Читать книгу Evolution 5.0 - Roy O'Finnigan - Страница 5
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»Lass mich in Ruhe mit deinen virtuellen Welten«, keift Sophie streitlustig. Obwohl zu schwach, um aufzustehen, ist sie bei diesem Thema kategorisch kompromisslos. Das gibt Anlass zur Sorge. Nicht nur für Sam, sondern auch für ihre Eltern und Freunde. Die Ärzte griffen tief in die Trickkiste der Medizin der 2050-er Jahre, um ihr Leben zu retten. Ob sie von den zahlreichen Knochenbrüchen, inneren Verletzungen und einem doppelten Wirbelsäulenbruch vollständig genesen wird, ist nicht sicher.
Die Hoffnung, dass sie nach dem Motorradunfall endlich zur Vernunft kommen würde, war verfehlt. Trotz ihrer schweren Traumata schmiedet sie schon wieder Pläne. Auf keinen Fall wird sie so weitermachen können. Jeder in ihrer Familie versuchte, es ihr zu sagen. Vergeblich.
Es wurde Kriegsrat gehalten und Sam um Hilfe gebeten. Alle Hoffnungen ruhen jetzt auf ihm. Er schaut sich in Sophies Krankenzimmer um. Es ist freundlich eingerichtet und mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet. Die medizinische Überwachungstechnik ist dezent versteckt. Und trotzdem liegt hier eine schwerverletzte Person. Sophie kann sich kaum bewegen und ist vollständig auf fremde Hilfe angewiesen.
Meist schläft sie. Sam hofft, sie umstimmen zu können, solange der Schock des Unfalls noch anhält. Deshalb nutzte er einen der wenigen Wachmomente, um mit ihr zu reden. Bisher verläuft es nicht gut. Er zupft sich sein Hemd zurecht, das er offen über einem T-Shirt trägt und krempelt die Ärmel hoch.
»Sophie, hör mir doch einfach mal zu! Deine Liebe zu Extremsportarten ist gefährlich. Ich möchte nur, dass du weniger riskante Alternativen in Betracht ziehst. Meine Simulationen sind die Besten der Welt. Das hast du selbst gesagt. Du kannst dir dort jederzeit einen Kick holen. Gefahrlos und so oft du willst.«
Sophie funkelt ihn an. Obwohl ihr Kopf fixiert ist, lässt sie ihn nicht aus den Augen. Sam versucht mit seiner Körpersprache Zuversicht auszustrahlen. Es gelingt ihm nicht.
»Und wenn sie die Besten sind. Das ist alles nichts gegen echte Gefühle und echte Gefahr. Bist du so schwer von Begriff? Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass die künstlichen Welten bei mir nicht funktionieren.«
»Bei allen anderen schon«, kontert Sam.
»Bei allen anderen«, höhnt Sophie. »Dass ich nicht lache. Es gibt Millionen so wie mich. Nichts kann das wahre Leben ersetzen. Du hast es vorhin selbst gesagt. Wie soll man sich einen Kick holen, wenn man von vornherein weiß, dass es gefahrlos ist?«
Sam seufzt. Aus ihrer Sicht betrachtet hat sie recht. Der Motorradunfall ist der beste Beweis. In der wirklichen Welt gibt es immer Überraschungen. So sehr er sich auch bemüht, die Realität kann er mit seinen Programmen nicht ersetzen. Aber er kann versuchen, so nahe wie möglich ranzukommen.
»Okay, meine Action-Szenarien sind noch nicht ganz perfekt. Aber ich arbeite daran. Ich bin kurz davor, einen Prototypen zu testen, der das elektromagnetische Feld des Gehirns abtastet und stimuliert. Damit kannst du Gefühle im Holovers noch realistischer empfinden. Das wird dich überzeugen.«
»Niemals!«, ruft sie wütend. »Hör auf mit deinen verdammten virtuellen Action- Simulationen! Ich will jemanden der das wahre Leben und wahre Gefühle mit mir teilt. Keinen Nerd, der den ganzen Tag vor dem Computer hockt und sich in multidimensionalen Cyberwelten vergräbt.«
Der Beschimpfte wirft einen Blick zum Fenster. Die untergehende Sonne malt den Himmel über den Hügeln gelb und rosa. Er liebt seine Heimat und verbringt so viel Zeit wie möglich im Freien. Heute erreicht die Stimmung zwar sein Auge, aber nicht sein Herz.
»Von wegen den ganzen Tag vor dem Computer rumsitzen«, protestiert Sam und schüttelt den Kopf. »Du weißt, dass das nicht stimmt. Außerdem sind meine Simulationen wesentlich gesünder als deine Aktivitäten. Ich liebe dich und ich würde es nicht ertragen, dich noch einmal halb tot vor mir liegen zu sehen.«
»Pah! Du liebst mich, weil ich eine lebendige Frau bin. Kein Programm kann mich je ersetzen. Wenn das alles ist, worüber du mit mir sprechen willst, dann brauche ich dich nicht. Dann kannst du auf der Stelle verschwinden. Am besten du simulierst dir eine Freundin.«
Sam bemüht sich, die letzte Bemerkung zu ignorieren. Trotzdem ist er im Inneren aufgewühlt. Am liebsten würde er im Zimmer auf und abmarschieren, um wenigstens etwas von seiner emotionalen Energie abbauen zu können. Da Sophie den Kopf nicht drehen kann, bleibt er am Fuß des Bettes stehen. Seine Finger trommeln auf den Metallbügel.
