Читать книгу Evolution 5.0 - Roy O'Finnigan - Страница 23
Оглавление1 Wechselbad der Gefühle
»Das also ist dein Reich.«
Vilca dreht sich einmal um die Achse in Sams Studentenappartement. Wände und Decke sind grün gestrichen, die Einrichtung spartanisch. Man sieht ihr an, dass sie mehr Stil erwartete.
Mit einer fließenden Bewegung windet sich die Sängerin aus ihrer Lederjacke.
»Nur zur Hälfte. Ich teile mir das Apartment mit Urs«, erläutert Sam, während er das Kleidungsstück entgegennimmt. Erst jetzt fällt ihm auf, dass Vilca nicht in sein Holovers eingeloggt ist.
»Das hier ist eigentlich eine Greenbox. Wenig beeindruckend. Schau dir lieber meine virtuelle Wohnwelt an. Ich bin sicher, sie wird dir gefallen. Ich habe dir den Zugang freigeschaltet.«
Die Sängerin hebt eine Augenbraue.
»Vielen Dank, aber ich sehe die Welt lieber erst mal so, wie sie ist.«
Sam geht ganz nah zu seiner Tanzpartnerin und schaut ihr ins Gesicht. Erst jetzt bemerkt er ihr ViDA. Es ist eine brandneue High-Tech-Designer-Apparaturen. Jede individuell gefertigt und mit einer Schicht Metamaterial überzogen, die das Licht herumleiten. Kostet ein kleines Vermögen und ist fast nicht zu sehen.
»Dein ViDa ist nicht aktiv«, stellt er fest.
Vilca ist frustriert. Sie fragt sich, was für ein Mann dieser Sam ist. Es erregt sie, ihn so nah bei sich zu spüren. Die Wärme, die er ausstrahlt, sein Atem, sein Geruch. Alles. Dazu der tiefe Blick in ihre Augen.
Und dann diagnostiziert er knallhart und sachlich, dass ihr ViDA nicht eingeschaltet ist. Sonst nichts? Wenn sie nicht genau wüsste, dass er aus Fleisch und Blut besteht, würde sie ihn zu einer neuen Generation Androiden zählen. Sie fragt sich, wie er es hinkriegt, ihr gegenüber so gefühllos zu sein. Vilca unterdrückt den Impuls, laut zu seufzen. So kann das nicht mehr weitergehen. Wird es auch nicht. Schließlich ist sie hier, um das zu ändern.
Durch Tippen an das Brillengestell aktiviert ihre Augmented Reality. Sanft wird sie in seine Welt hineingeführt. Ihre Augen weiten sich.
»Oh«, staunt sie. Die Sängerin lässt sich von der Szenerie in ihren Bann ziehen. Die Wiese an der Flussbiegung, auf der sich Sams Lebenswelt ausbreitet, altehrwürdige Bäume im Hintergrund, das Tipi. Sie fühlt sich sofort heimelig. Alles wirkt so vertraut, so friedlich.
»Ich will dir etwas zeigen. Bitte setz dich und schließ die Augen.«
»Lass mich doch erst mal umschauen«, protestiert sie und dreht sich mit ausgebreiteten Armen um ihre Achse. »Das ist wunderschön.«
»Vertrau mir. Es geht schnell. Du darfst sie gleich wieder aufmachen.«
Am liebsten würde Vilca sofort losgehen und seine Welt zu Fuß erkunden. Trotzdem folgt sie seinem Wunsch. Sie ahnt, was er vorhat und ist gespannt, was passieren wird. Seine Hände an ihrer Schläfe lassen sie erschauern. Er nimmt ihr das ViDA ab und setzt ihr etwas Anderes auf. Dem Gefühl nach ist es schwer und groß. Das krasse Gegenteil zu ihrem Modell. Sie greift nach seinen Händen. Er entzieht sich ihrem Griff und hantiert an dem Gestell herum.
