Читать книгу Seewölfe Paket 3 - Roy Palmer - Страница 25

2.

Оглавление

Bill, der Pferdewagenbesitzer, stoppte am Ausgang der Western Road. Er stemmte die Füße gegen das Bodenbrett des Bocks, zerrte an den Zügeln und rief sein „Brrr“. Dann wandte er sich zu seinen fünf Fahrgästen um. Er grinste. Seine schadhaften Zähne wurden wieder sichtbar.

„Also, ich habe euch zu Sir Freemont und wieder zurück transportiert. Wie ist es mit meiner Bezahlung?“

Der Kutscher blickte nervös auf die dichte Menschenmenge, die sich am Anfang der langgestreckten Pier bewegte. Es schien in ihr zu brodeln. Einige Fuhrwerke hatten sich dicht hintereinandergeschoben und sorgten für einen Stau am Rand der Masse. Auf ihren Sitz- und Ladeflächen standen Männer und Frauen. Sie schüttelten die Fäuste und stießen Flüche aus.

Der Blick zur „Isabella“ war versperrt, doch konnten der Kutscher und seine Begleiter wohl die drei Maststengen und die Flögel erkennen. Der Kutscher drückte Bill rasch einen kirschkerngroßen Edelstein in die Hand.

„Das ist als Bezahlung reichlich“, sagte der Kutscher, dann war er auf dem Straßenpflaster und hastete los. Stenmark, Matt Davies, Al Conroy und Gary Andrews verließen ebenfalls die Kutsche. Bill blickte auf den glitzernden Edelstein, kratzte sich am Hinterkopf und sperrte vor Überraschung den Mund auf. Dann ließ er den Juwel schnell in seiner Tasche verschwinden, schaute den Männern nach und murmelte: „Danke schön.“

Der Kutscher erreichte die Menschenmenge als erster. Er schob die Leiber mit den Händen auseinander und bahnte sich einen Weg. Er mußte Boxhiebe und Ellenbogenknüffe einstecken. Männer fluchten. Ein etwa zwölfjähriger Junge trat ihm auf den Fuß. Jemand stellte ihm schließlich ein Bein, und er kam mitten zwischen den aufgebrachten Menschen zu Fall. Sofort beugten sich zwei, drei Kerle über ihn, um ihn zu treten und zu schlagen.

„Unverschämtheit, sich einfach so durchzudrängeln!“

„Was will dieser Hund?“

„Gebt es ihm!“

Die Männer staunten nicht schlecht, als sich ein blinkender Eisenhaken in ihr Blickfeld schob. Matt Davies wies seine Prothese vor. „Das Ding ist scharfgeschliffen, ihr Stinker, und ich kann damit Holz hacken, Spundlöcher verdübeln, mir in der Nase bohren oder euch die Schädel eindellen.“

Stenmark, Al und Gary bauten sich neben ihm auf. Und plötzlich, als habe es sie nie gegeben, waren die Kerle verschwunden, die den Kutscher hatten traktieren wollen. Gary Andrews griff sich einen der in der Nähe Stehenden. Der Mann blutete aus einer Wunde am linken Unterarm.

„Du tust mir weh!“ stöhnte er.

„Was ist hier los, was ist vorgefallen?“

„Die Stadtgarde ist erschienen, wißt ihr das nicht? Friedensrichter Burton führt sie an. Das Schwein hat auf alle schießen lassen, die sich nicht gleich verdrückt haben“, stieß der Mann erbittert hervor.

Gary ließ ihn frei, dann eilten sie weiter. Sie hatten sich durch die dikke Menschentraube gekämpft und dachten, ihr Schiff nun im Endspurt erreichen zu können – da blieben sie wie vom Schlag getroffen stehen.

Die „Isabella V.“ hatte ihnen das Heck zugewandt. Sie konnten gerade noch verfolgen, wie sie unter Vollzeug aus der Mill Bay glitt und in den Plymouth Sound lief. Der Kutscher und seine Freunde sahen auch den tobenden Baldwin Keymis und den fetten Kerl neben ihm, der sich noch wilder gebärdete.

„Hölle und Teufel“, sagte Al Conroy. „Der Fettsack da, das ist der Friedensrichter Burton. Wie er seinem Bruder ähnlich sieht, dieser Bastard! Ich kann mir vorstellen, was sich abgespielt hat. Ich brauche nur Keymis’ Visage zu sehen.“

Matt Davies spuckte aus. „Verdammt, jetzt haben wir den Salat. Wir hätten Keymis in die See schmeißen sollen, bevor wir hier einliefen.“

„Kaufen wir ihn uns“, sagte Gary Andrews.

