Читать книгу Evolution 5.0 - Roy O'Finnigan - Страница 4
Оглавление1 Sieg und Niederlage
2053:
»Komm schon, Sam! Wir machen ein Rennen!«
Sophie dreht am Gas und ihr Motorrad heult auf. Sam seufzt. Warum müssen es unbedingt diese Benzinmotorräder sein? Er hasst die Dinger. Relikte aus einer niedergegangen Epoche. Aus der Zeit gefallen wie Ärzte, die eine Diagnose stellen oder Menschen, die Texte auf einer Tastatur tippen.
Die Maschinen machen einen Höllenlärm, sind unzuverlässig und stinken. Sam schüttelt den Kopf und ergibt sich seinem Schicksal. Mittlerweile kennt er seine Freundin lange genug. Er wusste, dass sie ihn zu einem Wettrennen herausfordern wird. Diesmal hat er etwas Besonderes vorbereitet.
Auch heute wartet Sophie nicht, ob er bereit ist. Ohne ihm eine Chance für einen fairen Start zu geben, braust sie davon. Sam beeilt sich hinterherzukommen. Willig folgt das Bike der gewundenen Passstraße. Im Grunde hat er nichts gegen Wettkämpfe. Aber seine Freundin legt es notorisch darauf an, bis zum Äußersten zu gehen. Maximales Risiko. Alles darunter ist für sie inakzeptabel.
Das war schon immer so. Selbst bei ihrer ersten Begegnung auf seines Vaters Ranch. Sam erinnert sich. Sie lief ihren Eltern voraus und rannte auf ihn zu. Schlank, knallenge Jeans und eine rote Bluse. Schon von weitem hatte sie das Windrad entdeckt. Als sie an ihm vorbeikam, rief sie nur, »komm mit!« Sie eilte einfach weiter. Ohne sich vorzustellen, ohne Begrüßung und ohne sich umzudrehen, um zu sehen, ob er folgt.
Dann kletterte sie auf den Turm und stoppte erst, als sie auf dem höchsten Punkt stand. Besser gesagt balancierte. Dass direkt neben ihr die Flügel durch die Luft schnitten, schien sie gar nicht zu bemerken. Sam weiß nicht mehr warum, aber er folgte ihr. Schnell stieg er zu dem hübschen Mädchen hoch bis es nicht mehr weiter ging.
Ganz oben auf der Spitze gab es nur Platz für einen. Sie dachte nicht daran, den Platz zu räumen. Zufrieden schaute sie auf ihn herab. Damals vermutete er, das schwarzhaarige Mädchen wollte ihm demonstrieren, dass sie als Weiße über ihm als Halbblut steht.
Schon bald zeigte sich jedoch, dass es ihr nur um eines ging. Sie wollte stets die Erste sein. Wenn jemand besser war als sie, forderte sie ihn solange heraus, bis sie gewann. Sophie wurde nie müde, es immer und immer wieder zu versuchen.
Schon als kleines Kind brauchte sie Freunde um sich, die bereit waren, sich jederzeit mit ihr zu messen. Sam mochte das nicht. Trotzdem machte er es immer wieder. Damals war er noch zu jung, um es zu verstehen, aber er hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Deshalb tat er alles, um ihr nah zu sein. So gesehen unterscheidet sich der heutige Wettkampf nicht von allen vorhergehenden.
Der Tag begann vielversprechend. Sam liebt den Geruch seiner Heimat. Früh morgens ist er am stärksten, wenn die Sonnenstrahlen das Land erwärmen und die Feuchtigkeit aus dem Boden verdampft. Dann strotzt die Luft nur so von den würzigen Erddüften des Napa Valleys. Mit tiefen Zügen atmet er sie ein und bereitet sich mental auf das Kommende vor.
Er kennt die Passstraße bis ins kleinste Detail. Er weiß bei jeder Kurve haargenau, wie er sie nehmen muss.