»Aber meine Action Spiele sind perfekt geeignet zum Training. Ich habe damit geübt. Diesmal hätte ich dich geschlagen.«
Sophie wirft ihm einen abschätzenden Blick zu. Über der Nase bildet sich eine steile Falte.
»So, du glaubst also, du kannst mich mit deinen Programmen besiegen?«, fragt sie verbissen. »Was hast du denn trainiert? Mich von der Straße zu schubsen? Ha! Mit solchen Tricks arbeitest du jetzt also. Du erträgst es nicht, dass du mich noch nie besiegt hast. Ich warne dich. Auch mit unfairen Mitteln wird dir das niemals gelingen.«
Sam erschrickt. So wütend und abweisend hat er seine Freundin noch nie erlebt. Wie kann sie so etwas von ihm denken? Bestimmt eine Nachwirkung des Schocks.
»Sophie, was redest du? Ich liebe dich! Wie kannst du glauben, ich hätte das absichtlich gemacht?«
»Tatsache ist, dass du mich von der Straße gerammt hast. Das hat verdammt weh getan.«
Am liebsten hätte Sam das Thema gewechselt. Aber das geht nicht. Er muss es ihr sagen.
»Ich kann ja verstehen, dass du wütend auf mich bist. Trotzdem musst du damit aufhören. Du darfst so nicht weitermachen.«
»Wer sagt das? Du? Hör zu, Feigling-«, spuckt sie ihm entgegen, »Was ich tue oder nicht, bestimme immer noch ich selbst. Lieber bin ich tot als in deine Simulationswatte verpackt. Da wird man ja stumpfsinnig. Wenn du die Realität nicht aushältst, ist das dein Problem. Von Einem, der mich hinterhältig von der Straße räumt, lasse ich mir nichts verbieten. Gar nichts! Kapierst du das?«
Sam sieht sie bekümmert an.
»Sophie, versteh doch. Es tut mir in der Seele weh. Ich würde dir nie etwas verbieten. Es sind die Ärzte. Sie haben deine Psyche analysiert und- «
»Und was?«, unterbricht sie ihn scharf. Sam zuckt zusammen. Sie ist kurz davor zu explodieren. Am besten, er bringt es jetzt schnell über die Bühne.
»Das Psychoanalyseprogramm diagnostizierte, dass du mit deiner Sucht nach Risiko dich und andere gefährdest. Deshalb musst mit einer Therapie beginnen. Du hast die Wahl: entweder freiwillig oder unter Zwang.«
Vermutlich hätte sie ihn jetzt tätlich angegriffen, wenn die Schienen und Fixierungen nicht wären. Sam sieht, welche Mühe es sie kostet, sich zu beherrschen. Sie durchbohrt ihn mit ihrem Blick. Sam spürt, wie sich in ihr etwas verändert. Er kann ihr nicht länger in die Augen sehen. Sein Blick wandert zum Fenster. Die Sonne verbrennt gerade den Horizont.
Schließlich bricht Sophie ihr Schweigen. »Verschwinde«, sagt sie mit einer Feindseligkeit, die er bei ihr nicht für möglich gehalten hätte. Eine kalte Hand greift nach seinem Herzen und drückt zu.
»Sophie, ich-«
»Verschwinde. Ich will dich nie wieder sehen.«
Sam weiß, dass es aus ist. Er sieht den Bruch in ihren Augen. Der Boden unter ihm wankt. Alles dreht sich. Mit letzter Kraft taumelt er aus dem Zimmer. Sophies und seine Eltern sehen ihn gespannt an. Schwer an den Türrahmen gelehnt schüttelt Sam den Kopf. Zu mehr reicht seine Energie nicht.
Als ihn seine Mutter in die Arme nimmt, kann er seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Er schämt sich nicht. In diesem Moment ist ihm alles egal. Alles. Sein Herz ist gebrochen. Er spürt nichts mehr.
***
»Herr Lee, bitte stellen Sie die Rückenlehne wieder senkrecht. Wir landen in wenigen Minuten.« Sam blinzelt die Servicedroidin verschlafen an. Er braucht einen Moment sich zu orientieren. Zuerst glaubt er an einen Alptrum. Dann wird ihm klar, dass er während des Flugs von Sophie geträumt hat.
Sein Flug nach Berlin. Flucht oder Abschiebung? Er hofft jedenfalls, dass dort sein Schmerz nachlässt. Dass er in einer neuen Umgebung auf andere Gedanken kommen und Sophie mit der Zeit vergessen kann.
Der Vorschlag kam von seinen Eltern. Sie organisierten alles. Er selbst war zu nichts in der Lage. Ein Teil von ihm wollte so schnell wie möglich weg von allem, was ihn an sie erinnert. Der andere Teil gab sich der Lethargie hin, um in seinem Schmerz zu baden. Am Flughafen musste man ihn regelrecht in die Maschine schieben.
Sam schaut nach unten. Die virtuelle Projektionstechnik erlaubt es ihm, durch den Boden des Flugzeugs zu sehen. Es ist Mitte April und die Sonne gibt ihr Bestes, die Vegetation aus dem Winterschlaf zu wecken. Dank Schallunterdrückung gleitet er lautlos über ein Blütenmeer hinweg. Zwischen den Obstbäumen tauchen Häuser auf. Er ist überwältigt von den Farben. Ganz anders als das trockene und staubige Kalifornien.
Fast meint er, den Frühling zu riechen. Er kann sich diesem Zauber nicht entziehen. Ein zartes Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen. Mit einem Mal ist er gespannt darauf, das Geburtsland seiner Mutter kennenzulernen.