Stenmark fügte hinzu: „Burton nehmen wir auch gleich mit in die Mangel.“

„Seid ihr verrückt?“ Der Kutscher blickte sie an. „Das wäre glatter Irrsinn. Die Stadtwache ist in der Übermacht. Ich sehe auch keinen Zweck darin, den beiden Schurken ausgerechnet jetzt einzuheizen. Dadurch machen wir alles nur noch schlimmer.“

„Zur Seite“, sagte Gary Andrews. „Die Hunde rücken ab. Wenn wir schon nichts unternehmen, halten wir uns am besten ganz im Hintergrund.“

Sie tauchten in der Menge unter und sahen Keymis, Burton und die Männer der Stadtgarde sehr nach an sich vorbeiziehen.

„Dreckskerle“, flüsterte Al Conroy. „Die wollten sich den Schatz schnell und ohne viel Aufhebens unter den Nagel reißen. Aber sie haben sich geirrt. Niemals hätte Ben es zugelassen, daß jemand die Hand auf unsere Beute legt. Eher hätte er ganz Plymouth in Schutt und Asche geschossen.“

Sie blickten der Garde nach. Und dann war es Gary Andrews, der am schnellsten schaltete. „Moment mal, die marschieren doch nicht ostwärts zur Guildhall – die wenden sich nach Norden.“

„Burton und Keymis steigen in eine Kutsche“, sagte Stenmark. Er reckte den Hals, so hoch er konnte. „Und die Kutsche rollt jetzt den Soldaten der Garde voran.“

Der Kutscher erbleichte. „Mir geht ein Licht auf, Freunde. Mein Gott.“

Gary fluchte. „O Mann, diese Verbrecher wollen sich auf unseren Seewolf stürzen. Natürlich hat Keymis mitgekriegt, daß wir Hasard von Bord gebracht haben. Zu dem Zeitpunkt befand er sich ja noch auf der ‚Isabella‘. Zwar steckte er im Vorschiff, aber wie üblich hatte er seine Augen und Ohren überall, die Ratte. Und natürlich kennt er Plymouth und weiß, daß es hier nur den einen Arzt gibt, zu dem wir Hasard geschafft haben könnten – Sir Freemont.“

„Sir Freemont muß gewarnt werden“, sagte der Kutscher.

„Also“, drängte Gary „nichts wie hin. Auf was warten wir noch?“

Al Conroy stieß plötzlich einen Ruf aus. Er wies mit der ausgestreckten Hand nach Süden. „He, seht doch mal quer über die Mill Bay!“

Die anderen wandten sich um. Sie hielten mit angespannten Mienen Ausschau und erkannten nun auch über die etwa 400 Yards lange Bucht hinweg die Kriegskaravelle, die an der Pontoon Pier lag und soeben seeklar gemacht wurde.

„Zum Henker!“ Der Kutscher riß die Augen weit auf. „Die Gestalt auf dem Achterdeck der Karavelle, dieser Bulle von einem Kerl ...“

„... ist kein anderer als Sir John Killigrew“, vervollständigte Al Conroy. „Verfluchter Mist. Hier gibt es aber auch Verdruß von allen Seiten. Der Teufel soll Plymouth holen! Mir schwant was ganz Böses, Freunde.“

„Da gibt es nur eins“, sagte Stenmark. „Wir müssen uns sofort trennen. Jemand muß sofort Sir Freemont alarmieren, und jemand muß auch dem verdammten Sir John nach. Der will sich unsere ‚Isabella‘ schnappen.“

Matt Davies nickte erregt. „Klar, wir dürfen Ben und die anderen auf keinen Fall im Stich lassen.“

Gary sagte: „Nur einer von uns braucht in die North Road zu laufen und Sir Freemont zu warnen. Kutscher, ich schlage vor, du erledigst das.“

„Geht in Ordnung. Und ihr?“

„Wir besorgen uns ein Schiff.“

„Wie wollt ihr das denn schaffen?“

„Laß das unsere Sorge sein“, erwiderte Gary grimmig. „Was Sir John kann, das bringen wir auch fertig. Los, Kutscher, steh hier nicht länger herum. Du hast keine Sekunde mehr zu verlieren.“

Der Kutscher griff in die Tasche und beförderte den prall gefüllten Lederbeutel zutage. Er reichte ihn Al Conroy. „Hier, nimm ihn in Verwahrung. Ich benötige an Land keine Perlen und Juwelen, aber ihr könntet sie gebrauchen. Wo treffen wir uns später?“

„Bei Sir Freemont – falls überhaupt jemals“, entgegnete Gary.

