vorsichtig genug sein. Um so ein Programm beurteilen zu können, braucht es jahrelange Erfahrung und ausgefeilte Analysewerkzeuge. So wie meine.«

Urs lehnt sich zurück und schaut seinen Zimmergenossen von oben herab an.

»Aha.«

»Ja«, erwidert Sam trocken, Urs presst die Lippen zusammen. Der Kalifornier sieht darüber hinweg.

»Programmstart vorbereiten«, kommandiert er seine Assistentin. Hier und da greift er mit Befehlen und Gesten korrigierend ein. Als sich eine Hand schwer auf seine Schulter legt, hält er inne. Urs dreht ihn zu sich herum. Sam versucht sich dem Druck zu widersetzten, aber gegen diese Kraft ist er chancenlos. Hinter Urs scheint sich ein Unwetter zusammenzubrauen.

»Jetzt hör mal gut zu Häuptling staubiger Windhund. Du ziehst hier eine imposante Show ab«, knurrt er. »Aber mich führt man nicht so leicht hinters Licht. Wir reden hier von der besten App, die man in Europa kriegen kann. Ich habe eine Menge Geld dafür bezahlt und sie bestimmt schon dutzende Male eingesetzt. Ohne die geringsten Probleme. Und da kommst du mit deinem großspurigen Getöse daher und spielst dich als Fachmann auf. Für wen hältst du dich?«

Sam hebt beschwichtigend die Hände: »Schon gut, beruhige dich. Ich bin nur vorsichtig.«

Er schüttelt Urs' Hand ab und startet die App. Gespannt schaut er auf seine Wächterprogramme. Seine Stirn wirft Sorgenfalten. Nichts rührt sich. Schließlich konfiguriert er die Behördendatenbank um und verwischt seine Spuren mit Enolas Hilfe. Zu guter Letzt erscheint die Genehmigung als digitales Zertifikat in ihrer Augmented Reality.

Noch bevor Sam reagieren kann, greift sich Urs das Dokument. Sein Blick ist eindeutig: Siehst du, ich hab’s dir doch gesagt.

Der Kalifornier zuckt die Schultern und beendet das Programm.

»Nimm’s mir nicht übel, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellan ...«

»Unerwartete Aktivitäten«, unterbricht Enola.

»Daten blockieren und Programm einfrieren«, befiehlt Sam.

»Was bedeutet das?«, fragt Urs und greift sich an den Kopf. Warnsymbole blinken auf und Datenfenster öffnen sich. Der triumphierende Blick des Berliners ist echter Besorgnis gewichen. »Jetzt sag schon«, drängt er seinen Zimmergenossen zur Eile. Er stößt einen Fluch aus, als die Genehmigung in seinen virtuellen Händen beginnt sich aufzulösen.

Währenddessen schiebt der Kalifornier Symbole auf einem virtuellen Bildschirm hin und her. Seine Bewegungen sind schnell und zielorientiert. Datenpakete flirren durch die Luft. Flüsternd erteilt er Enola Anweisungen. Nichts scheint die Konzentration der beiden stören zu können. Die virtuelle Welt hält den Atem an.

Die Zugspitzbesuchserlaubnis stabilisiert sich. Mit einem Hieb auf ein Okaysymbol beendet er seine Aktion. Urs holt tief Luft.

»Mann, was war da los? Zum Glück ist die Genehmigung dageblieben.«

Sam hebt den Kopf. Sein Blick ist ernst

»Dein Programm, in das du so viel Geld investiertest, funktioniert. Es tut, was es soll, und ist echt gut darin. Allerdings spioniert es dich aus. Es schickt die Daten an jemanden. Ich kann dir nicht sagen an wen, aber es ist bestimmt nicht die Heilsarmee.«

Der Bodybuilder zuckt zurück. »Was? Das ist ja ungeheuerlich.« Dann ballt er die Hände zu Fäusten. »Wenn ich den Kerl erwische, breche ich ihm sämtliche Knochen. Kannst du ihn aufspüren?«

»Ich denke schon. Zum Glück hat Enola aufgepasst und die sensiblen Daten zurückgehalten. Wir haben ihm nutzlose Informationen geschickt mit einem Köder. Wenn er anbeißt, haben wir ihn.«

»Gut«, brummt der Berliner. »Na, wenigstens hast du die Genehmigung«, stellt er fest und wedelt mit dem Dokument in der virtuellen Luft herum. Ohne mein Programm wärst du immer noch meilenweit davon entfernt, den höchsten Berg Deutschlands zu sehen.«

»Es gibt auch noch andere Alternativen«, entgegnet Sam lächelnd.

»So, welche denn?« Gespannt beugt Urs sich vor.

»Zum Beispiel ein virtueller Besuch.«

Der Berliner bricht in schallendes Gelächter aus. »Das ist nicht dein Ernst. Das kann man nie und nimmer mit einem Besuch vor Ort vergleichen. Keine Gefühle, keine Gerüche, kein Geschmack. Das ist doch todlangweilig.«

Sam lächelt selbstbewusst und schweigt, was die Neugier des Berliners weckt. Aufmerksam beobachtet er das Gesicht seines Zimmergenossen.

»Was verbirgst du vor mir?«, will er wissen.

»Wart’s ab.«

Evolution 5.0

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