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IV. Erweiterungen der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union

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Neben der Integrationstiefe markiert auch ihre geographische Reichweite eine Maßzahl für den Stand der europäischen Integration. In mittlerweile sechs Erweiterungsrunden[60] haben sich die westlich geprägten Europäischen Gemeinschaften von anfänglich sechs Mitgliedern zu einer (Gesamt-)Europäischen Union von (noch) 28 Staaten im Jahr 2019 entwickelt. Zuletzt trat Kroatien am 1.7.2013 der Europäischen Union bei. Die Überwindung der Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ist damit zumindest de jure vollendet. Beitrittsverhandlungen laufen mit der Türkei seit 3.10.2005, wegen der Zypernfrage teilweise suspendiert und derzeit stockend (s. Rn 73), ausdrücklich als „ergebnisoffen“ deklariert. Island hat seinen am 17.7.2009 eingereichten Beitrittsantrag angesichts der Finanzkrise am 12.3.2015 wieder zurückgezogen. Einen sog. „Kandidatenstatus“ haben Mazedonien (seit 17.12.2005), Montenegro (seit 17.12.2010) und Serbien (seit 1.3.2012), mit denen bereits Beitrittsverhandlungen aufgenommen wurden, sowie Albanien (seit 24.6.2014; Beitrittsantrag 2009, noch keine Beitrittsverhandlungen). Potenzielle Beitrittskandidaten sind Bosnien-Herzegowina und der Kosovo, der allerdings von fünf Mitgliedstaaten der EU (Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien und Zypern) bislang noch nicht einmal als Staat anerkannt wurde. Die Beitrittsanträge Marokkos[61] und der Schweiz[62] dürfen wohl als (zumindest vorerst) erledigt angesehen werden. Weitere Staaten (insb. Georgien und Ukraine) wollen mittel- bis langfristig in die Europäische Union aufgenommen werden. Damit wächst auch die Notwendigkeit, in eine politische Diskussion über die geographischen Grenzen der Europäischen Union einzutreten, um den Integrationsprozess insgesamt nicht zu gefährden. Die in Art. 8 EUV verankerte Nachbarschaftspolitik sieht „besondere Beziehungen“ unterhalb der Vollmitgliedschaft vor. Zu Assoziierungen s. Rn 86.

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Andererseits zeigt sich die grundsätzliche Offenheit für die Mitgliedschaft weiterer Staaten in Art. 49 EUV, der jedem europäischen Staat das Recht einräumt, einen Antrag auf Aufnahme in die Europäische Union zu stellen. Ein Recht auf Beitritt haben Drittstaaten nach dieser Vorschrift nicht.

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Ungeachtet des Auftrags zur Einigung Europas setzt jede Erweiterung stets eine sorgfältige Entscheidung über die Vor- und Nachteile einer Vollmitgliedschaft voraus, und zwar sowohl auf Seiten des Beitrittskandidaten als auch auf Seiten der bisherigen Mitglieder und der Union selbst[63]. Erweiterungen der Union, die diese selbst wirtschafts- und außenpolitisch eher stärkten (Großbritannien, Irland und Dänemark 1973; Finnland, Österreich und Schweden 1995), stehen solche gegenüber, deren Motivation eher in einer politischen Stabilisierung und wirtschaftlichen Heranführung der beitretenden Staaten zu sehen ist (Griechenland 1981; Spanien und Portugal 1986; Osterweiterung 2004/2007/2013). Dies entspricht dem Gedanken der Solidarität zwischen den Völkern Europas. Mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei tritt als drittes Motiv die Einbeziehung eines Staates mit islamischer Bevölkerung unter dem Dach von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten als universellen Prinzipien hinzu. Fraglich ist, ob die Integrationskraft der Union für diesen Kraftakt ausreicht oder ob eine Aufnahme der Türkei zu einer grundsätzlichen qualitativen Veränderung der Union führen würde[64]. Aktuell stellt sich wegen der Unvereinbarkeit der Politik des türkischen Präsidenten Erdogan mit den Werten der EU (insb. der Rechtsstaatlichkeit) die Frage einer Aussetzung der Beitrittsverhandlungen, die vom Europäischen Parlament gefordert wurde. Ungeachtet dessen und diverser Probleme, auch der grundsätzlichen Bereitschaft zur Akzeptanz der Bedingungen einer supranationalen Integrationsgemeinschaft, ist die Türkei seit langem ein wirtschaftlich wie strategisch wesentlicher und völkervertraglich eng mit der EU und ihren Mitgliedstaaten verbundener Partner[65].

Literatur:

Alsen, K., Der europäische Integrationsauftrag der EU. Überlegungen zur Erweiterungs-, Assoziierungs- und Nachbarschaftspolitik der EU aus der Warte einer europäischen Prinzipienlehre, 2008; Böttger, K., Im Osten nichts Neues? Ziele, Inhalte und erste Ergebnisse der Östlichen Partnerschaft, integration 2009, 372; Cremona, M., Enlargement: A Successful Instrument of Foreign Policy?, in: Tridimas, T./Nebbia, P. (Hrsg.), European Union Law for the Twenty-first Century, Bd. 1, 2004, S. 397 ff; Pehle, H. (Hrsg.), Die neue Europäische Union: Die Osterweiterung und ihre Folgen, 2006; Tiede, W./Spiesberger, J./Bogedain, C., Kosovo und Serbien auf dem Weg in die Europäische Union?, EuR 2014, 129.

§ 2 Entwicklung und Stand der Europäischen Integration › V. Gesamteuropäische Perspektiven und Organisationen

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