Читать книгу Seewölfe Paket 3 - Roy Palmer - Страница 39

6.

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Draußen dunkelte es, als Sir Freemont dem Bürschchen einen leichten Klaps auf die Schulter gab. O’Flynn hatte voller Ungeduld die Stunden gezählt, die nicht vergehen wollten. Jetzt war es soweit.

Sir Freemont hatte ihm einen schmalen Lederbeutel übergeben, der genug Geld enthielt, damit Dan sich überall durchschlagen konnte.

Auch mit Proviant hatte der Arzt ihn ausgerüstet.

Jetzt öffnete er die Tür, trat hinaus und sah sich um. Auf dieser Seite lag der Platz vor der St.-Peters-Kirche.

Niemand war zu sehen, wie Freemont erleichtert feststellte, während auf der anderen Seite vor dem Haus immer noch zwei undurchsichtige Typen herumlungerten.

„Es scheint alles in Ordnung zu sein“, flüsterte er, als er ins Haus zurücktrat. „Nimm dich trotzdem in acht. Die Kerle könnten sich auch irgendwo versteckt haben.“

„Vielen Dank“, wisperte Dan. „Wenn Sie nicht gewesen wären, Sir Freemont, dann ...“

„Schon gut. Ich werde dir die Daumen drücken, Dan. Sieh zu, daß du es schaffst. Warte jetzt noch ein paar Atemzüge, bis ich auf der anderen Seite vors Haus gegangen bin.“

Der Arzt verschwand. Dan wartete eine Weile. In dieser Zeit versteckte er das Geld an seinem Körper, weil ihm der Lederbeutel zu auffallend erschien. Ein paar Münzen ließ er jedoch darin.

Erwartungsvoll starrte er hinaus. Er sah die Silhouette der St.-Peters-Kirche vor sich aufragen, hörte einen Wagen über das Straßenpflaster rumpeln und in weiter Ferne das Kläffen eines Köters.

Das Bürschchen begann vor Aufregung kampfeslustig zu zittern. Sein hagerer Körper spannte sich. Endlich, endlich, dachte er, konnte er etwas unternehmen.

Er hatte jetzt lange genug gewartet. Sir Freemont war es sicher recht, wenn er jetzt losmarschierte.

Er löste sich aus dem Schatten des Hauses, blieb auf dem Bürgersteig und wandte sich nach links, der Hausreihe zu, die den St.-Peters-Platz nach links abgrenzte.

Die Geräusche der lebenden Stadt umfingen ihn, aber sie schienen weit entfernt zu sein. In einigen Fenstern erkannte er flackerndes Licht. Wieder kläffte ein Straßenköter.

Den Weg kannte er. An der Häuserreihe entlang, dann über die Straße, danach über den Marktplatz und dann ...

Er wurde jäh aus seinen Überlegungen gerissen, als sich ein Schatten aus einer Türnische löste. Der Schatten blieb kurz stehen und ging dann ein paar steinerne Stufen hinunter zur Straße.

Dan marschierte weiter. Er wollte einen kleinen Bogen um den Mann schlagen. Doch der Mann stellte sich ihm ganz überraschend in den Weg.

Dan sah die gedrungene Gestalt. Das Gesicht des Fremden konnte er nicht erkennen, er sah es nur als verwaschenen Fleck.

„Wer bist du?“ herrschte ihn der Mann an. Seine Stimme klang rauh, er schob sich noch dichter an Dan heran.

„Ich möchte wissen, was Sie das angeht“, entgegnete das Bürschchen frech. Das mußte einer von Burtons geheimen Polizisten sein, schoß es ihm durch den Kopf.

„Ich habe gefragt, wer du bist?“ sagte der Bursche. Die Stimme klang nun wesentlich härter und fordernder.

Dan mußte zwangsläufig stehen bleiben, weil der andere keinen Zollbreit zurückwich.

„Ich hatte Sir Freemont aufgesucht. Ich war als Patient bei ihm.“

Jetzt lachte der Bursche hohl und gemein.

„Patient? Haha! Du lügst! Ich weiß genau, wer du bist, du Halunke! Du gehörst zur Besatzung dieses verdammten Mörderschiffes. Zu der Killigrew-Clique!“

In Dan stieg der Zorn hoch. Unauffällig sah er sich nach allen Seiten um. Hatte der Kerl noch Begleiter, die irgendwo versteckt in der Dunkelheit lauerten? Es schien nicht so, sonst hätte sich bestimmt einer von ihnen sehen lassen. Dieser Kerl bewachte lediglich den Hinterausgang, während die anderen sich auf der Vorderseite herumtrieben.