„Das walte Gott.“ Der Kutscher hob noch einmal die Hand zum Gruß, dann drehte er sich um und war in der Menschenmenge verschwunden.

Gary, Al, Matt und Stenmark versuchten noch, seine Gestalt zu erkennen, aber das war unmöglich. Die Menge bewegte sich jetzt auf die Western Road und die anderen Straßen und Gassen des Hafenviertels zu und war im Begriff, sich zu zerstreuen. Wie eine große Woge trieb sie fort und spülte den Kutscher mit weg.

„Hoffentlich trifft er noch rechtzeitig bei Sir Freemont ein“, sagte Stenmark.

„Der Kutscher ist kein Holzkopf“, sagte Matt. „Los, sehen wir uns nach einem Schiff um, sonst verlieren wir noch den Anschluß.“

Al Conroy war es wieder, der die Hand nach Süden hob. „Da liegt noch was an der Pontoon Pier, eine Schaluppe.“

Sie blickten sich an und grinsten plötzlich.

Der Kutscher geriet fast wieder mit den Bürgern von Plymouth in Konflikt. Am Beginn der Western Road prallte er gegen einen Mann. Mit einer Entschuldigung stahl er sich aus dessen Nähe fort, rannte weiter, stieß dann aber um ein Haar mit einer dicken Frau zusammen, die ein kleines Kind auf dem Arm trug. Die Frau fing an zu zetern. Jemand fluchte.

Und von irgendwoher rief eine Männerstimme: „Da ist der Kerl ja schon wieder!“

Der Kutscher tauchte schleunigst im Dunkel einer Seitengasse unter. Er kannte Plymouth wie seine Wamstasche. Schließlich hatte er hier lange genug gelebt und gewirkt, und als ehemaliger Kutscher war ihm noch jede Abkürzung ein Begriff.

Aber er mußte Burton, Keymis und die Stadtgarde überholen. Die Friedensrichter hatten eine Kutsche. Die Soldaten marschierten stramm, außerdem hatten sie bereits einen beachtlichen Vorsprung. Der Kutscher hätte jetzt einiges für ein Gefährt gegeben. Aber am Hafen war kein Wagen mehr aufzutreiben gewesen, nicht einmal ein schäbiger Lastkarren. Alle waren in die Stadt unterwegs, um die Schaulustigen zurück zu ihren Häusern zu bringen oder sich möglicherweise auch zu irgendwelchen Treffpunkten zu begeben, an denen die Ereignisse auf der Pier noch einmal von vorn bis hinten durchgekaut werden würden. Sicherlich würde auch Nathaniel Plymson, der Wirt der berüchtigten Kneipe „Bloody Mary“, Hochbetrieb haben.

Der Kutscher verließ die Gasse und wollte eine schmale, kopfsteingepflasterte Straße überqueren. Dabei lief er in seiner Hast beinahe gegen ein Pferd. Das Pferd gehörte zu einem Zweiergespann. Beide Tiere erschraken, bäumten sich auf und wieherten. Der Kutscher begann, in allen Tonlagen zu fluchen.

Aber dann hörte er seinen Namen rufen. „Kutscher, Kutscher!“

Überrascht blieb er stehen. Er wandte den Kopf und erkannte das Fahrzeug hinter dem Gespann. Es war Bills Kutsche.

Und Bill, dieser Teufelsbraten, lud soeben eine Fuhre Leute aus und rief ihnen zu: „Los, aussteigen, die Reise ist zu Ende. Ich habe was Wichtigeres zu tun, als euch Taugenichts kostenlos durch die Gegend zu befördern. Lauft ein bißchen, das ist gut für die Hühneraugen.“ Er lachte. „He, Kutscher, zu mir auf den Bock! Ich sehe ja, daß du es eilig hast.“

Kurz darauf jagte die Kutsche dem Nordende der Stadt zu. Bill ließ die Peitsche knallen und trieb seine Pferde zum Höchsttempo an. Sie galoppierten. Es war eine wilde, waghalsige Fahrt, aber Bill hatte keine Bedenken, das Risiko eines Unfalls einzugehen.

