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d) Der gescheiterte Vertrag über eine Verfassung für Europa
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Auch die Reformen durch die Verträge von Amsterdam und Nizza haben letzten Endes lediglich die allernötigsten Anpassungen einer Struktur, die ursprünglich für sechs Mitglieder geschaffen wurde, an die Erfordernisse einer Union von jetzt 28 Mitgliedern vorgenommen. Die wesentlichen Probleme zu lösen wurde regelmäßig in die Zukunft verschoben (sog. left-overs). Es bestand weitgehend Einigkeit, dass sich das Leitbild einer bürgernahen, transparenten und handlungsfähigen Union in dem bestehenden System von Verträgen und Änderungsverträgen auf Dauer nicht erreichen lasse. Im Rahmen des Vertrags von Nizza wurde durch die Annahme der Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union[39] der Grundstein für den weiteren Reformprozess gelegt. Darauf aufbauend wurde durch die Erklärung von Laeken[40] die Grundlage für einen Konvent geschaffen, dessen Aufgabe die Ausarbeitung eines Abschlussdokuments für die Zukunft der Europäischen Union war (insoweit ist die Bezeichnung „Verfassungskonvent“ nicht ganz zutreffend). Inhaltlich sollte dieses eine bessere Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten erreichen, den Status der Grundrechtecharta klären, eine Vereinfachung der bestehenden Verträge herbeiführen und die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union regeln. Der vom Konvent unter Vorsitz des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing ausgearbeitete Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa wurde vom Europäischen Rat in Thessaloniki am 20.6.2003 als Grundlage für die Regierungskonferenz angenommen[41].
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Die gemäß Art. 48 EUV erforderliche Regierungskonferenz scheiterte zunächst an wichtigen institutionellen Fragen, insbesondere weil Polen und Spanien die ihnen im Vertrag von Nizza eingeräumten überproportionalen Stimmengewichte für die qualifizierte Mehrheit im Rat nicht aufgeben wollten. Unter irischer Präsidentschaft einigte sich der Europäische Rat am 14.6.2004 auf einen Kompromiss. Am 29.10.2004 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs den „Vertrag über eine Verfassung für Europa“[42].
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Der Verfassungsvertrag (EVV)[43] sollte die bisherigen Verträge EUV und EGV ersetzen und deren Inhalte zusammenfassen (vgl Art. IV-437 und Art. IV-438 EVV). Er besteht aus vier Teilen (institutionelle Vorschriften, modifizierte Grundrechtecharta, Querschnittsklauseln und materielle Vorschriften, allgemeine und Schlussbestimmungen)[44].
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Wie in Art. 48 Abs. 3 EUV aF vorgesehen, hätte der Verfassungsvertrag der Ratifikation durch alle damals 25 Mitgliedstaaten bedurft (vgl Art. IV-447 EVV). Insgesamt haben 17 Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert. In Deutschland hatten zwar Bundestag und Bundesrat dem Vertragsgesetz mit überwältigender Mehrheit zugestimmt; der Bundespräsident sah sich aber durch die ausstehende Entscheidung des BVerfG über eine Organklage und Verfassungsbeschwerde an der Ratifikation gehindert[45]. Nach den ablehnenden Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden im Juni 2005 beschloss der Europäische Rat am 16./17.6.2005 eine sog. „Reflexionsphase“ von einem Jahr[46]. 2006 hat der Europäische Rat diese in der Sache verlängert und einen „zweigleisigen Ansatz“ vereinbart. Zum einen sollten die Möglichkeiten, die die derzeitigen Verträge bilden, bestmöglich ausgeschöpft werden. Derartige Tendenzen sind in der Rechtsprechung des EuGH und auch in Initiativen des Europäischen Parlaments und der dafür prinzipiell zuständigen Kommission (vgl Art. 42 EUV aF) unverkennbar. Zum anderen sollte der Vorsitz dem Europäischen Rat in der ersten Jahreshälfte 2007 einen Bericht vorlegen, der sich auf ausführliche Konsultationen mit den Mitgliedstaaten stützt und eine Bewertung des Stands der Beratungen über den Verfassungsvertrag und mögliche künftige Entwicklungen aufzeigen soll[47]. Spätestens im zweiten Halbjahr 2008 sollten danach konkrete Schritte für die Fortsetzung des – jetzt so genannten – Reformprozesses unternommen werden. Obwohl einige Mitgliedstaaten den Ratifikationsprozess fortsetzten, wurde bald deutlich, dass der Verfassungsvertrag als solcher gescheitert war. Ein wesentlicher Grund dafür war der Begriff „Verfassung“ selbst, der sich entgegen den gehegten Erwartungen als kontraproduktiv erwiesen hat.
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Die turnusgemäß zuständige deutsche Präsidentschaft versuchte daher, durch Aufgabe des Verfassungsbegriffs und aller damit in Verbindung gebrachten Elemente den Inhalt des Verfassungsvertrags möglichst weitgehend zu erhalten. Dies ist durch die nach zähen, mit unerfreulichen Begleiterscheinungen verbundenen Verhandlungen mit dem durch Kompromisse, insbesondere Übergangs- und Ausnahmeregelungen, erreichten Mandat des Europäischen Rates vom 21./22.6.2007[48] im Wesentlichen gelungen. Das konkrete Mandat nahm bis auf eher marginale Änderungen bereits das Ergebnis vorweg, zumal es der portugiesischen Präsidentschaft gelang, grundlegende Nachverhandlungswünsche abzuwehren.