„Mörderschiff? Killigrew?“ fragte Dan verständnislos. „Sie sind ja verrückt, Mann! Den Namen habe ich noch nie gehört. Mörderschiff!“ Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Und ein Halunke bin ich noch lange nicht. Wie reden Sie eigentlich mit mir, he?“

„Reiß dein Maul nicht so weit auf! Ich weiß es besser. Was wolltest du denn bei Sir Freemont, eh?“

Dan blitzte den Unbekannten empört an.

„Was will man wohl bei einem Arzt?“ sagte Dan scharf. „Man läßt sich behandeln. Und genau das habe ich getan. Sir Freemont hat mich behandelt.“

Dan kribbelte es in allen Fingerspitzen. Wenn der Kerl ihn mitnahm, war natürlich alles aus. Dann gab es keinen Kontakt zu Ben Brighton mehr, dann würden sie schnell herausfinden, wer er war. Sie brauchten ihn nur diesem Schweinehund Keymis gegenüberzustellen, der ihn einwandfrei identifizieren konnte. Nein, so weit durfte es auf gar keinen Fall kommen, schwor sich Dan. Vielleicht redete er sich hier mit List und Frechheit doch noch heraus.

„Soso, du hast dich behandeln lassen! Was fehlt dir denn? Das sind doch alles nur faule Ausreden.“

Das Bürschchen dachte noch weiter. Es ging nicht allein um ihn, sondern um sie alle, um den Seewolf hauptsächlich. Erfuhren sie, wer er war, wußten sie ebenfalls, daß der Seewolf im Haus Sir Freemonts verborgen war. Das war für sie nichts weiter als ein einfacher Gedankengang. Ein zweites Mal würden sie das Haus durchsuchen, und dann mußten sie den Seewolf finden, wenn sie dort alles auf den Kopf stellten.

Was ihnen dann alles blühte, brauchte Dan sich nicht auszumalen.

„Ich habe ein Geschwür am rechten Bein“, sagte er kleinlaut. „Sir Freemont nannte es einen Furunkel. Er hat ...“

„Vorzeigen!“ zischte der Kerl. Er war tatsächlich etwas verunsichert, weil Dan sich so selbstsicher gab. Dennoch wollte er sich genau überzeugen, denn er traute dem jungen Burschen nicht.

Dans Gesicht verhärtete sich. Natürlich konnte er keinen Furunkel am rechten Bein aufweisen. Nur ein paar längst verheilte Narben.

Alles in ihm schaltete auf tödliche Abwehr. Sollte alles wegen einem solchen Kerl platzen? Sollte alles umsonst gewesen sein?

Nein! Dan gab sich einen Ruck. Der Kerl würde ihn nicht mitnehmen. Da hatte Donegal Daniel O’Flynn auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und was für eins!

„Bitte! Wenn Sie mir nicht glauben“, maulte er.

Er bückte sich und begann sein rechtes Hosenbein hochzukrempeln.

„Nun mach schon, verdammt!“ tobte der Kerl.

Dan blickte giftig hoch und sah dem Mann in die Augen.

„Immer langsam“, sagte er. „Erst wird man hier unhöflich angekotzt und dann noch beleidigt. Ich bin ja schon dabei.“

Ein letzter Rundblick. Niemand in der Nähe. Nur aus der Ferne rollte ein Wagen heran, schwerfällig knarrend und über das Pflaster holpernd.

Dan krempelte weiter sein Hosenbein hoch. Weil es eng war, ging es nicht so schnell. Dann deutete er auf sein Schienbein.

„Überzeugen Sie sich!“

Er ließ das Bein absichtlich auf dem Boden stehen. Über sein schmales Gesicht huschte ein hartes Grinsen.

Der Kerl bückte sich, um den Furunkel zu betrachten.

Er hatte den Schädel noch nicht richtig unten, als Dans Knie mit einer Gewalt hochzuckte, in die er alle Kraft legte. Es war ein furchtbarer, mörderischer Schlag.

Der Kopf des Mannes flog hoch, sein ganzer Körper ging mit, hob sich an und wurde fortgeschleudert.

Schwer, wie ein nasser Sack, fiel er mit dem Genick auf die steinerne Stufe der Treppe, die er hinuntergestiegen war.

Das Bürschchen war explodiert wie eine Ladung Schwarzpulver.

Hastig bückte Dan sich jetzt. Daß der Mann für eine Weile bewußtlos war, konnte er sich denken. Diesen Volltreffer hätte nicht mal ein Ochse verdaut. Schnell streifte er das Hosenbein herunter. Da rückte das Geräusch näher, das er vorhin schon gehört hatte.