„Von dem Edelstein kann ich mir glatt eine neue Kutsche kaufen!“ rief er. Der Kutscher hatte ihm hastig auseinandergesetzt, um was es ging. „Außerdem glaube ich, daß ihr prima Kerle seid, euer Seewolf und ihr. Der Bursche mit der Hakenhand hat mir zwar gedroht, aber ich schätze, er hat es nicht so gemeint.“

„Du bist ein wahrer Freund, Bill“, antwortete der Kutscher. „Den Gefallen vergesse ich dir nicht.“

Den beiden Pferden stand flockiger Schaum vor Mäulern und Nüstern, als sie vor Sir Freemonts Haus an der Ecke North Road und Stoke Hill angelangt waren. Ihre Leiber waren schweißbedeckt.

„Ruhig“, sagte Bill. „Ganz ruhig, ihr verflixten Klepper, das Rennen ist ja gelaufen. Kutscher, mach’s gut.“

„Du haust am besten gleich wieder ab. Burton, Keymis und die Stadtgarde können jeden Augenblick eintreffen.“

„Ha, wie wir die überholt haben, was?“

„Ja. Danke.“

„Hör doch endlich auf.“

Der Kutscher sprang vom Bock und lief über die Straße in den Vorgarten des Freemontschen Hauses. Bill fuhr mit seiner Kutsche weg, das Rattern der Räder und Klappern der Hufe verlor sich.

Der Kutscher wollte mit beiden Fäusten gegen die Tür des Hauses hämmern. Aber er besann sich. Damit würde er Gwen erschrecken. Sie hatte entsetzlich viel durchgemacht und war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Außerdem erwartete sie ein Kind. Hasard brauchte Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe, aber auch seine junge Ehefrau hatte Schonung bitter nötig.

Also betätigte der Kutscher den Türklopfer. Er zwang sich zur Ruhe. War da nicht schon das Trappeln von Schritten aus Richtung Stonehouse Mill Pond zu vernehmen, das Knirschen von Kutschenrädern? Wenn Burton und Keymis den Seewolf fanden und abholten, dann war alles aus.

Die Tür wurde spaltbreit geöffnet.

Ein keckes Gesicht schob sich ihm entgegen, ein blonder Junge mit Sommersprossen und Stupsnase.

„Dan“, sagte der Kutscher. „Laß mich sofort ein, oder der Teufel soll dich holen.“

Dan war überrascht, aber er reagierte sofort.

„Was ist denn passiert?“ fragte er, als der Kutscher an ihm vorüberschlüpfte.

Inzwischen war auch Sir Anthony Abraham Freemont in den Flur getreten. Er war ein schlanker Mann mit hagerem, wissenden Gesicht, das von klugen, grauen Augen beherrscht und von grauen, vollen Haaren gekrönt wurde. Etwas von der Verstimmung über die Störung war noch in seiner Miene zu lesen, doch als er den Kutscher erkannte, glätteten sich seine Züge.

Bevor er eine Frage stellen konnte, sagte der Kutscher mit gedämpfter Stimme: „Friedensrichter Burton und Friedensrichter Keymis aus Falmouth haben vergebens versucht, die ‚Isabella‘ zu beschlagnahmen. Jetzt sind sie hierher unterwegs. Mit der Stadtgarde.“

Sir Freemont legte die Stirn in Falten.

„Aha“, sagte er, und dann: „Burton. Ein schöner Friedensrichter ist mir das. Ich kenn seine miesen Praktiken und weiß, daß er ständig in die eigene Tasche wirtschaftet. Der Mann ist der Inbegriff von Korruption und Vetternwirtschaft. Aber mit solchen Methoden hat er bei mir nichts zu melden.“

Gwen trat aus dem Halbdunkel des Flurendes. „Es ist nett von dir, Kutscher, mich nicht erschrecken zu wollen. Aber ich habe trotzdem alles verstanden. Was tun wir jetzt?“

Sir Freemont wandte sich zu ihr um. „Nicht verzagen, mein Kind, solange ich den Seewolf unter meinen Fittichen habe, spielt sich hier gar nichts ab. Kutscher, Dan, helft ihr mir? Wir bugsieren unseren Patienten sehr, sehr vorsichtig in ein anderes Zimmer.“

„Du wirst schon sehen“, sagte Dan zuversichtlich zum Kutscher. „Wir schlagen diesem fetten Schwein Burton ein Schnippchen.“

„Er wird das Haus durchsuchen.“

„Abwarten“, sagte Sir Freemont. Er stieg vor ihnen die Holztreppe ins Obergeschoß hinaus. „Weißt du, Kutscher, es gibt Dinge in diesem Gebäude, die selbst dir während deiner Dienstjahre bei mir nicht offenbar geworden sind.“

„Ich – das verstehe ich nicht.“

„Ich hoffe, ihr könnt schweigen.“

„Aye, aye, Sir“, sagte Dan O’Flynn.