Als der entscheidende Moment da ist, dreht er bis zum Anschlag auf. Der Motor gibt seine akustische Zustimmung und zeigt ihm damit an, dass er zum Äußersten bereit ist. Seine Maschine reagiert mit einem Satz nach vorne. An dieser Stelle kann man einige Kurven fast gerade durchfahren. Zumindest, wenn man der ins Gesichtsfeld eingeblendeten Verkehrslagenanzeige seiner Augmented Reality vertraut, dass niemand entgegenkommt.
Seine schulterlangen Haare flattern hinter ihm her, als er sich flach über den Lenker duckt. Vielleicht liegt es an seinen indigenen Vorfahren, deren Gene sich in seinem Gesicht widerspiegeln. Vielleicht an der besonderen Situation. Jedenfalls sieht es so aus, als jage ein Falke seine Beute über die Passstraße.
Der Abstand zum Motorrad vor ihm verkürzt sich. Er kann seine Vorfreude kaum unterdrücken. Endlich eröffnet sich ihm eine Chance, es der ewigen Siegerin zu zeigen. Wenigstens einmal im Leben will er schneller sein als Sophie.
Monate intensiven Trainings liegen hinter ihm. Jetzt ist er im Flow. Alles ist eins. Die Straße, die Maschine, er selbst. Sein Vater lehrte ihn diese Meditationstechnik. Ein uraltes Ritual aus einer Geisterbeschwörungs- zeremonie. Seine schwarze Motorradkombi mit türkisen Navajosymbolen passt perfekt dazu.
Ein wunderbares Gefühl. Pures Adrenalin fließt durch seine Adern. Meter um Meter holt er auf. Schon ist er direkt hinter ihr. Gleich wird die Stelle kommen, an der er überholen kann. Es ist die einzige Stelle, die so kurz vor dem Ziel noch dafür in Frage kommt. Sam geht das Überholmanöver in Gedanken zum millionsten Mal durch. Soll er es wagen? Alles ist perfekt. Er muss es tun. Es gibt kein Zurück. So eine Chance bekommt er nie wieder. Im Grunde genommen ist es Wahnsinn, auf einer Passstraße in einer Kurve innen zu überholen. Aber es gibt keine Alternative. Er hatte sämtliche Varianten durchprobiert und verworfen.
Sophie legt ihr Motorrad in die Kurve. Ihr roter Schutzanzug glänzt in der Sonne. Sam folgt der Bewegung. Er muss nur die Geschwindigkeit halten und sein Motorrad flacher legen als sie. Der Rest ist angewandte Mathematik. Auf der Innenseite ist der Radius kleiner und demzufolge der Weg durch die Kurve kürzer. So würde er an ihr vorbeikommen und hätte gewonnen. Zum ersten Mal. Der Sieg ist zum Greifen nah. Es kann nichts schiefgehen. Sam hat es oft genug simuliert. Doch dieses Mal ist es real.
Noch nie spürte er das Leben so wie in diesem Moment. In seinen Adern fließt pures Adrenalin. Endlich bekommt er eine Ahnung, was seine Freundin an diesen Extremsituationen so liebt. Mittlerweile ist er auf Höhe ihres Hinterrades. Sein Knie schwebt nur Millimeter über der Straße.
Sam sieht das Unheil wie in Zeitlupe auf sich zukommen. Es gibt keine Möglichkeit, der Katastrophe auszuweichen. Er liegt so flach in der Kurve, dass seine Reifen auf dem Split sofort den Halt verlieren. Sein Motorrad rutscht seitlich in ihr Hinterrad.
Die Fahrerin bekommt keine Chance zu reagieren. Sophies Bike schleudert, sie verliert die Kontrolle, prallt gegen einen Felsbrocken am Straßenrand und wird im hohen Bogen durch die Luft gewirbelt. Das Geräusch des Aufpralls der Maschine brennt sich für immer in sein Gedächtnis ein.