Im ersten Impuls wollte er davonrennen. Aber dann fand der Kutscher des Leiterwagens, der gerade über den St.-Peters-Platz rumpelte, den Bewußtlosen und würde Krach schlagen.

Dan starrte das Gesicht an. Da gab es nichts mehr zu retten, überlegte er nüchtern. Der Kopf des Mannes stand in einem unmöglichen Winkel zum Hals. So lag nur einer, der sich das Genick gebrochen hatte.

Fieberhaft überlegte das Bürschchen. Wohin mit dem Toten? Was konnte er in dieser kurzen Zeitspanne noch unternehmen? Da hinten rumpelte schon der Wagen heran. Es war ein Leiterwagen, gezogen von zwei schweren Gäulen. Ein einzelner Mann saß auf dem Bock.

Wenn der mich hier erwischt! Die Gedanken kreisten, Überlegungen schossen durch sein Hirn.

Dan fackelte nicht lange. Es gab nur eine Möglichkeit, und die mußte er so schnell wie möglich ausnutzen.

Mit einem Satz war er bei dem Toten. Seine Fäuste griffen zu und rissen die Leiche hoch. In Dans Fäusten steckten exploxive Kräfte, so mancher hatte sich in dem Bürschchen schon getäuscht und seine Kräfte unterschätzt.

Er stemmte seinen Oberkörper hoch, schleppte den Toten mit sich und drückte ihn in die Türnische. Dort hielt er ihn aufrecht und lehnte sich mit seinem Körper dagegen, damit der Kerl nicht umfiel, der den ganzen Ärger heraufbeschworen hatte.

Das mulmige Gefühl wurde Dan dennoch nicht los. Heute schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben.

Der Leiterwagen rumpelte vorbei. Die Gäule schurrten über das Pflaster, der Wagen polterte. Und Donegal Daniel O’Flynn stand da mit der Leiche, eng in die Nische gedrückt.

Da kam ihm eine Idee. Ließ er den Toten hier liegen, dann gab es endlose Nachforschungen. Vielleicht brachte man sogar Sir Freemont damit in Zusammenhang.

Das konnten sie sich nicht leisten, unter keinen Umständen.

Schnell überzeugte er sich, daß niemand in der Nähe war. Bis auf das Kläffen des Köters war alles ruhig. In dem Haus, vor dem er stand, schien sich auch niemand aufzuhalten.

Dans Entschluß war schnell gefaßt. Er zögerte nicht länger.

Er lud sich den schlaffen Mann auf die Schulter, knickte in den Knien ein und brachte ihn mit einem kleinen Schwung in die richtige Lage, damit er besser laufen konnte. Jetzt hing alles davon ab, ob der Bursche auf dem Bock des Wagens hellhörig war oder nicht.

Das Bürschchen tigerte los, die schwere Leiche auf dem Rücken. Der Kerl hatte ein ganz beachtliches Gewicht. Sein Schädel baumelte über Dans Rücken, als hätte er keinen Halt mehr. Und den hatte er ja auch nicht, seit er das Genick gebrochen hatte.

Keuchend hastete Dan hinter dem Leiterwagen her.

Der Kutscher sah nicht nach links oder rechts. Er schnalzte mit der Peitsche und blickte stur geradeaus. Durch das laute Rumpeln der Räder war kein anderes Geräusch zu hören, wenigstens für den Kutscher nicht, obwohl Dan das Gefühl hatte, seine schweren Schritte müßten meilenweit zu hören sein.

Da rutschte er auf dem Kopfsteinpflaster plötzlich aus. Er versuchte noch, sich zu fangen, aber mit der schweren Last war das unmöglich. Er schlitterte, verlor den Halt und unterdrückte gerade noch einen leisen Aufschrei.

Jetzt mußte der Kutscher etwas merken. Oder er war schwerhörig!

Die Leiche rutschte Dan von der Schulter und fiel auf die Straße, wo sie sich überschlug und dann liegenblieb.

Dans Nerven rebellierten. Er stand auf, keuchend und hechelnd wie ein junger Hund. Schnell blickte er dem Leiterwagen nach.

Dieser Trottel von einem Kutscher hatte doch tatsächlich nichts gemerkt. Es war nicht zu fassen. Der Kerl starrte immer noch stur geradeaus und fuhr weiter.

Erneut schulterte das Bürschchen die Leiche und setzte zu einem gewaltigen Endspurt an. Die Pferde trotteten zum Glück nicht schnell, und so gelang es ihm nach einer Weile, aufzuschließen und den Wagen zu erreichen.