Sie betraten das Krankenzimmer. Philip Hasard Killigrew lag noch so da, wie der Kutscher ihn zusammen mit Matt, Al, Gary und Stenmark verlassen hatte. Er befand sich in tiefer Bewußtlosigkeit. Sein Gesicht war aschfahl, nur die Narbe, die er in der Neuen Welt empfangen hatte, hob sich etwas ab. Sonst war von der Sonnenbräune seiner wettergegerbten Haut nichts mehr zu sehen. Das Fieber hatte ihn ausgelaugt. Die eiternde Kopfverletzung ließ ihn unsägliche Qualen leiden.

Zweimal während der Fahrt von Portugal nach Plymouth war er zu sich gekommen, hatte phantasiert und um sich geschlagen. Er wandelte auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod und hatte es nur seiner ausgezeichneten körperlichen Verfassung und Stärke zu verdanken, daß er noch am Leben war.

„Die Trage“, sagte Sir Freemont.

Der Kutscher holte sie aus dem Nebengelaß, in dem sie sie vorher untergebracht hatten. Es war die Trage, die Ferris Tucker auf der „Isabella V.“ gezimmert hatte und mit der sie den Seewolf transportiert hatten. Sie hoben Hasard mit vereinten Kräften vom Bett auf die Trage. Den Kutscher überfiel ein scheußliches Gefühl, als er seinen Kapitän anfaßte. Der Seewolf war schlaff und reglos. Nur die Körperwärme verriet, daß er überhaupt noch am Leben war.

Sie brachten ihn in ein anderes Zimmer, dessen eine Wand durch einen riesigen Eichenholzschrank fast ganz ausgefüllt wurde.

„Absetzen“, sagte Sir Freemont. „Wir richten es unserem Patienten in einem Nebenraum gemütlich ein. Dort ist es etwas enger, aber er ist dort absolut sicher.“

„Nebenraum?“ wiederholte der Kutscher verwundert. „Wo in aller Welt gibt es denn hier einen Nebenraum?“

Sir Freemont lächelte und öffnete die Schranktür. Zum großen Erstaunen des Kutschers stieg er hinein und drückte mit den Fingern gegen die Rückwand. Es knarrte leise. Eine Geheimtür tat sich auf, der Zugang zum Nebenraum war frei.

Der Kutscher strahlte. „Himmel, und in all den Jahren, die ich bei Ihnen war, habe ich davon nichts geahnt, Sir!“

„Ich habe es niemandem verraten. Niemandem! Nur ich wußte von dem versteckten Zimmer.“

„Richtig“, sagte Dan. „Wenn man ein Geheimnis hat, darf man es nicht mal seiner taubstummen Urgroßmutter anvertrauen.“

„Sir“, versetzte der Kutscher bewegt. „Ich habe ja gewußt, daß Sie diesem Burton nicht klein beigeben.“

„Dem? Niemals.“

Gwen zuckte zusammen. Unten wurde gegen die Haustür geklopft, und zwar hart und verlangend.

Sir Freemont lächelte immer noch. Jetzt bewies er, daß nicht nur der Arzt aus Berufung und Leidenschaft, sondern auch ein ganzer Mann in ihm steckte. „Männer, packt bitte an, und dann nichts wie hinein mit dem Seewolf in unser verborgenes Zimmer. Bleibt bei ihm, rührt euch nicht vom Fleck und redet um Gottes willen nicht. Mrs. Killigrew, bitte seien Sie ganz unbesorgt.“ Er legte Gwen väterlich die Hand auf die Schulter. „Wir meistern die Lage schon.“

„Danke, Sir.“

Sir Freemont ließ sie durch den Schrank in den Nebenraum. Er schloß die Geheimtür, trat aus dem Schrank und drückte auch dessen Tür zu. Dann begab er sich ohne Hast ins Erdgeschoß. Inzwischen wurde gegen die Haustür gewummert, daß die Tür aus ihrem Rahmen zu brechen drohte.