Er rutscht zusammen mit seinem Motorrad über die Straße. Alles um ihn herum verschwimmt und ein Heulen martert seine Ohren. Sämtliche Airbags werden ausgelöst und dämpfen den Aufprall an der Felswand. Trotzdem verliert er das Bewusstsein.
***
Das Mädchen passt den Moment ab wie ein Krokodil, das im trüben Wasserloch auf seine Beute lauert. Den Augenblick nutzend, als ihr Vater zurück in den Stall geht, schwingt sie sich auf den Hengst.
Das Tier ist nicht mit Geduld gesegnet. Es wartet nicht, bis ihm die Reiterin die Sporen gibt. Es galoppiert sofort los. Auch verschwendet es keinen Gedanken daran, den Korral durch das Gatter zu verlassen. Stattdessen springt es über den Zaun.
»Yipppiiiieeeehhh« schreit die Kleine und spornt das Pferd an. »Schneller Wakanda, schneller!«, ruft sie ihm zu und legt sich flach über den Hals des Hengstes. Ihre Haare flatterten hinter ihr her wie ein Panther, der versucht sie einzuholen.
Sam überlegt nicht lange, sondern schwingt sich ebenso auf sein Pferd und galoppiert seiner Freundin hinterher. Wie immer die Augen fest auf die rote Bluse gerichtet.
Erst jetzt kommt ihr Vater aus dem Stall gerannt. Ihm bleibt nur noch, den Staubfahnen hinterher zu sehen.
Sophie genießt es, am Limit zu reiten. Sie spornt ihr Pferd zur Höchstleistung an. Sie weiß, dass es gefährlich ist, in dem Gelände so schnell zu reiten. Gerade das reizt sie. Für den Hengst ist sie eigentlich noch zu klein. Das spornt sie noch mehr an. Ihre Sinne sind aufs Schärfste gespannt. Neben ihr fliegt die Landschaft vorbei, alles verwischt. Vor sich nimmt sie jedes noch so kleine Detail wahr.
Sie fühlt sich eins mit ihrem Pferd. Es reagiert auf die geringste Bewegung von ihr. Mit sicherem Instinkt lenkt Sophie den Hengst. Größeren Hindernissen weicht sie aus, über kleinere springt sie hinweg. Schon taucht der Fluss vor ihr auf. Zu dieser Jahreszeit führt er wenig Wasser. Sie überquert ihn im vollen Galopp. Nur in Momenten wie diesen lebt sie wirklich. Der Rest ist grau und eintönig. Erst am anderen Ufer angekommen, verlangsamt sie das Tempo und dreht sich nach Sam um.
Sophie ist enttäuscht. Sam ließ sich auf der kurzen Strecke eine halbe Meile abnehmen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er endlich ankommt.
»Wie schaffst du es nur, so viel aus Wakanda herauszuholen?«, fragt er atemlos. »Ich bin so schnell geritten, wie ich konnte. Trotzdem habt ihr mich abgehängt.«
Das Mädchen wirft den Kopf in den Nacken und schaut ihn von oben herab an.
»Das sieht aber nicht danach aus«, erwidert Sophie scharf. »Vielleicht liegt es daran, dass du die Peitsche benutzt. Wakanda braucht das nicht. Ich bitte ihn, über die Weide zu fliegen und er tut das für mich. Vielleicht solltest Du das auch mal probieren.«
Bevor Sam Gelegenheit bekommt etwas zu erwidern, blitzt es in ihren braunen Augen auf. Sie gibt Wakanda die Sporen und galoppiert an ihm vorbei, wieder zurück zu der kleinen Ranch. Er sieht ihr nach. Das Bild verblasst und er ist wieder auf der Straße. Er wundert sich, warum ihm alle Knochen wehtun. Wieso er auf dem Boden liegt. Er erinnert sich.