Geduckt schlich er sich heran. Dabei hatte er das Gefühl, als würden ihn tausend Augen aus der Dunkelheit sehen. Hinter jedem Fenster konnte jemand lauern, in den Türnischen konnte einer stehen und ihn beobachten.

Jetzt war es ihm egal. Es gab kein Zurück mehr.

Mit der einen Hand hielt er sich am Leiterholm fest, ließ sich ein paar Schritte mitziehen und verrenkte den Oberkörper.

Der Tote rutschte ab. Mit dem Rükken zuerst landete er auf dem hinteren Teil des Wagens.

Der Rest ging besser. Dan brauchte den Mann nur noch in eine Position zu rücken, wo er nicht so schnell wieder herunterfallen konnte.

Er schob und drückte, bis der Bursche wie ein Bündel auf dem Leiterwagen lag. Die Beine hielt er jetzt angewinkelt, die Arme über dem Bauch verschränkt. Nur sein Kopf lag noch in dieser seltsam verrenkten Stellung.

Unbemerkt tauchte das Bürschchen hinter dem Wagen weg. Mit ein paar schnellen Sätzen überquerte er die Straße und drückte sich dort in eine Toreinfahrt.

Er schnaufte. Die Anstrengung hatte ihm doch ganz schön zugesetzt.

Aber die Gefahr war wenigstens fürs erste gebannt. Der Kutscher hatte nichts bemerkt, und auch sonst ließ sich niemand blicken.

O’Flynn stand an die Wand gelehnt und lauschte erleichtert dem Hufgeklapper, das sich immer weiter entfernte.

Der Abend fing gut an, dachte er. Dann, nachdem er sich etwas ausgeruht hatte, marschierte er weiter und tauchte im Dunkel der Nacht unter.

Der Kutscher, er hieß McDonald und war ein rothaariger halbirischer Dickschädel, hatte nichts bemerkt. Das eintönige Klappern der Hufe und das laute Rumpeln schläferten ihn ein und ließen ihn müde werden. Er hatte noch einen weiten Weg vor sich, und da konnte es nicht schaden, ab und zu ein kleines Nickerchen einzulegen. Die Gäule kannten den Weg zur Mühle fast besser als er. Darum brauchte er sich nicht zu sorgen.

Er döste, hörte und sah nichts. Ab und zu schrak er hoch, merkte, daß die Pferde langsamer liefen und schnalzte dann kurz mit seiner Peitsche. Um sich aufzuwärmen, griff er von Zeit zu Zeit in die dicke Jacke, holte eine flache Flasche hervor und nahm einen kleinen Schluck. Das wärmte, ließ aber auch gleichzeitig wieder schläfrig werden.

Und so nickte er wieder ein. Es war ein Kreislauf, der sich bis in die späten Nachtstunden hinzog.

Endlich blieben die Gäule stehen. McDonald öffnete schwerfällig die Augen. Es war verdammt kalt in dieser Nacht, und weil er fast immer geschlafen hatte, begann er jetzt jämmerlich zu frieren.

Vor ihm lag die Mühle. Die riesigen Flügel bewegten sich nicht.

Ein unausgeschlafener Müllerbursche schlurfte auf ihn zu und begrüßte ihn mürrisch.

Die Mühle lag weit außerhalb der Stadt. Hier gab es keine Nachbarn, nur das kleine Haus des Müllers, das neben der Mühle lag, hingeduckt wie ein Tier in der Nacht.

Es roch nach Mehl und Kleie, und es roch wie immer etwas muffig, stellte McDonald fest.

„Hast du einen Schluck für mich?“ fragte der Kutscher. „Ist verdammt kalt heute. In sechs Stunden möchte ich gern wieder zurück sein.“

„Wenn du mir aufladen hilfst. Ich bin nur mit dem Müller allein. Der Geselle ist krank.“

Nach dem ersten kleinen Schluck wurde ein zweiter zur Brust genommen. Danach wollte man mit dem Aufladen der schweren Mehlsäcke beginnen.

Der mürrische Bursche, mit schweren Holzpantinen an den Füßen, schnappte sich den ersten Sack und trug ihn hinaus.

„Kannst du nicht weiter ’ranfahren!“ brummte er. „Man muß die Säcke doch nicht unbedingt eine Meile weit schleppen.“

Vor der Mühle setzte er den Sack auf den Boden. Oben warf der Müller die Säcke in eine Rutsche.