Sir Freemont schloß auf und öffnete. Friedensrichter Burton stolperte ihm fast in die Arme. Gerade hatte er wieder gegen die Tür trommeln wollen und verlor jetzt beinahe das Gleichgewicht. Er war ein übergewichtiger Mensch mit immensem Bauch und Hängewangen, die im Gleichklang wackelten. Obwohl erst Anfang der Dreißig, sah er bereits verlebt aus, und die Perücke verjüngte ihn auch nicht gerade. Er schwitzte, sein kurzer Atem ging pfeifend. Mit flackerndem Blick richteten sich seine braunen Augen auf den Arzt.

Sir Freemont zog die Augenbrauen hoch. „Nun, meine Herren? Was verschafft mir die Ehre? Richter Burton, ist das vielleicht eine Art, an die Haustür eines Arztes zu klopfen?“

Burton wies mit einer ausladenden Geste auf die Männer, die sich hinter ihm drängten. Seine Arme waren kurz, seine Figur glich einem riesigen Kürbis. Er wirkte schon sehr grotesk, wie er da vor Sir Freemont herumfuchtelte. Der hagere Mann mit dem Ziegenbart und dem listigen Blick gleich hinter ihm, so vermutete der Arzt, konnte nur Baldwin Keymis sein.

„Sir“, sagte Burton schnaufend. „Reden wir von Anfang an Klartext, und spielen wir mit offenen Karten.“

„Sie benötigen meine Hilfe?“

„Nein.“

„Warum dann dieser Truppenaufmarsch?“

„Sir! In Ihrem Haus hält sich ein Verbrecher versteckt.“

„Ein Verbrecher? Das soll wohl ein Witz sein?“

Keymis trat vor. Er war genauso wütend wie Burton, nur äußerte sich dies auf weniger aberwitzige Art als bei dem Dicken. Keymis war rot im Gesicht. Er stand stocksteif, seine Stimme klang gepreßt.

„Kein Schattenboxen, Sir. Leugnen Sie nicht, wir wissen ganz genau, daß Philip Hasard Killigrew zu Ihnen gebracht wurde. Wer anders als Sie sollte wohl seine schwere Schädelverletzung kurieren?“

Sir Freemont blieb kalt. „Sie scherzen wirklich, Gentlemen. Ich wohne und arbeite seit langem in Plymouth, aber so etwas ist mir noch nicht passiert. Haben Sie nichts anderes zu tun, als unbescholtenen Bürgern zur Last zu fallen, Friedensrichter Burton?“

Burton zitterte. „Das hat Folgen für Sie, Mann. Sie beherbergen einen Verbrecher. Einen Mörder. Sie gewähren hier widerrechtlich einem von der Obrigkeit verfolgten Schurken Asyl und streiten auch noch alles ab. Aber damit kommen Sie nicht durch. Bei mir nicht! Sie gefährden Ihre Karriere als Arzt, Sir!“

„Wie, sagten Sie, heißt dieser Mann?“

„Killigrew!“ brüllte Burton.

„Killigrew, der Name kommt mir bekannt vor“, erwiderte Sir Freemont. „Aber bitte nicht so schreien. Ich bin nicht schwerhörig. Des weiteren erteile ich Ihnen einen guten Rat, mein lieber Burton. Ändern Sie Ihren Lebenswandel. Essen Sie weniger fett, trinken Sie weniger, frönen Sie keinem Laster und fahren Sie nicht bei jeder Kleinigkeit gleich aus der Haut. Sie haben ärztliche Behandlung wirklich nötig.“

„Der will uns auf den Arm nehmen“, sagte Keymis.

Sir Freemont musterte ihn kalt. „Wer ist dieser Mann, Mister Burton?“

„Baldwin Keymis, der Friedensrichter von Falmouth.“

Sir Freemont sagte zu Keymis: „Was maßen Sie sich an, Mister Keymis? Bisher hat sich noch niemand erdreistet, mich der Lüge zu bezichtigen. Hüten Sie Ihre Zunge, oder ich zeige Sie wegen Verleumdung an.“

„Antworten Sie jetzt“, sagte Burton mühsam beherrscht. „Wo ist Killigrew – der Seewolf?“

„Killigrew, Killigrew – hier ist kein Killigrew.“

„Sie streiten das also ab?“

„Richtig, nur streite ich nichts ab, sondern stelle richtig.“

„Ich bestehe darauf, das Haus, zu durchsuchen!“ schrie Burton.