»Mein Brain-Field-Modulator ist zwar nicht so elegant wie dein ViDA, aber er verfügt über andere Qualitäten. Du weißt schon welche. Wenn ich ihn gleich aktiviere, wird dir möglicherweise kurz schwindelig werden. Keine Angst, es dauert nicht lange. Am besten du lässt erst einmal die Augen geschlossen. Bist du bereit?«
Sie nickt nur. Kurz darauf greift etwas nach ihrem Geist. Ein Brummen und Hämmern breitet sich in ihrem Kopf aus. Ihr Körper fühlt sich an, als würde er in die Länge und Breite gezogen und durchgeknetet. Dazu ein Kribbeln am ganzen Leib. Vilca schwankt. Zum Glück sitzt sie bereits, sonst wäre sie umgefallen. Dann verliert sie jedes Gefühl für ihren Körper.
Keuchend schnappt sie nach Luft. Sie reißt die Augen auf. Bunte Farbpunkte blitzen auf wie im Drogenrausch. Die Testkandidatin kippt nach hinten. Geistesgegenwärtig fängt Sam sie auf.
»Vilca«, ruft er besorgt, »was ist mit dir?«
Sanft legt er sie auf den Boden. Sie antwortet nicht. Die Sängerin atmet flach und unregelmäßig.
»Enola!«
»Bin schon dabei. Die transkraneale Stimulation ist viel stark für sie. Ich regle das.«
Die Maßnahmen seiner digitalen Assistentin wirken unmittelbar. Mit Erleichterung beobachtet Sam, wie sich der Zustand seines Gastes mit jedem Atemzug beruhigt. Ein blauer Schmetterling flattert herbei und setzt sich auf ihre Schulter, als wollte er sie trösten.
Der Lärm in Vilcas Kopf ebbt ab und die Farbflecken ordnen sich zu einem Gesicht. Das Gefühl für ihren Körper kehrt zurück. Sie greift nach Sams Arm und hält sich daran fest.
»Was war das? Was hast du mit mir gemacht, Sam? Was habe ich getan, dass du mich dermaßen quälst?«
Ihr Blick ist mehr als Vorwurf und Frage. Er berührt etwas, das tief in Sams Herz vergraben ist. Auf einmal sieht er Vilca als Frau. Sie ist nicht mehr die perfekt gestylte Sängerin, die jede Situation fehlerlos meistert.
Er sieht sie als Mensch, verwundbar und mit Schwächen. In diesem Moment fühlt er sich ihr so nah wie noch nie jemanden in seinem Leben. Selbst mit Sophie gab es nie eine solche Vertrautheit. Doch der Gedanke an seine Jugendfreundin verdüstert sein Herz. Es ist, als raubte ein Schatten die Sonne. Wind peitscht über die trostlose Wintersteppe. Sam reißt sich zusammen, damit ihm die Situation nicht entgleitet. Er tut, was er immer in solchen Situationen tut. Sam konzentriert sich auf die Fakten.
»Entschuldige Vilca, das war ganz und gar nicht meine Absicht. Die transkraneale Stimulation war zu stark für dich. Das war nicht vorhersehbar. Bei Urs und Aya gab es keine Probleme mit dieser Einstellung.«
»Wer ist Aya?«
»Urs' Freundin. Geht’s wieder?«
Vilca greift sich an den Kopf. »Puh, lass mir noch etwas Zeit. Das war heftig. Ich glaube, ein Schluck Wasser würde mir jetzt guttun.«
»Kommt sofort.«
Erleichtert darüber, etwas tun zu können, springt Sam auf. Vilca sieht zu, wie er zu dem Brunnen eilt und ein Glas mit Wasser füllt. Immer noch aufgewühlt schließt sie die Augen. Sams Wohnlandschaft beruhigt sie. Das Plätschern des Baches, das Rascheln der Blätter in einer sanften Brise. Erst jetzt fällt ihr auf, wie würzig die Luft riecht. Es duftet nach Sommerwiese, Wald und ...
»Vilca?«
Eine Hand berührt sie an der Schulter. Sie zuckt zusammen. Die abrupte Berührung passt nicht in die Idylle ihrer Welt.
»Kannst du mich noch ein bisschen in Ruhe liegen lassen? Gerade fing ich an, mich von dem Schrecken zu erholen, den du mir eingejagt hast«, lamentiert die Biologiestudentin mit geschlossenen Augen.