McDonald stieg über den Mehlsack, zerrte an den Zügeln und bewegte den Leiterwagen vorwärts, bis er dicht vor der Rutsche stand. Ein paar trübe flackernde Öllampen erhellten gespenstisch einen Teil des Inneren der Mühle. McDonald sah die gewaltigen Zahnräder und einen Teil der Mechanik, die schweren Transmissionsriemen und die Getriebe aus hartem Holz. Alles war mit weißem Mehlstaub überpudert. Die vielen Mäuse, die auf dem Boden. hin und her flitzten, störten sich nicht an den Männern. Sie gehörten zum lebenden Inventar der Mühle, die ohne sie undenkbar war.

Der mürrische Gehilfe schnappte sich zum zweitenmal den Sack. Mit Schwung warf er ihn auf den Wagen. Dann wollte er sich umdrehen, um zur Rutsche zu gehen, als sein Blick plötzlich starr wurde.

Auf dem Leiterwagen lag ein großes Bündel, das ihn verdammt an einen schlafenden Menschen erinnerte.

„He!“ brüllte er laut. „Wen hast du denn da geladen? Laß den Kerl wenigstens mithelfen!“

„Welchen Kerl?“ fragte McDonald mit dümmlichem Gesicht.

„Na, den Kerl auf dem Wagen!“

„Bei mir liegt kein Kerl auf dem Wagen. Du hast wohl wieder zuviel gesoffen!“ brüllte der Kutscher zurück.

„Was, zum Teufel, streitet ihr beiden denn?“ brüllte der Müller von oben herunter. „Seht lieber zu, daß wir die Säcke aufladen, sonst stehen wir morgen früh noch da!“

Der Müllergehilfe, miesgrämig und darauf bedacht, nicht mehr zu arbeiten als unbedingt notwendig, war ohnehin keiner von der feinen Sorte. Er war ein Grobian.

„Leck mich am Arsch!“ brüllte er den Kutscher an. „Die anderen können schuften, bis sie umfallen, und der Kerl liegt dahinten und pennt, bis wir fertig sind.“

Da die Streiterei nicht aufhörte und den Müller oben langsam die Wut packte, setzte er sich in die Rutsche und sauste im gleichen Tempo herunter wie seine Mehlsäcke.

„Was ist los, McDonald? Wenn du einen Gehilfen hast, dann laß ihn gefälligst mit anfassen!“

„Verflucht“, tobte der Kutscher. „Ich hab keinen Gehilfen. Ich bin allein, ich fahre immer allein.“

Der Knecht hatte sich schon eine Lampe vom Haken gerissen und ging zum hinteren Ende des Leiterwagens. Er hob die Lampe, leuchtete erst auf das Gesicht und senkte die Lampe dann. Ihr schwacher Schein beleuchtete eine zusammengekrümmte Gestalt.

„Na, was hab ich gesagt!“ rief er triumphierend.

„Mich soll doch glatt der Teufel holen!“ schrie der Kutscher. „Wie kommt der denn auf meinen Wagen?“

Mit einem Satz war er heran und hieb dem vermeintlichen Schläfer die Faust unsanft in die Rippen.

„He, du Penner! Runter da!“

Der Penner rührte sich nicht. Die Männer sahen sich an.

„Besoffen“, sagte der Müller lakonisch. Er ergriff den einen Arm des Mannes und zerrte daran.

„Der ist ja schon ganz steif gefroren. Helft mir mal!“

Jetzt packte auch der Grobian an und zerrte. Als der andere sich immer noch nicht rührte, wurde es ihm unheimlich. Er packte wieder die Lampe und leuchtete dem Fremden noch einmal ins Gesicht.

Gleich darauf ertönte ein ellenlanger Fluch.

„Der ist ja tot!“ schrie er entsetzt und trat hastig zurück. „Bei Gott, der Kerl lebt nicht!“

Der Kutscher stand wie vom Donner gerührt. Zum einen hatte er nicht die geringste Ahnung, wie der Kerl auf seinen Wagen gelangt war und zum anderen wurde ihm jetzt ganz mulmig bei dem Gedanken, die ganze Zeit mit einem Toten durch die Gegend kutschiert zu sein. Fahle Blässe überzog sein Gesicht.

Sie brauchten den Mann nicht weiter zu untersuchen, um festzustellen, daß er wirklich tot war. Die Leichenstarre war bereits eingetreten, den Rest hatte die Kälte besorgt. Sein Gesicht war blau angelaufen, alle Glieder waren steif und verkrampft.

Sekundenlang herrschte Entsetzen. Abergläubisch waren sie alle drei, dazu kam die Atmosphäre, die um die Mühle herum herrschte, die Abgeschiedenheit, das flackernde Licht, die Zeit vor Mitternacht, in der sowieso nicht alles geheuer war.

Der Müller flitzte zitternd in seine Mühle, sein Gehilfe fluchte pausenlos, und der Kutscher stand verdattert vor seinem Wagen und griff sich an den Schädel.