Trotz seiner Schmerzen erhebt er sich und macht sich auf die Suche nach Sophie. So wie sie durch die Luft geflogen ist, befürchtet er das Schlimmste. Ihr Motorrad ist Schrott. Über ihm schrillt ein Adler.
Der Geruch von heißem Öl und Benzin wabert über den Trümmern. Es ist ihm egal, ob sie explodieren werden oder nicht. Zum ersten Mal verspürt er Angst um seine Freundin. Hat er einen Fehler gemacht? Sein Herz rast. Wo ist sie? Er schaut sich um und sieht sie etwa zwanzig Meter unterhalb der Straße auf einem Felsen liegen.
Es dauert, bis er hinuntergeklettert ist. Dabei muss er an frühere Wettrennen denken. Sophie liebt das Risiko. Nichts kann ihr extrem genug sein. Noch nie ist ihr etwas dabei passiert. Noch nie kam Sam so nahe an sie heran wie heute.
Jetzt liegt sie regungslos vor ihm. Die Airbags Ihrer Kombi zerfetzt von den scharfen Kanten der Felsen, Arme und Beine unnatürlich verdreht. Sams Herz setzt aus. Sie ist tot.
Trotz der Schmerzen in den Beinen kniet er sich neben sie und checkt den Health-State-Monitor. Doch sie lebt noch. Sams Puls beruhigt sich etwas. Ein Notfallteam ist alarmiert, wird aber achtundvierzig Minuten bis hierher brauchen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sophie überlebt, liegt bei fünfundsechzig Prozent.
Fünfundsechzig Prozent! Sam rauft sich die Haare. Er legt den Kopf in den Nacken und schreit seinen Seelenschmerz heraus. Felswände werfen den Schall zurück. Das kalte Echo erschüttert ihn.
Der Health-State-Monitor warnt ausdrücklich davor, sie zu bewegen. Sam weiß, dass die Verletzungen sehr schlimm sein müssen. Niemand hört seine Schreie.
Da er sonst nichts für sie tun kann, streicht er ihr die Haare aus dem Gesicht. Die Zeit steht still. Sam weiß, dass er sich schuldig fühlen sollte. Er kann es nicht. Stattdessen denkt er daran, wie oft er Sophie von solchen Stunts abbringen wollte, doch sie überredete ihn immer wieder zum Mitmachen.
Dabei war sie wenig zimperlich. Wenn er nicht wollte, setzte sie ihre weiblichen Reize ein oder die Drohung, ihn zu verlassen. Das wirkte jedes Mal. Oft fragte er sich, warum sie so ist.
Was hätte er tun können, den Unfall zu vermeiden? Hatte er nicht alles versucht? Sam hatte sogar ein spezielles Interface entwickelt, in der Hoffnung, dass sie sich Ihren Kick hin und wieder in einer virtuellen Umgebung holen würde. Aber Sophie hatte das von Anfang an abgelehnt.
Es sei ihr nicht real genug, sagte sie. Das sei alles nichts gegen echte Gefühle und echte Gefahr. Obwohl jeder bestätigt, dass sich die Gefühle im Holovers vollkommen natürlich anfühlen. Nur Sophie nicht. Sie ist nicht Jeder.
Um da einen Unterschied zu spüren braucht es schon einen sechsten Sinn. Vermutlich lag es eher an dem Aufwand, sich das MOTRAQ-Geschirr anzulegen. Zugegeben, acht Minuten sind nicht gerade kurz. Trotzdem. Er optimierte sogar den Stromverbrauch der Actionszenen, damit der Akku länger durchhält. Alle seine Bemühungen fanden keine Gnade in Sophies Augen.
Lieber fuhren sie stundenlang an besondere Orte, um sich dort von Klippen oder Brücken herabstürzen zu können. Oder wie heute ein Motorradrennen abzuhalten.
Mit Sams Verbesserung der Interfaces war Sophie stets unzufrieden. Nie genügten sie für den Adrenalinrausch, den sie zum Leben braucht.