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können.“

„Wache!“ kreischte Burton. „Den Bau bis in den letzten Winkel durchstöbern. Ihr kriegt Extradienst aufgebrummt, wenn ihr diesmal nicht pariert. Findet den Seewolf und schleppt ihn aus seinem Versteck. Ich will ihn zu meinen Füßen sehen, diesen Hund!“

Die Soldaten traten mit finsteren Mienen vor und drangen an Sir Freemont vorbei ins Haus ein. Für die nächsten Minuten waren beide Stockwerke von dem Gepolter ihrer Stiefel erfüllt. Burton und Keymis nahmen sich das Behandlungszimmer des Arztes vor. Sir Freemont verharrte unterdessen in eisigem Schweigen bei ihnen.

Der Sergeant, der die Garde anführte, kehrte zur Berichterstattung zu Burton zurück. „Nichts entdeckt, Sir. Und wenn Sie uns hundertmal zu Extradienst verdonnern, es wohnt außer Sir Freemont kein Mensch im Haus.“

„Spuren?“

„Keine, Sir.“

Samuel Taylor Burton gab einen eigenartigen, keuchenden Laut von sich. Sir Freemont betrachtete ihn ungeniert von oben bis unten. Das steigerte Burtons Wut noch.

Er japste, dann fuhr er seinen Amtskollegen und Komplicen mit schriller Stimme an: „Und das mir, Baldwin! Du elender Stümper, wie konntest du so etwas behaupten, wenn du deiner Sache nicht hundertprozentig sicher warst? Ein schöner Reinfall ist das hier. Ich könnte dich erwürgen, zum Teufel noch mal.“

Keymis schaute den Sergeant an. „Haben Sie auch gewissenhaft genug gesucht, Mann?“

„Jawohl, Sir. Wir haben alles auf den Kopf gestellt. Aber Sie können sich ja selbst davon überzeugen.“

Keymis winkte ab. „Nein. Ich glaube Ihnen natürlich.“

„Das nächste Mal treffe ich meine Entscheidungen allein!“ schrie Samuel Taylor Burton.

Keymis’ Blick richtete sich auf Sir Freemont. „Und doch – ich weiß es genau. Killigrew ist hierhergebracht worden. Vielleicht haben Sie ihn inzwischen wieder wegschaffen lassen. Möglicherweise haben Sie sich auch einen anderen Trick einfallen lassen. Sergeant, gibt es keine Keller- oder Bodenräume?“

„Ja, aber die haben wir auch von vorn bis hinten gefilzt.“

„Und doch bin ich sicher“, sagte Keymis beharrlich.

„Sicher, sicher“, äffte Burton ihn nach. „Hat sich der Seewolf etwa in Luft aufgelöst?“ Seine Stimme klang im höchsten Diskant und kippte über. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick einen Anfall erleiden. „Sollen wir ein Gespenst suchen?“

„Meine Herren“, sagte Sir Freemont jetzt. Er sprach nicht besonders laut, aber sein Tonfall war scharf und ätzend. „Ich habe Sie schon darauf hingewiesen, aber jetzt wiederhole ich es. Ich lege Beschwerde ein. Bei Hof. Ich protestiere gegen diese Form von Belästigung und fordere Sie auf, unverzüglich mein Haus zu verlassen. Es gibt keine Handhabe gegen mich. Ich habe nichts verbrochen. Aber Ihr Auftreten ist ungesetzlich, zumal Sie ohne Durchsuchungsbefehl bei mir eingedrungen sind, Friedensrichter Burton. Sie werden Gelegenheit haben, sich deswegen vor höchster Instanz zu rechtfertigen.“

„Ich ...“

„Hinaus bitte.“ Sir Freemont wies unmißverständlich zur Tür.

„Wir sprechen uns noch.“ Keymis, puterrot im Gesicht, drehte sich auf dem Stiefelabsatz um und marschierte nach draußen. Burton folgte dichtauf. Der Sergeant und die Soldaten der Stadtgarde rückten in ihrem Kielwasser ab, und der ganze Trupp durchquerte mit gesenkten Häuptern den Vorgarten. Sir Freemont schloß die Tür. Er hörte noch, wie Burton und Keymis draußen wieder zu streiten begannen.