Erst nach einem kräftigen Schluck waren sie wieder ansprechbar.

„Damit will ich nichts zu tun haben“, verwahrte sich der Müller entschieden. „Der Kerl sieht so aus, als hätte ihm jemand das Genick gebrochen.“

„Oder er ist aus dem Fenster auf den Wagen gefallen“, sagte der Gehilfe, „und hat sich dann den Tod geholt.“

„Das hätte ich doch gemerkt“, sagte der Kutscher. Er stand vor einem Rätsel, das er nicht zu lösen vermochte. „Faßt mal mit an, wir tragen ihn hier ins Licht. Vielleicht können wir feststellen, wer er ist.“

„In meine Mühle kommt er nicht“, knurrte der Müller. „Oder glaubst du, ich will, daß seine Seele hier jede Nacht herumspukt? O nein, verdammt! Den nimmst du gefälligst wieder mit.“

Jetzt saß der Kutscher in der Klemme. Hoffentlich gab es keine Scherereien. Aber er mußte wissen, wer der Tote war. Sein Tascheninhalt konnte darüber Aufschluß geben.

Da die beiden anderen nicht im Traum daran dachten, ihm zu helfen, und der Müller sich entschieden weigerte, den Toten in die Mühle zu schleppen, ging der Kutscher selbst an die undankbare Aufgabe.

Er sprang auf den Wagen und stieß die Leiche hinunter. Sie landete mit einem dumpfen Laut auf dem Boden. Er holte sich zwei Öllampen und stellte sie um den Toten herum auf. Immer wenn er in das blau angelaufene Gesicht sah, fühlte er, wie der Schnaps aus seinem Magen nach oben stieg.

Er durchsuchte mit einem Schauder des Entsetzens und der Angst die Taschen des Toten und förderte ein Schnupftuch, einen abgebrochenen groben Kamm, ein Messer und eine winzige, rechteckige Tafel aus Holz zutage.

Im Licht der Lampe erkannte er eingeschnittene Schriftzüge darauf und ein rotes Siegel mit einer Nummer.

„Kannst du lesen, Müller?“ rief er zur Mühle hinüber, wo die beiden Kerle standen und jede seiner Bewegungen belauerten.

„Einigermaßen, aber nicht viel.“

McDonald nahm das Holzplättchen vorsichtig auf und brachte es zur Mühle hinüber.

„Das habe ich in seiner Tasche gefunden. Was kann es nur sein?“

Der Müller betrachtete es verwundert. So etwas hatte er noch nie gesehen.

Die Schrift war eingebrannt, ziemlich klein, aber gut leserlich. Eine Vertiefung trug ein rotes Siegel von einer Petschaft.

Der Müller kniff die Augen zusammen, buchstabierte und las vor: „Nathan Webster, im Dienste Ihrer Majestät der Königin von England, der hohen Polizeibehörde unterstellt. Nummer dreiundvierzig. Die Unterschrift kann ich nicht lesen.“

„Ein Polizei-Agent“, murmelte der Kutscher und wurde leichenblaß. „Was machen wir jetzt mit ihm?“ Seine Stimme zitterte, seine Hände wurden naß, sein Körper schüttelte sich.

Sprachlos starrte der Müller auf das kleine Täfelchen in seiner Hand. Auch seine Hände zitterten.

„Nimm ihn mit und hau ab, aber ganz schnell“, sagte er. „Erzähl denen, was du willst, ich jedenfalls habe damit nichts zu tun.“

„Wem soll ich was sagen?“ fragte der Kutscher. „Wäre es nicht besser, den Kerl irgendwo zu vergraben?“

„Bist du wahnsinnig? Damit wir alle am Galgen enden? Nein, nein, ich habe nichts gesehen und nichts gehört. Tu, was du willst, aber laß mich aus dem Spiel.“

Jetzt sah der Kutscher endgültig ein, daß es Ärger geben würde. Er lehnte sich an die Wand und dachte nach.

Wenn er zum Friedensrichter fuhr und dem die Wahrheit sagte, konnte ihn niemand belangen. Wer weiß, wer den Toten auf den Wagen gelegt hatte! Ihm konnte man nichts vorwerfen. Er riß sich gewaltsam zusammen.

„Gut, ich nehme ihn wieder mit“, sagte er, „aber vorher laden wir noch die Säcke auf. Ich will nicht noch einmal vier Stunden lang umsonst fahren. Die Leiche packen wir oben auf die Säcke. Dafür sage ich auch nichts von euch!“

Zuerst wollte der Müller nicht. Er hätte es am liebsten gesehen, wenn McDonald sofort abgefahren wäre, ohne das Mehl. Doch der sanfte Druck, den der Kutscher auf ihn ausübte, verfehlte nicht seine Wirkung. Er erklärte sich einverstanden.