»Dein Wasser.«
»Ach so.«
Die Sängerin bleibt liegen und öffnet den Mund. Der Kalifornier schaut sich verlegen um. Er weiß nicht, was er machen soll. Schließlich fährt er mit der Hand unter ihren Nacken und richtet ihren Oberkörper auf. Wie eine Schwerverletzte lässt sie sich das Glas an den Mund führen. Dann trinkt sie in einem Zug alles aus.
Vilca nutzt die Situation, schlingt die Arme um ihn und kuschelt ihren Kopf in seine Schulter. Noch immer hat sie die Augen geschlossen. Sam weiß nicht, wohin mit den Händen, traut sich nicht, die Umarmung zu erwidern.
»Vilca ...«
Sie bohrt einen Finger in seine Brust.
»Zier dich nicht so. Was ist schon dabei? Als deine Tanzpartnerin nimmst du mich jeden zweiten Tag in die Arme.«
»Ich weiß nicht ...«
»Entspann dich. Ich brauch' das jetzt. Außerdem schuldest du mir was. Eine ganze Menge sogar. Ich bin nicht sicher, ob du das jemals wieder gut machen kannst.«
Mit einem Seufzer ergibt er sich seinem Schicksal und legt die Arme um sie.
»Ich sagte doch, es ist ein Prototyp. Noch nicht serienreif«, plappert er los, weil er nicht weiß, was er sonst sagen soll.
»Das habe ich gemerkt. Schade, dass er nicht funktioniert. Aber du kriegst das bestimmt hin.«
Sam runzelt die Stirn.
»Wie meinst du das: Nicht funktioniert? Soll das heißen, du spürst nichts?«
Seine Stimme klingt enttäuscht. Vilca weiß, was er hören will, aber für das aufgezwungene Gefühlschaos lässt sie ihn zur Strafe zappeln.
»Nein«, antwortet sie gedehnt.
Sam aktiviert Enola und gibt ihr mit der Hand Zeichen. Kurz darauf tritt ein Einhorn aus dem Gebüsch. Es ist fast durchsichtig mit einem goldglitzernden Horn. Da Vilca immer noch mit geschlossenen Augen an seiner Schulter lehnt, sieht sie nicht, wie das Fabeltier heran trabt.
»Ich warte«, drängt die Biologiestudentin.
Das Einhorn stupst Vilca am Arm.
»Hey, was soll das«, fährt sie hoch. Vorwurfsvoll schaut sie Sam an. Dann erst bemerkt sie das Einhorn.
»Oooch, du bist aber süß. Wo kommst du denn her?«
Von einem Moment zum Nächsten ist Sam vergessen. Vilcas ganze Aufmerksamkeit gilt dem Fabeltier. Sie streichelt es am Kopf und das Einhorn leckt zum Dank an ihrer Hand.
»Hihi, das kitzelt.«
Plötzlich hält sie inne und wendet sich dem Kalifornier zu.
»Oh Mann, Sam! Das ist ja tatsächlich alles wie echt. Wie funktioniert das? Ich will alles wissen. Bis ins kleinste Detail. Auch über die Neuronenverbindung.«
Der Erfinder wundert sich über Vilcas Gesinnungswandel. Eben lag sie noch hilflos in seinen Armen und jetzt hängt sie wissbegierig an seinen Lippen. Der Zwischenfall scheint vergessen und vergeben. Froh über die Ablenkung gibt er Auskunft.
»Mein Interface liest und stimuliert das elektromagnetische Feld des Gehirns. Ich benutze supraleitende Spulen, um die notwendige Auflösung zu bekommen. Das Geheimnis liegt in den ausgetüftelten Algorithmen ...«
Ein Teil von Vilcas Gehirn folgt weiter Sams Ausführungen und saugt alles auf. Der andere schmiedet Pläne mit dem Brain-Field-Modulator. Allerdings muss Sam erst noch die Schwachpunkte des BFMs eliminieren. Noch einmal möchte sie nicht so durch die Cybermangel gedreht werden. Außerdem braucht sie einen zuverlässig funktionierenden BFM. Nur dann kann sie ihren Vater davon zu überzeugen, Sam finanziell zu unterstützen, damit er seine Neuro-Nanobots entwickeln kann.