Er lachte verhalten. Ziemlich vergnügt kehrte er ins Obergeschoß zurück. Die Soldaten hatten sich wie die Barbaren benommen und sämtliche Zimmer in Unordnung gebracht. Betten waren umgekippt, Schränke durchwühlt worden, der Inhalt lag auf dem Fußboden verstreut. Eine fußgroße Statuette aus echtem Carrara-Marmor lag zerschmettert neben ihrem Sockel. Sir Freemont blieb einen Moment stehen und schaute auf die traurigen Überreste. Die Statuette hatte den griechischen Gott der Heilkunde, Äskulap, dargestellt. Ein Patient, der Italien bereist hatte, hatte sie ihm vor Jahren mitgebracht.

Sir Freemont seufzte, zuckte mit den Schultern und ging weiter. In dem Raum mit dem riesigen Eichenholzschrank blickte er zunächst aus dem Fenster und vergewisserte sich, ob Burton, Keymis und die Soldaten auch wirklich abgezogen waren. Dann öffnete er den Schrank und klopfte gegen die Geheimtür. Sie wurde von innen aufgedrückt.

Gwen, Dan und der Kutscher traten ihm strahlend entgegen.

„Ich bin ja so froh, daß unser Versteck nicht entdeckt worden ist“, sagte der Arzt.

„Ja“, erwiderte der Kutscher. „Und Burton und Keymis werden sich vor Wut gegenseitig die Haare ausreißen.“

„Ins Gesicht springen werden sie sich“, sagte Gwen. „Diese schlechten Menschen. Diese durchtriebenen Schurken! Oh, wie habe ich mich gefürchtet, als die Soldaten erschienen und hier im Zimmer vor dem Schrank auf- und abschritten.“

Dan nickte. „Ja, wir haben wirklich Glück gehabt. Der Kelch ist sozusagen an uns vorübergegangen. Sir Freemont, wir müssen Ihnen ein ganz großes Kompliment aussprechen.“

„Mir?“

„Ja. Wie wacker Sie sich geschlagen haben. Unser Seewolf hätte das kaum besser vermocht. Wir haben Ihre Worte genau verstanden. ‚Mein lieber Burton, ändern Sie Ihren Lebenswandel. Essen Sie weniger fett, trinken Sie weniger, frönen Sie keinem Laster, und fahren Sie nicht bei jeder Kleinigkeit gleich aus der Haut. Sie haben ärztliche Behandlung wirklich nötig.‘ “ Dan lachte und hieb sich mit der Hand auf den Oberschenkel. „Also wirklich, das war herrlich! Wie schade, daß ich Burtons dummes Gesicht nicht sehen konnte!“

Sir Freemont legte den Zeigefinger an die Lippen. Er trat durch den Schrank in den Nebenraum und blickte auf den Seewolf. Der lag nach wie vor in tiefer Besinnungslosigkeit. Sir Freemont kontrollierte den Kopfverband und schaute nach den Wunden.

„Heute abend pinsele ich noch einmal Wundbalsam auf und wechsle den Verband“, sagte er. „Wenn der Seewolf in totaler Ruhe gelassen wird, hat er eine gute Überlebenschance.“ Er richtete sich auf, blickte Dan und dessen Schwester und dann den Kutscher an. „Und das eine schwöre ich euch: Ich garantiere für seine Sicherheit. Nur über meine Leiche kommt man an ihn heran.“

Gwen schaute zu ihm auf. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihren Zügen. Sie hatte unsagbares Vertrauen zu diesem untadeligen, geradlinigen Mann gefaßt. Sir Freemont taugte nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch sehr, sehr viel. Er stand auf seiten des Rechtes und der Humanität und haßte Kerle wie Burton und Keymis wie die Pest. Gwen hatte ihm bereits einiges über die Vergangenheit und den legendären Kaperzug sowie die Abenteuer des Seewolfes erzählt. Aber Sir Anthony Abraham Freemont hatte auch ohne diese Schilderungen von Anfang an gewußt, was für ein Mann sein Patient war. Seine unfehlbare Menschenkenntnis sagte ihm, daß beispielswiese ein Mann wie der Kutscher sich niemals für einen hirnlosen Rohling geschlagen hätte. Nein, dieser Philip Hasard Killigrew war alles andere als das. Er war ein Mensch, den zu retten eine Ehre war. Und Sir Freemont war froh, daß solche Männer für England kämpften.

Seewölfe Paket 3

Подняться наверх