Die Säcke flogen nur so auf den Leiterwagen. McDonald verstaute den Tascheninhalt wieder an Ort und Stelle, griff dann selbst mit zu und stemmte den Toten hinauf, zwischen die Säcke, als sie endlich fertig waren.

Er wollte sich von dem Müller noch verabschieden, doch der hatte kaum den letzten Mehlsack auf den Wagen geworfen, als er auch schon die Tür der Mühle hinter sich zuknallte und sich nicht mehr blicken ließ. Sein grober Gehilfe hatte sich auch von einer Minute zur anderen in Luft aufgelöst.

„Verdammte Bastarde“, schimpfte McDonald, ehe er sich auf den Bock schwang, die Peitsche kreisen ließ und den langen Weg zurückfuhr. Im Nacken hatte er ein eisiges Gefühl – als würde man ihm eine Schlinge um den Hals legen und ihn hochziehen.

Es wurde seine grauenvollste Fahrt durch die einsame Nacht.

Fünf Stunden später klopfte McDonald den Friedensrichter aus dem Bett. Sein Leiterwagen stand vorm Haus, die Pferde ließen die Köpfe hängen und schliefen im Stehen.

In Plymouth herrschte eine beängstigende Stille. Kein Wagen bewegte sich auf der Straße, kein Mensch war zu sehen und in keinem der Häuser brannte Licht.

Und oben auf McDonalds Wagen lag eine Leiche!

Es dauerte eine Weile, bis Burton sich bequemte, auf sein Pochen die Tür zu öffnen.

Kleinlaut erzählte der Kutscher, was passiert war. Der dicke, feiste Friedensrichter hörte zu, nahm dann eine Laterne und überzeugte sich von der Wahrheit. Anschließend alarmierte er ein paar Leute von der Stadtgarde, die er aus den Betten trommeln ließ.

Der Kutscher wurde in ein Büro geführt und sah sich immer wieder nach allen Seiten unbehaglich um. Der Friedensrichter schien eine unbeschreibliche Wut im Bauch zu haben. Ein Blick auf den Toten hatte ihm gezeigt, mit wem er es zu tun hatte. Der Mann, Webster, arbeitete in seinem Auftrag und gehörte offiziell der Polizeibehörde an. Er war einer von denen, die Sir Freemonts Haus überwachten.

Und jetzt war der Mann tot, lag auf einem Wagen und hatte sich so mir nichts, dir nichts das Genick gebrochen.

„Erzählen Sie noch mal, wie das war“, wurde er von Burton ungnädig aufgefordert. „Und bleiben Sie bei der Wahrheit, sonst kann ich verdammt ungemütlich werden.“

An der Tür standen drei Männer, die zur Polizei gehörten. Ihre finsteren Blicke ruhten auf dem Kutscher, der umständlich mit seiner Erzählung begann.

„Willst du mich verulken, Kerl?“ brüllte Burton, in dessem feisten Gesicht es pausenlos zuckte.

„Ich wüßte nicht, weshalb, Sir“, sagte der Kutscher. „Ich habe nicht bemerkt, daß man mir den Toten auf den Wagen gelegt hat. Ich entdeckte ihn, als ich abstieg und hielt ihn zuerst für schlafend. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

„Mehr kann ich dazu nicht sagen“, höhnte Burton. „Er fährt nachts spazieren und hat plötzlich eine Leiche auf dem Wagen.“

„Ich fahre nicht zu meinem Vergnügen spazieren, Sir“, erwiderte der Kutscher steif. „Ich arbeite, während andere schlafen.“

„Da hört sich doch alles auf! Mißgönnst du mir etwa meinen Schlaf, Kerl? Wie gelangte der Tote auf deinen Wagen?“

„Das habe ich nun schon zum dritten Mal erklärt, Sir. Ich weiß es nicht, verdammt noch mal!“

„Lag er schon drauf, als du losfuhrst?“

„Nein, als ich die Pferde eingeschirrt habe, habe ich nichts bemerkt. Allerdings war es da schon dunkel.“

„Welchen Weg hast du genommen?“

Den Kutscher ärgerte es, so respektlos behandelt zu werden. Das stand auch einem Friedensrichter nicht zu.

