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d) Ausschluss

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Die Verträge enthalten auch keine Bestimmungen über den Ausschluss eines Mitgliedstaates. Ein Ausschlusstatbestand darf auch nicht an den Verträgen vorbei geschaffen werden. Nach allgemeinem Völkerrecht besteht aber eine Ausschlussmöglichkeit gemäß der clausula rebus sic stantibus (Art. 62 WVRK) bei einer grundlegenden Änderung der bei Vertragsschluss gegebenen Umstände oder gemäß Art. 60 Abs. 2 WVRK bei erheblichen Vertragsverletzungen.

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Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Art. 7 EUV bei einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat ein Suspendierungsverfahren hinsichtlich bestimmter Rechte vorsieht[43]. Dies ist als abschließende Regelung gedacht, die den Staat insbesondere durch die Aussetzung von Rechten, insbesondere der Stimmrechte des Vertreters der Regierung im Rat treffen möchte, wobei natürliche und juristische Personen möglichst geschont werden sollen (Art. 7 Abs. 3 EUV; zur Berechnung der qualifizierten Mehrheit danach s. Art. 7 Abs. 5 EUV iVm Art. 354 AEUV). Erst wenn sich dieses Verfahren als dauerhaft unzulänglich erweisen sollte und unerträgliche Zustände eintreten, wäre an einen Ausschluss zu denken. Die Kommission hat nach einer Analyse der Lage weitere mögliche Schritte in die Diskussion eingebracht[44] und jüngst Vorschläge für einen Universal Rule-of-Law Mechanismus präsentiert[45].

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Als wegen der Gefährdung der Werte der Union in Polen (Unabhängigkeit der Gerichte) und Ungarn (Unabhängigkeit der Gerichte und Medien), jüngst Rumänien (Behinderung der Korruptionsbekämpfung durch involvierte Regierung) Art. 7 EUV aktiviert werden sollte, hat sich gezeigt, dass dieses Verfahren wegen Blockademöglichkeiten ineffektiv ist. Zwar ist der betroffene Staat gemäß Art. 7 EUV iVm Art. 354 Abs. 1 und 2 AEUV ausgeschlossen und die stärkste Sanktion der Aussetzung von Rechten kann vom Rat mit der gemäß Art. 354 AEUV modifizierten qualifizierten Mehrheit beschlossen werden (Art. 7 Abs. 3 S. 1 EUV). Dies setzt aber die Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV voraus, die der Europäische Rat einstimmig treffen muss. Versichern sich zwei Mitgliedstaaten, wie zwischen den Regierungen von Polen und Ungarn geschehen, gegenseitig der Blockade eines solchen Beschlusses, käme nur das gleichzeitige Vorgehen gegen beide mit der Folge des Art. 354 Abs. 1 S. 1 AEUV in Betracht, dessen Zulässigkeit zweifelhaft ist. Daher hat die EU-Kommission versucht, Konflikte durch einen sog. Rechtsstaatsdialog zu entschärfen[46]. Als Rechtsgrundlage dafür wäre allenfalls ein „Minus“ zu Art. 7 EUV denkbar. Da sich auch dies als nicht zielführend zeigte, suchte die Kommission geeignete Ansatzpunkte für Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV. Dieser Weg zeigte bereits Erfolge. So befolgte Polen die einstweilige Anordnung des EuGH zur Wiedereinsetzung der durch Herabsetzung der Altersgrenze aus dem Amt entfernten Richter des Obersten Gerichts Polens[47]. Dabei folgte der EuGH dem Vorbringen der EU-Kommission, die sich auf die grundlegenden jüngsten Urteile des EuGH zur Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit für die Rechtsstaatlichkeit[48], die als gemeinsamer Wert (Art. 2 EUV) der EU als „Rechtsunion“ nicht nur hinsichtlich des EuGH, sondern auch der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten gewährleistet sein muss (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV iVm Art. 47 GRCh).

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Die Weigerung eines Mitgliedstaates, an einer nicht bereits in den Verträgen selbst angelegten Weiterentwicklung der Union mitzuwirken, kann keinesfalls einen Ausschlussgrund darstellen. Denn Art. 48 EUV bestimmt, dass Änderungen der Verträge des Einvernehmens aller Mitgliedstaaten bedürfen. Schwierigkeiten bei der Ratifikation, die hinsichtlich der Verträge von Maastricht, Nizza und Lissabon auftraten und den Verfassungsvertrag zum Scheitern brachten (s. Rn 59), müssen letztlich politisch bewältigt werden (vgl auch Art. 48 Abs. 5 EUV).

Literatur:

von Bogdandy, A./Sonnevend, P. (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area. Theory, Law and Politics in Hungary and Romania, 2015; Giegerich, T., Die Unabhängigkeit der Gerichte als Strukturvorgabe der Unionsverfassung und ihr effektiver Schutz vor autoritären Versuchungen in den Mitgliedstaaten, ZEuS 2019, 61; Hatje, A,/Tichý, L. (Hrsg.), Liability of member states for the violation of fundamental values of the European Union, EuR Beiheft 1/2018; Huber, P.M., Europäische Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit in Bedrängnis, Der Staat 56 (2017), 389; Hummer, W./Obwexer, W., Die Wahrung der „Verfassungsgrundsätze“ der EU, EuZW 2000, 485; Kadelbach, S. (Hrsg.), Verfassungskrisen in der Europäischen Union, 2017; Schmahl, S., Die Reaktionen auf den Einzug der Freiheitlichen Partei Österreichs in das österreichische Kabinett – Eine europa- und völkerrechtliche Analyse, EuR 2000, 819; Schorkopf, F., Homogenität in der Europäischen Union – Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, 2000; Stein, T., Die rechtlichen Reaktionsmöglichkeiten der Europäischen Union bei schwerwiegender und anhaltender Verletzung der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze in einem Mitgliedstaat, in: FS Jaenicke, 1998, S. 873 ff.

§ 3 Grundlagen der Europäischen Union › III. Räumlicher Geltungsbereich › 3. Spezielle Gebietsteile der Mitgliedstaaten

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