„Die Bingston-Road über den St.-Peters-Platz und ...“

Burton kniff die Augen zusammen. Er stemmte die Arme in die Hüften und brüllte: „Sieh an, sieh an, über den St.-Peters-Platz also! Dann hast du ihn wohl selbst umgebracht?“

„Sir!“ Der Kutscher brüllte jetzt ebenfalls. Seine Stimme schallte durch das ganze Haus. Die drei Polizisten sahen noch finsterer drein.

Burton setzte sich aufgebracht auf einen Stuhl. Den müden Kutscher ließ er stehen.

„So, jetzt will ich die Geschichte noch einmal hören. Aber die Wahrheit, Mann, die Wahrheit, sonst lasse ich sie aus dir herausprügeln! Ich weiß schon, weshalb du dauernd lügst!“

In seinem ganzen Leben hatte sich der Kutscher noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Aber jetzt wäre er dem Dicken am liebsten an den Hals gesprungen. Was der ihm alles unterstellte.

Er nahm sich noch einmal zusammen, unterdrückte seine Wut und sagte mühsam beherrscht: „Ich schwöre, es ist die reine Wahrheit, Sir! Ich kann mir nicht erklären, wie der Tote auf meinen Wagen gelangte. Ich wüßte es selbst gern, doch ich habe nichts bemerkt.“

„Natürlich nicht, du Mördergehilfe! Weil ihr ein Komplott ausgeheckt habt. Du und deine verdammten Spießgesellen. Oh, haltet mich nur nicht für so dumm, daß ich darauf hereinfalle. Du tauchst hier mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt auf, präsentierst mir einen Toten und denkst, ich schlucke die Geschichte. Du verdammter Saboteur. An den Galgen sollte man dich hängen und dir dein verlogenes Maul stopfen.“

Jetzt sah der Kutscher rot. Eine unbeschreibliche Wut überfiel ihn. Was bildete sich dieses fette Schwein eigentlich ein? Er begriff überhaupt nicht, weshalb man ihm einen Mord anhängen wollte.

Burton brüllte immer noch und war im Gesicht blau angelaufen. Er warf dem Kutscher die übelsten Schimpfwörter an den Kopf.

Da schlug der sonst so besonnene Kutscher zu. Mit einem Satz war er bei dem Dicken, holte aus und hieb ihm die harte Faust in das fette Gesicht.

Burton flog zurück, sein Stuhl kippte um, er landete krachend auf dem Boden. Aus seiner Nase schoß Blut, vor seinen Augen bewegten sich feurige Kreise. Er versuchte, aufzustehen, doch der Kutscher hatte ihn schon gepackt. Der zweite Schlag fegte den Dicken quer durch den ganzen Raum. Er quiekte wie ein Schweinchen.

Da griffen die drei Männer ein, die wie gelähmt an der Wand gestanden und nicht begriffen hatten, was hier so blitzschnell passierte.

Zu dritt gingen sie auf den Kutscher los.

Der sah sich in Gedanken bereits am Galgen hängen und griff die drei Männer an. Wie ein Berserker drosch er auf sie ein, fegte den einen von den Beinen und wandte sich dem zweiten zu.

Ein Schlag in den Nacken ließ ihn taumeln, ein Tritt in den Unterleib brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Noch einmal konnte er einen Treffer landen, dann hatten sie ihn überwältigt, rissen ihm die Arme auf den Rücken und schlugen weiter auf ihn ein, bis er zusammenbrach.

Burton rappelte sich auf und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Voller Wut bearbeitete er den Kutscher mit Fußtritten. Er trat dahin, wo er gerade traf, während die drei Männer ihn festhielten.

„Dieses Schwein“, ächzte er. „Weg mit ihm! Sperrt ihn in eine Zelle! Aber sofort!“

Sie wollten McDonald wegzerren, und der gab sich scheinbar auch willenlos und geschlagen. Schlaff hing er in ihren Armen. Als sie mit ihm loszogen, riß er sich los. Seine Wut kannte keine Grenzen mehr.

Wie ein wildes Tier fiel er Burton an und schlug ihm die Fäuste ins Gesicht, bis ihm die Knochen schmerzten.

Erst dann konnten sie ihn endgültig überwältigen. Einer der Männer schmetterte ihm die Faust wie eine Ramme auf den Schädel. Der Kutscher sackte zusammen. Er hörte nicht mehr, was der Friedensrichter mit vor Wut erstickter Stimme sagte.

„Vierzehn Tage verschärften Arrest für den Halunken. Er kriegt nur Wasser und trockenes Brot, verstanden? Dieser Bastard hat mich tätlich angegriffen.“

Sie schleppten McDonald hinaus. Aber damit war für den Friedensrichter das Rätsel um den Toten immer noch nicht gelöst.

Seewölfe Paket 3

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